Endlich begann er zu sprechen, und das Erste, was er sagte, war: „Ich habe leider keine guten Nachrichten.“ Bumm. Mein Muttermund hätte sich bereits geöffnet, schon zwei Zentimeter, und außerdem wäre meine Fruchtblase zu sehen. Obwohl ich ja schon vorher mit schlimmen Nachrichten gerechnet hatte, trafen mich seine Worte schwer. Er erklärte mir, dass mein Kind an der Grenze zur Lebensfähigkeit wäre. Ein kleiner Mensch, der 700 Gramm wog. Aber 700 Gramm wären doch nicht schlecht, meldete ich mich zu Wort, alles, was über 500 Gramm ist, ist doch gut, hatte alle Chancen. Da war ich offenbar im Irrtum: die Anzahl der Schwangerschaftswochen war viel wichtiger. Die magische 500-Gramm-Grenze besagte lediglich, dass die Chancen darunter verschwindend gering sind. Aber nicht automatisch, dass ein Kind ab einem halben Kilo Gewicht auf jeden Fall durchkommen würde.
Der Arzt erklärte mir, dass ich auf keinen Fall mehr aufstehen dürfte. Aber auch nicht in Brixen bleiben könnte. Für solche Situationen sei man hier nicht ausgerüstet. Ich könnte nach Innsbruck transferiert werden oder nach Bozen, in ein Perinatalzentrum. Und zwar nicht mit dem Auto, sondern mit dem Helikopter. Aber zuerst müssten wir meinen Mann informieren. Bitte nicht. Ich wollte nicht, dass seine Welt so zusammenbrechen musste wie meine. Aber natürlich hatten wir keine Wahl. Der Gynäkologe rief Michael herein und informierte ihn. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich die Fassungslosigkeit und das Entsetzen in seinen Augen. Aber er fing sich ganz schnell. Er wollte handeln. Was war nun zu tun, was musste getan werden? Der Doktor versprach, sofort seine Innsbrucker Kollegin anzurufen. Und Michael selbst müsste einen Hubschrauber anfordern, wir waren diesbezüglich versichert. Zuvor kam Michael aber noch auf mich zu, sein Lächeln gelang erstaunlich gut. Er sagte so etwas Ähnliches wie „Tja“. Ich sagte: „Das ist alles meine Schuld.“ Er schüttelte energisch den Kopf, „Auf keinen Fall, wie kommst du darauf?“. Und außerdem würde das alles gut ausgehen. Er sagte auch noch: „Du musst jetzt stark sein.“ Ich lachte gequält. Stark? Ich? „Ich bin nicht stark“, antwortete ich. „Wir haben immer alles geschafft“, sagte Michael. Aber das waren Lappalien gewesen, im Vergleich zu dieser Situation.
Ich wurde auf dem Untersuchungsbett in ein leeres Krankenzimmer geschoben. Eine Schwester wartete dort bereits auf mich, sie sollte mir die erste von zwei Lungenreifungsspritzen verabreichen. Die Spritze wäre schmerzhaft warnte sie mich und es könne sein, dass sich das Baby in den nächsten Stunden und Tagen weniger bewegen würde. Ich nickte mit dem Kopf, nahm ihre Worte wahr und auch nicht wahr. Ich befand mich immer noch in einem Schockzustand. Dann sprach die Schwester auf Südtirolerisch mit meinem Bauch und das klang in seiner direkten Bodenständigkeit sehr zärtlich und fürsorglich. Sie nannte das Baby „Schotzl“ und bat es, noch eine Weile in meinem Bauch zu bleiben. Gleich darauf kam ein Pfleger und brachte etwas vorbei. Er sah mein wohl ziemlich verzweifeltes Gesicht und sagte zu mir, dass sicher alles gut werden würde. „Und wenn nicht“, fügte er hinzu, „dann schaffen Sie es auch.“ Merkwürdigerweise fand ich diese Worte tröstlich.
Nachdem ich eine Weile in diesem kahlen Zimmer gelegen bin und gewartet habe, dass ich den Schmerz der Spritze fühlen würde, kamen Michael und der Primar des Krankenhauses Brixen, wie er sich vorstellte, herein. Das mit dem Transfer nach Innsbruck würde nicht klappen, erklärte er. Als ich erschrak, fügte er schnell hinzu, das sei nicht so schlimm, dann müsste ich eben nach Bozen, wir seien eben in Italien. Wenn ich in Afrika wäre, dann hätte ich auch keine Möglichkeit, mal schnell nachhause zu fliegen. Ich versuchte mir vorzustellen, was mich erwartete. Ich stellte mir junge, dunkelhaarige, quirlige Krankenschwestern vor. Diesen aufgeregten Singsang, von dem ich nur die Hälfte verstehen würde. Und mich selbst, klein und verzagt, unter der Bettdecke versteckt. Ich würde mit niemandem sprechen wollen. Aber genau genommen wäre das in Innsbruck auch nicht viel anders, ich war auch keine Tirolerin. Nun gut, dann eben Bozen.
