Geboren in Bozen. Heidi Siller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heidi Siller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844273823
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einen Gegenstand zur Hand und legte ihn weg, griff nach dem nächsten, ließ auch diesen wieder fallen, bis ich schließlich das Handy fand und Michael anrief, „Hallo Papa“ flüsterte. Damals dachte ich, es wäre der Anfang eines neuen Lebens gewesen.

      Sonntag, 23. September – SSW 25+2

      Sonntag ist der schlimmste Tag der Woche, der nur noch schlimmer wird, wenn man im Krankenhaus liegt.

      Unzählige Familien kamen auf Besuch, um neue Babys willkommen zu heißen, mit blauen und rosaroten Luftballons, Geschenken und Blumen. Alle waren aufgeregt und freuten sich, die größeren Geschwister, die Cousins und Cousinen. Manchmal verirrte sich ein kleines Kind in unser Zimmer, schaute sich neugierig um, warum es hier nicht so beschwingt zuging, bis es vom Vater oder Onkel gerufen wurde. Kleine Italiener in modischen Hemden und Pullundern. Die Mädchen in Cordröcken und Ringelstrümpfen. Sie machten so viel fröhlichen Lärm, der gemeinsam mit der stickigen Luft, die zum Fenster hereinkam, kaum zu ertragen war.

      Kaum zu ertragen waren mittlerweile auch die Antibiotika-Infusionen geworden. Sie brannten auf meinem Handrücken wie Feuer, dabei hatten die Schwestern ohnehin schon die Seiten gewechselt. Ich bin nicht sonderlich empfindlich, aber dieses Brennen war so intensiv, dass ich die Wände hochgehen hätte können. Ich wusste nicht, ob so starke Schmerzen in meinem Zustand gut waren. Meine Arme waren völlig rot und blau gestochen, eine Schwester meinte, ich wäre ein regelrechtes Nadelkissen, und das nach so wenigen Tagen.

      Manchmal – deswegen hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen – wünschte ich mir nur eines: diesen Bauch los zu sein und wieder mit Michael in unserer gemütlichen Küche zuhause zu stehen. Pasta zu kochen. Gemeinsam zu essen und über den Tag zu reden. Ohne Kind und der ganze Geschichte, die wir jetzt erlebten. Wenn es schlecht ausginge, würden wir sie mit uns herumtragen bis ans Ende unseres Lebens, bis zum Ende unserer Beziehung. Wir haben ein schönes Leben gehabt, vorher. Wieso waren wir dieses Wagnis eingegangen? Wieso hat uns niemand gesagt, wie gefährlich das eigentlich war?

      Ich hatte immer gewusst, dass die ersten drei Monate kritisch sind und das Baby vielleicht nicht bleiben will. Das weiß jeder, und damit lebte man, dieser Gefahr stellte man sich. Aber danach passiert doch normalerweise nichts mehr. Zumindest nicht mir. Ich bin diejenige, die eine Klasse wiederholt hat, ein Jahr vor der Matura. Ich bin die, die 22 Monate gebraucht hat, um schwanger zu werden, ja. Aber ich bin doch nicht diejenige, die eine Frühgeburt hat. Ich bin die mit der unkomplizierten Schwangerschaft. Die, die stolz mit riesigem Bauch spazieren geht. Die, die sich immer darauf gefreut hat, ihr Baby treten zu spüren. Die weiß: wenn ich etwas gut kann, dann ist es schwanger sein. Ich bin nicht diejenige, die Blutungen hat, die nicht aufstehen darf, die 600 Kilometer von der Heimat entfernt im Krankenhaus liegt.

      Später kam Michael gemeinsam mit den Schwiegereltern zu Besuch. Wir beratschlagten uns. Mein Schwiegervater sagte, ich sei zu geduldig. Ich sollte von den Ärzten eine Entscheidung einfordern. Vielleicht könnte ich ja doch nach Wien verlegt werden. Seit meiner Ankunft war ich nicht mehr untersucht worden. Und liegen konnte ich zuhause doch auch. Ich fühlte mich zwar wohl in Bozen, denn ich wurde ernst genommen und korrekt behandelt. Aber Michael musste bald wieder arbeiten gehen. Und dann wäre ich hier richtig alleine, die Tage würden noch langsamer vergehen. Daher stimmten wir meinem Schwiegervater zu. Wir würden die Ärztin morgen nach einem Transfer nach Wien fragen.

      Montag, 24. September – SSW 25+3

      Michael war pünktlich zur Visite zur Stelle. Die Ärztin wollte ihn zuerst bitten, draußen zu warten, doch er ließ sich nicht abwimmeln. Er fragte sie direkt, wann wir nach Hause fliegen könnten. Die Ärztin versprach, mich heute noch einmal zu untersuchen und dann eine Prognose abzugeben. Es sah fast so aus, als könnte auch sie sich einen Transport langsam vorstellen. Nach der Visite saß Michael an meinem Bett und wir fühlten uns besser, ich merkte, dass nun etwas Bewegung in die Sache kommen würde, wir endlich wieder aktiv werden könnten. Als ich die Schwester um die Schüssel bat, ging Michael hinaus. Doch die Stoffwindeln, die ich benutze, die den Schriftzug „Azienda Sanitaria Bolzano“ trugen und ganz eigentümlich rochen, waren plötzlich blutgetränkt. Eine ganze Menge hellroten Blutes. Das Entsetzen packte mich erneut. Eines war mir sofort klar: ich war nicht transportfähig. Und die Lage hatte sich auch nicht verbessert. Das Gegenteil war der Fall.

