Er hat meinen Dorn gefunden. Habe ich so jemanden verdient?
Ich hole und tief Luft und jaule. Das geht wenig später in Gejammer über. Ich krümme mich auf dem Boden über all den Briefen, die er mir, im Laufe der Zeit, geschrieben hat und in jedem seine Liebe zu mir beteuert.
Er liebt mich immer noch.
Er will mich.
Ich kann meine Stimmmuskulatur wieder nutzen, wenn auch mit Schmerzen. Meine Stimme klingt verzerrt und unmenschlich wimmernd. Die Laute werden immer deutlicher und locken Uta in das Wohnzimmer. Fassungslos und entgeistert steht sie vor mir und sieht zu mir hinab.
Zu mir, die sich das erste Mal seit zwei Jahren durch Laute artikuliert. Geschockt begreift sie, was vor sich geht, denn sie erkennt die Briefe auf dem Boden. Schnell ist sie bei mir.
»Ella. Alles ist gut! Alles ist gut!«, sagt sie.
Halt suchend kralle ich mich fest, wie eine Ertrinkende und werde sanft von ihr gewiegt. Geduldig und liebevoll. Eine Ewigkeit lang.
Mein ganzer Körper bebt und wird nur langsam schwächer. Es braucht seine Zeit um hinaus zu weinen, was seit zwei Jahren in mir schlummert. Der Dorn schmerzt entsetzlich, jetzt, wo ich ihn spüre. Vor Erschöpfung schlafe ich an Ort und Stelle ein und als ich erwache, sitzt Uta noch immer neben mir.
Meine Stimme klingt heiser und ich spreche leise, aus Vorsicht. Die Stimmmuskulatur ist sicher verkümmert und Holger wird mir helfen müssen sie wieder zu trainieren.
»Es war gewiss anstrengend und wir wollen doch beide, dass es kein einmaliges Erlebnis bleibt, oder? Also nicht gleich zu viel sprechen, Ella«, mahnt sie mich.
Grinsend schüttele ich meinen Kopf und richte mich auf. Ich mache ein Handzeichen. Victory, welches wie ein Y aussieht und Yan bedeutet.
»Er schläft. Tief und fest.«
Ich bin beruhigt und dankbar fahre ich über Utas Hand.
»Was los war, kannst du aufschreiben oder später erzählen. Du weißt, dass ich eine Nachricht für dich habe?«, frag sie.
Aber ja, das stand im Brief von Yanick. Etwas mit Küche und Ninette. Ich nicke schnell.
»Möchtest du sie jetzt oder willst du noch warten?«
Ein erhobener Finger. Uta verschwindet für weniger als eine Minute, aus dem Zimmer. In ihren Händen hält sie einen Umschlag. Er hat die Größe einer DVD und sieht recht mitgenommen und ramponiert aus.
»Damals, als ich deine Fahrt nach Warnemünde organisiert habe, da habe ich auch die Fahrkarten für Yanick mit besorgt. Ich habe ihn vor Abfahrt des Zuges getroffen und ihm seine Tickets gegeben. Er bat mich, dir diese DVD zu geben, wenn du einen seiner Briefe, oder alle geöffnet hast. Seit dem trage ich sie bei mir und der Umschlag sieht nicht mehr schön aus. Er warnte mich damals, dass es dir schrecklich gehen würde, wenn du die Briefe geöffnet hast«, verlegen blickt sie her. »Ella, ich wollte dich nicht hintergehen, etwas hinter deinen Rücken organisieren oder dir was verschweigen. Ich habe das nicht gerne gemacht und hart mit mir gerungen. Du hast so gelitten …« Ihre Stimme bricht und Tränen stehen ihr in den Augen. Ich öffne meine Arme und Uta kommt zu mir geflogen. Eng umschlungen sitzen wir auf dem Fußboden und küssen uns unsere Wangen.
»Alles gut Uta! Alles gut. Du bist die beste Freundin auf der ganzen Welt!«, versichere ich ihr. Uta muss mich ansehen und atmet erleichtert und grinsend aus.