Ich wurde samt Bett in den Helikopter befördert und mir wurden Kopfhörer aufgesetzt. Dann wurde es laut und windig, aber dass wir abhoben, uns in der Luft befanden, tatsächlich flogen, das alles konnte ich im Liegen nicht wahrnehmen. Neben mir saß ein Notarzt. Auf seinem Namensschild stand Vittorio. Er sprach kein Wort, es gab auch nichts zu sagen. Irgendwann landeten wir. Wahrscheinlich war der landende Hubschrauber Gesprächsthema bei allen, die gerade rund ums Krankenhaus zu tun hatten.
Junge Leute vom Krankenhaustransport holten mich ab. Eine Frau sprach mich auf Italienisch an und lachte, als sie feststellte, dass unser beider Muttersprache Deutsch war. In Südtirol ist es oft gar nicht so leicht zu unterschieden, wer Italienisch und wer Deutsch spricht. Ab und zu verhält es sich bei Südtirolern nämlich so, dass ihr Hochdeutsch merkwürdig artifiziell klingt, das Italienisch dafür hart und hölzern. Als wären beide Sprachen fremd.
Wieder wurde ich durch ein Krankenhaus geschoben. Diesmal durch eines, das ich von außen noch nie gesehen hatte. Die jungen Männer versuchten betont locker zu sein. Sie machten ein paar Scherze. Obwohl ich das durchschaute, tat es mir gut. Als wir auf die Geburtshilfestation kamen, hörten wir Babys schreien, praktisch aus jedem einzelnen Zimmer. An einer Tür stand eine frisch gebackene Mama mit ihrem Säugling im Arm und musterte mich neugierig. Die Mitarbeiterin vom Roten Kreuz sagte zu ihrem Kollegen, wie süß und klein das Baby sei. Der Kollege gab ihr daraufhin ein Zeichen mit der Hand, dass sie ruhig sein sollte. Ich sah seine Handbewegung nicht, aber ich fühlte, was hinter meinem Rücken geschah. Da war dieses schuldbewusste Schweigen. Wegen mir. Ich wurde in kein Krankenzimmer geschoben, sondern in den Raum, wo CTGs geschrieben werden, das Zimmer direkt neben den Kreißsälen. Die Leute vom Roten Kreuz wünschten mir alles Gute und meinten es auch so, ich sah es ihnen an.
Eine italienische Schwester, quirlig, mit kinnlangen Locken, begrüßte mich, als hätte ich hier noch gefehlt, als würden alle schon lange auf mich gewartet haben; dann befestigte sie einen Gürtel um meinen Bauch. Trotz ihrer Überschwänglichkeit erschien sie mir fürsorglich und gewissenhaft. Zu ihrer weißen Hose trug sie ein orangefarbenes Shirt. Die andere Schwester, die kurz hereinkam, trug lila. Gegenüber hatte eine hochschwangere Frau schon starke Wehen. Sie übergab sich in einen Kübel und sah so aus als wären die Schmerzen sehr intensiv. Ich beobachtete sie aufmerksam und dachte, für mich ist es noch lange nicht soweit, wir haben doch erst September. Als hätte ich vergessen, warum ich hier war. Bald wurden die Gebärende und der besorgte Ehemann an ihrer Seite in den Kreißsaal gebracht. Bei mir schlug der Wehenschreiber nicht an, die Schwester war zufrieden. Kurz darauf traf Michael im Krankenhaus ein. Er hatte einen gehörigen Schreck erlitten, als man ihm am Empfang gesagt hatte, dass er zu den Kreißsälen gehen musste.
Kurz konnten wir durchatmen, dann wurde ich für eine neuerliche Untersuchung, diesmal durch eine Ärztin, abgeholt. Sie wirkte mürrisch und schroff, wies mich zuerst einmal zurecht, dass ich viel zu viel zugenommen hätte, für das Stadium meiner Schwangerschaft. Dabei war sie selbst äußerst mollig. Als ich ihr berichtete, dass der Brixner Arzt schon die Fruchtblase gesehen hätte, schüttelte sie missbilligend den Kopf. Sie glaubte ihm nicht, das war deutlich zu sehen. Nach einer ausführlichen Ultraschall-Untersuchung schien sie jedoch ihre Meinung geändert zu haben – sie drückte mir eine Broschüre über das Thema Geburt in die Hand. „Wie werden es aber zunächst einmal spontan versuchen“, bellte sie. Dann forderte sie mich auf, zur Toilette zu gehen, das wäre das letzte Mal für eine lange Zeit. Das waren keine guten Aussichten. Ich ging wie auf rohen Eiern und wagte, kaum, mich hinzusetzen. Ich dachte daran, wie ich im Alter von sieben oder acht Jahren mit einer Lungenentzündung alleine im Spital gelegen war. Und wie einsam ich mich fühlte, wenn ich nachts zur Toilette gehen musste. Ich sehnte mich nach der Schulter meiner Mutter oder irgendeiner Mutter, gegen deren Schulter ich mein Gesicht drücken konnte. Genauso fühlte ich mich in diesem Moment, wie ein kleines, verschüchtertes Mädchen, das einfach nur geborgen sein wollte.
Als ich zurückkam und mich wieder auf das Bett legte, wurde ich in ein Krankenzimmer geschoben. Das Zimmer hatte nur zwei Betten, was in Wien äußerst selten vorkommt. Im anderen Bett lag eine dunkelhaarige Frau, vielleicht etwas älter als ich.