      Ich fing sofort wieder zu schluchzen an, Michael konnte mich kaum beruhigen. Obwohl ich wusste, dass die Untersuchung unter diesen Umständen eigentlich sinnlos war, wollte ich nun endlich wissen, ob es unserem Sohn in meinem Bauch noch gut ging. Was passierte hier? Woher kam das Blut? Doch der Vormittag verging, ohne dass etwas geschah. Das Mittagessen wurde serviert, und es gab Lasagne, meine Lieblingsspeise. Doch ich hatte keinen Appetit. Ich wollte keinen Bissen kosten. Wir warteten. Die Schwester informierte uns, dass die Ärztin noch einen „Cesareo“ durchzuführen hatte.

      Endlich, es war schon nach zwei Uhr nachmittags, wurde mein Bett ins Untersuchungszimmer geschoben. Die Schwester half mir hoch, ich hatte mich ja fünf Tage lang nicht aufsetzen dürfen. Ich spürte, dass ich schwach war, dazu fühlte ich mich ungepflegt, mit schmutzigen Haaren, aufgedunsenem Gesicht. Die Schwester stützte mich und so kam ich irgendwie auf den Untersuchungsstuhl. Als sie nach draußen gerufen wurde, erklärte sich Michael dazu bereit, den Tropf zu halten. Gemeinsam mit der Ärztin mussten wir über die Situation lachen. Ich wollte, dass die Zeit stehenbleibt, und diese zehn Sekunden Unbeschwertheit bewahren. Die Schwester kam zurück, woraufhin ihr die Ärztin, immer noch heiter, anordnete, den Tropf zu übernehmen, damit ihn der „Marito“ nicht länger halten musste. Dann ging es los mit dem Ultraschall. Die Ärztin brauchte nicht mehr als einen kurzen Seitenblick auf den Bildschirm zu werfen.

      Sie schüttelte den Kopf und sagte mir, dass sich die Situation leider verschlechtert hätte. Sie deutete mit dem Finger auf den Bildschirm. Ob wir das erkennen würden? Der Muttermund hatte sich weiter geöffnet, und auch die Fruchtblase war noch mehr hervorgetreten. Ich hielt mich an Michael fest und sagte: „Bitte bleib bei mir, bleib bei mir.“ Ich war der Meinung, dass ich nun gleich in den Kreißsaal geschoben werden würde. Ich wollte das sogar. Ich spürte mit einem Schlag Schmerzen, meine Kräfte waren am Ende. Man wird so kläglich und jämmerlich schwach, in so einer Situation, ich genierte mich fast dafür. Aber die Ärztin bat die Schwester, mich zurück in mein Zimmer zu bringen. Auch dieser Zustand könnte eine Weile stabil bleiben, erklärte sie, doch ein Transport wäre unter diesen Umständen natürlich absolut ausgeschlossen.

      Wir fuhren zurück in mein Zimmer. Die Lasagne stand immer noch auf dem Tisch und stank fürchterlich nach einer dicken, cremigen Käseschicht und nach alten, faulen Tomaten. Mir graute vor dieser Lasagne, vor diesem Zimmer, den Aushängen an der Wand gegenüber, die ich täglich Dutzende Male lesen musste. Mir graute vor der stickigen Luft und der Sonne draußen, dem Gelächter von der Straße und dem Babygeschrei auf dem Gang. Mir graute vor dem Gedanken an die Vergangenheit und mir graute vor der Zukunft. Die Gegenwart war schier unerträglich. Ich weinte bitterlich. Dann fragte ich Michael, was ich unseren Freunden daheim schreiben sollte. Er meinte, die Wahrheit. Ich schrieb:

      „Die Situation hat sich weiter verschlechtert Wir können nur warten. Es geht uns nicht gut, wie ihr euch denken könnt.“

      Das war für meine Begriffe ein gnadenlos ehrlicher und verzweifelter Text. Ich war sonst nicht so direkt und offen, wenn es um meine Gefühle ging. Aber so fühlte ich mich eben gerade: absolut resigniert. Dann begannen die Stiche in meinem Unterleib intensiver zu werden. Immer wieder, hier und da ein kurzer, punktueller Schmerz. Vor allem dann, wenn ich die Lage im Bett wechseln wollte. Michael drängte darauf, die Schwester zu informieren, obwohl ich davon ausging, das wäre harmlos. „Wehen fühlen sich sicher anders an“, sagte ich zu ihm, obwohl ich im Grunde genommen keine Ahnung hatte. Doch er bestand darauf, und so wurde ich ans CTG gehängt. Zuerst passierte wie immer gar nichts. Aber nach einer Weile wurde eine Wehe aufgezeichnet. Dann noch eine. Die Schwester kam und stellte die Infusion mit dem Wehen-Hemmer höher.

      Das Telefon klingelte. Die Menschen, die meine SMS bekommen hatten machten sich Sorgen. Das rührte mich. Wir haben wunderbare Freunde. Aber ich konnte jetzt unmöglich mit jemandem sprechen, das musste