Sie ist noch nicht fertig und holt erneut Luft: »Ich habe gesehen, wie sehr du gelitten hast seit jenem Wochenende. Zuerst war ich auf Yanick wütend. Aber als ich ab und zu mit ihm sprach, merkte ich, dass er dich liebt und sich auch große Sorgen um dich macht. Den ganzen Aufwand betreibt doch keiner, weil er jahrelang eine Wette gewinnen will!« Uta rollt wie zum Nachdruck ihre Augen hoch. Ich muss lächeln und gebe ihr einen Kuss auf ihre Wange.
Zweimal zwinkern.
»Also gut«, sagt Uta beruhigt. Sie hat bestimmt eine meiner temperamentvollen Szenen erwartet. Sicher hat sie sich im Vorfeld viele Gedanken gemacht. »Hier ist deine Nachricht.«
Ich nehme mit klopfenden Herzen die DVD in Empfang und drehe gespannt den Umschlag. Ich öffne ihn und lasse die DVD vor mir auf dem Boden purzeln. Sie ist beschriftet.
Für Ella. Channeling vom 10.04.1994 und 16.07.2010
»Channeling … hat das was mit Hellsehen oder so zu tun?«, fragt Uta interessiert, während ich die Hülle aufklappe und einmal nicke.
»Und der 16.07.2010 war doch der Tag, als du zum Boot gesprungen bist?«
Wieder nicke ich.
»Krass …«, sagt Uta.
Ich lege die DVD ein, nehme die Fernbedienung und setze mich vor dem Bildschirm. Uta will sich erheben, um mich allein mit meiner Nachricht zu lassen. Ich halte sie an ihren Arm zurück und schaue sie bittend an. Uta setzt sich wieder. Ich starte die DVD und erwarte gebannt das Bild.
Yanick.
Er positioniert sich gerade vor der Kamera. Ich erkenne seine Wohnung im Bootshaus. Als er auf dem richtigen Platz steht, nimmt er DIN A3 Papiere auf, die auf dem Boden liegen.
Ich lache ungewollt auf. Joris Oma hatte recht. Sein Werben war nie das Problem. Die Ideen mich zu beeindrucken, gingen ihm auf keinen Fall aus. Er hatte sich auch jetzt etwas Schönes für mich einfallen lassen. Aber er würde auf mich auch ohne seine Ideen Eindruck machen.
Das erste Papier ist leer. Er blickt in die Kamera hinein und wirft mir einen Luftkuss zu und ich lehne mich verschämt lachend an Uta, die mich amüsiert ansieht. Dann entfernt er den ersten Zettel.
Ich freue mich, dass du meinen Brief gelesen hast …
Er blättert zum nächsten Zettel.
Und diese Nachricht erhalten hast …
Er blättert zum nächsten Zettel. Jeden Satz hat er auf einem Blatt geschrieben.
Danke Uta, für deine Hilfe und dass es dich gibt …
Bewegt greife ich Utas Hand und küsse den Handrücken.
Ella, im Brief hab ich dir geschrieben …
Dann das in der Küche …
Mit Ninette. (Dazu später mehr, damit du mir glaubst.) …
Erinnerst du dich? …
Okay …
Hier, damit du mir glaubst …
Das Channeling vom 10.04.1994 …
Ich liebe dich! …
P.S.: Ach und ich habe die richtige Wahl getroffen …
Der Bildschirm wird eine Sekunde schwarz, dann erscheint ein Video. Das wurde mit einer Videokamera gedreht. Es herrscht Unruhe in einem schlecht beleuchteten Raum.
Ich entdecke Kai, der neben Yanick steht und Lisa, die vor der Kamera herumläuft. Sie haben typische Klamotten aus den neunziger Jahren an und sind Teenager. Uta posaunt: »Schau mal. Was sie anhaben, ist voll retro. Wann war das?«
»Zwei Jahre vor Mutters Beerdigung«, antworte ich.
Ich pausiere kurz und mein Finger deutet auf Yanick. Mein Großvater hatte damals recht. Er war ein Junge, als ich ihn das erste Mal traf. Er war gerade mal sechzehn Jahre und hier auf dem Video ist er 14 Jahre.
»Yanick«, sagt Uta und sieht genauer hin. »Er sieht so jung aus.«
»Vierzehn Jahre«, antworte ich geistesabwesend.