Mondgesicht und Panne im Archenland. Hans-Walter Euhus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Walter Euhus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844257052
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welche wie die Orgelpfeifen in einer Kirche aneinandergereiht waren. Sie sollten den Schülern streng wissenschaftlich eintrichtern, dass sie von tierischen Vorfahren abstammten. Als Frau Müller damals auch noch in Religion die Frage aufgriff und provozierend die Klasse fragte: „Was meint ihr, wovon wir Menschen abstammen?“, meldete Anne sich und sagte, wie sie es aus der Bibel wusste: „Von Adam und Eva.“ Zustimmendes Nicken von Sabrina und Wolf, höhnisches Grinsen bei den meisten anderen Schülern. Schließlich antwortete Frau Müller: „Danke, Anne für deinen Mut zu dieser Antwort. Du hast insofern recht, als es uns so in der Bibel überliefert ist. Aber die Erklärung, wir würden von Adam und Eva abstammen, ist nun über fünftausend Jahre alt. Heute ist die Naturwissenschaft weiter“, belehrte sie. „Es ist erwiesen, dass der Mensch nicht von Adam und Eva, sondern von affenähnlichen Vorfahren abstammt. Die Affen sind so etwas wie unsere entfernten Cousins und Kusinen.“

      Noch heute hatte sie das hämische „Siehste, Anne...!“ von Gunnar im Ohr, der hinter ihrem Tisch saß: „…Wir stammen doch von Affen ab.“ Nur Sascha hatte sich einen Witz nicht verkneifen können, indem er halblaut zum Besten gab: „Der Mensch stumpft eher vom Gaffen ab!“, womit er wohl das viele Fernsehen meinte. Sie erinnerte sich noch an das peinliche Pausenverhör von Susi, Marc und Philipp: „He, Anne, du glaubst doch nicht in echt, dass wir von Adam und Eva abstammen? Ich meine, als wir neulich im Osnabrücker Zoo waren, konnte man klar sehen, dass wir den Affen ähnlich sind, oder?“, hatte Philipp herausfordernd gefragt und allgemeine Zustimmung geerntet. Anne hatte sich verteidigt und zurückgeätzt: „Sag mal, du Neunmalkluger, waren dein Vater oder dein Großvater eigentlich Affen? Oder Martin Luther oder Cäsar?“ – Da hatte sich Susi eingemischt und gemeint: „Ich glaub, du lebst ein bisschen hinter dem Mond. Hier geht es nicht um ein paar hundert Jährchen, sondern um viele Millionen von Jahren, in denen wir uns vom Affen zum Menschen entwickelt haben. Das steht doch in jedem Sachbuch.“ „Du mit deinen vielen Millionen von Jahren. Das klingt für mich wie Grimms Märchen: ›Es war einmal vor langer, langer Zeit…‹“. „Ach, lasst sie doch“, hatte Marc sich eingemischt. „Sie glaubt eben noch an den lieben Gott, an den Weihnachtsmann und an den Osterhasen“, und dann war Philipp ziemlich gemein geworden und hatte erstmalig so einen seiner dummen Sprüche losgelassen: „Als Gott erschuf die Anne, erlebte er ´ne Panne.“ Abrupt hatte Anne danach der Gruppe den Rücken zugedreht und war in der Mädchentoilette verschwunden, damit die anderen nicht sehen konnten, wie verletzt sie war. Von diesem Zeitpunkt an musste sie häufiger hören: „Ach, da kommt Panne“ oder „Weißt du, was Panne neulich gesagt hat?“ Und so hatte sie damals ihren Spitznamen abbekommen. Irgendwann hörte sie nicht mehr hin und versuchte cool zu bleiben. Die Klasse hatte sich daran gewöhnt, dass man mit ›Panne‹ möglichst nicht über Glauben oder Evolution reden sollte und sie damit am besten in Ruhe ließ. Bis wieder Phil, dieser Blödmann, ihren Spitznamen, diesmal mit ihren Mathematikleistungen, in Verbindung brachte und der Klasse erneut präsentierte. Anne hatte sich schon lange nicht mehr provozieren lassen, zumal sie zunehmend durch Sportlichkeit, Fairness und ihr taffes Äußeres respektiert wurde. Man ließ sie in Ruhe. Aber sie war trotzdem wegen ihrer Einstellung zur Außenseiterin geworden, was ihr auch ganz gelegen kam. Nur, dass sie in der Klasse keine Freundin hatte, wurmte sie. Und durch Philipps erneutes Lästern war sie wieder unsicher geworden, ob sie jemals eine finden würde. Auf ganz unerwartete Weise kam es aber doch zu einer Freundschaft, mit der sie überhaupt nicht gerechnet hatte.

      Vorsicht! Der Mond geht auf.

      Auch wenn Annes Mitschülerinnen nicht mehr über sie lästerten und Reizthemen aus dem Weg gingen, sprachen sie im Unterricht gelegentlich darüber, so wie bei der Rückgabe des letzten Biotests. Und der hatte natürlich die Entstehung des Lebens und die Steinzeit zum Thema. Die letzte Zusatzfrage im Test lautete: ›Wie ist deiner Meinung nach die erste lebende Zelle auf der Ur-Erde entstanden?

      a) durch Blitze und chemische Reaktionen in einer Ur-Suppe,

      b) durch fertige Zellen, die durch Meteoriten auf die Erde geschleudert wurden, oder

      c) durch den Urknall ?‹

      Da hatte Anne statt anzukreuzen geschrieben: ›Die gewünschte Antwort sollte wohl a) sein. Daran glaube ich aber nicht, weil Louis Pasteur mit Experimenten nachgewiesen hat, dass Leben nur aus Leben entstehen kann und nicht aus totem Urschlamm oder irgendwelcher Materie‹.

      Obwohl alle anderen Fragen von ihr richtig beantwortet waren und nur diese letzte nicht nach Wunsch ihres Biologielehrers, erhielt sie statt eines „Sehr gut“ nur die Note „Gut“. Herr Moosbach ließ es sich nicht nehmen, Annes Kommentar vorzulesen, und teilte ihr mit: „Anne Mitscherlich, leider hast Du die richtige Antwort a) nicht angekreuzt und stattdessen Deinen Glauben bezeugt. Hier geht es aber nicht um Glauben, sondern um Naturwissenschaft. Daher leider nur eine Zwei statt einer Eins.“ Da meldete sich Philipp und

      fragte: „Herr Moosbach, war Louis Pasteur kein Naturwissenschaftler?“ „Aber sicher. Das bekannte ›Institut Pasteur‹ ist ja nach ihm benannt worden.“ „Aber dann hat doch Anne nicht ihren Glauben an Gott, sondern ihren Glauben an ein naturwissenschaftliches Experiment bezeugt, oder?“ Anne machte große Augen. Philipp, dieses freche Babygesicht, hatte für sie Partei ergriffen.

      Herr Moosbach stutzte kurz, las noch einmal etwas verlegen Annes Bemerkung durch und gab dann säuerlich zu: „Na gut, Anne, aufgrund von Philipps Einspruch korrigiere ich mein etwas vorschnelles Urteil. Er hat im Grunde recht. Also dann doch eine Eins.“ Die Klasse klatschte Beifall. Anne war verwirrt, freute sich aber über ihre späte Rechtfertigung und warf einen kurzen, dankbaren Blick zu Philipp hinüber, der sich die Hände über diesen leichten Triumph rieb.

      Als Herr Moosbach draußen war und die meisten Schüler die Toilettenpause nutzten, um sich kurz die Beine zu vertreten, sprang Sascha schnell zur Tafel, schnappte sich die Kreide, zeichnete einen kreisrunden Kopf und schrieb darunter: „Mondgesicht bewahrte Anne in Bio vor ´ner neuen Panne.“ Als Anne und Philipp mit anderen Schülern die Klasse betraten und den Tafelanschrieb bemerkten, zeterte Philipp in die Klasse hinein: „Wer war das?“ Weil Sascha grinste, ging er drohend auf ihn zu und Wolf rief lachend: „Pass auf Sascha, der Mond geht auf!“

      Aber bevor sich die Auseinandersetzung zu einem handfesten Streit entwickeln konnte, betrat Frau Moltke die Klasse und jeder strebte schnell seinem Platz zu,

      nachdem Philipp Sascha noch zuflüsterte: „Na warte, das werde ich dir heimzahlen!“ Während er sich setzte, sah er, wie Panne schnell den Schwamm nahm und Philipps Mondgesicht nebst Spruch von der Tafel wischte. „Eine Hand wäscht die andere“, dachte Philipp anerkennend, bevor Frau Moltke die Klasse in launigem Kommandoton begrüßte: „Guten Morgen! Nehmt bitte die Hefte raus, wir schreiben eine Lernzielkontrolle!“

      Nach diesen Zwischenfällen war sich Anne nicht mehr so sicher, ob Philipp immer noch ihr Feind war, und sah ihn sich aufmerksamer an. Es war etwas dran, dass Sascha ihn als Mondgesicht veräppelt hatte. Sein Portrait mit der aufgeklatschten schwarzen Frisur sah aus, als hätte der Mond eine schwarze Kappe auf. Pausbäckig grinsend, mit etwas breiten Nasenflügeln und von Statur pummelig, machte er den Eindruck eines großen Kleinkinds. Niemand ahnte, dass in diesem wandelnden Rollmops sportliche Talente lauerten. Denn Philipp radelte leidenschaftlich gern mit seinem Mountainbike durch die nachbarschaftlichen Wälder und Berge im Sauerland und nutzte die Freibad-Jahreskarte aus, um jede freie Zeit seine gesteckten Leistungsziele zu erhöhen. Sein Traumziel war, einmal ›Ironman‹ zu werden. Dann würde ihn niemand mehr Mondgesicht nennen. Aber diesen Traum band er keinem auf die Nase, nicht einmal seiner Mutter. Nur mit dem Laufen hatte er es noch nicht so. Er schaffte nur mittlere Entfernungen und wollte im Sommer allmählich auf Langstrecke trainieren.

      Als Panne am nächsten Tag in der großen Pause etwas abseits unter der Birke am Schulzaun stand und an ihrem Pausenbrot kaute, kam Mondgesicht auffallend unauffällig auf sie zugeschlendert und fragte sie: „Hey Anne, woher kennst du eigentlich Louis Pasteur?“ „Von meinem Onkel. Der hat so ein Experiment von ihm nachgemacht. Übrigens fand ich das fair von dir gestern bei Moosbach wegen meiner Arbeit.“ „Schon okay. Wenigstens hat er zugegeben, dass er dich ungerecht beurteilt hatte. Aber du hast ja auch das bescheuerte Mondgesicht