Vielmehr musste er weiter Zuversicht heucheln, aber er hatte sich bereits auf eine weitere Übernachtung in einem Hotel eingestellt, und die nächste Abweisung würde ihn kalt lassen (so konnte er auch seine Coolness ausspielen indem er nur Schulter zuckend andeutete `Hab ich´s doch gewusst`), da er ja schon vorher wusste, wie die Sache laufen würde. Ja, es ging eben nichts über eine ordentliche Bildung und mit dieser wissenschaftlichen Erklärung im Hinterkopf fuhr er weiter. Während die Frau offenbar noch auf das Prinzip Hoffnung setzte war für ihn der Verlauf des Tages bereits vorhersehbar. Drei weitere Plätze waren logischerweise „Complete“. Bitte: da war die Bestätigung seiner Modellhypothese. Er lag vollkommen richtig (gerne hätte er die Systemelemente und die Umweltbedingungen noch in Formeln gebracht und das System mit Werten getestet ) und diese Ergebnisse brachten ihn nicht aus der Ruhe, nein; jetzt war er richtig (und nicht nur vorgetäuscht) cool und die Frau warf ihm eigenartige Blicke zu, als er scheinbar gut gelaunt vor sich hin pfiff.
„Dir scheint das ja gar nichts auszumachen, dass wir überhaupt kein Glück haben“ sagte sie leise und wieder traten Tränen in ihre Augen. Der Junge heulte eine Runde mit, dann hörte er wieder zu wie „Wolfsblut“ (diese CD mit der Geschichte lief gerade) einen Hund nach dem anderen aufmischte, ihnen die Schlagadern zeriss, die Knochen brach und sie auf jede erdenkliche Art und Weise über den Jordan beförderte. Das war eine unschöne Angewohnheit dieses Tieres, aber man hatte ihm ja auch ziemlich übel mitgespielt, so dass er seine Wut eben an den anderen Hunden ausließ.
„Na ja, gleich sind wir in Castellan, du hast doch gesagt, dass dort noch drei Plätze sind, vielleicht haben wir diesmal Glück“ antwortete er und wagte nicht zu erklären, was er mithilfe der Systemtheorie herausgefunden hatte. Logisch, dass an allen Zeltplätzen „Complete“ prangte, was sollte anderes passieren, sein System verhielt sich genau so wie vorhergesehen und innerlich klopfte er sich auf die Schulter. Die Frau sah ihn sonderbar an, er war so cool, wie sie ihn noch nie erlebt hatte (den Grund kannte sie natürlich nicht). Beim Durchfahren der Stadt war er aufmerksam gewesen (er wusste ja wie es ausgehen würde) und am Stadtrand war ihm das „Studie Hotel“ aufgefallen, dort würde er in absehbarer Zeit vorfahren (die Frau ahnte noch nichts davon).
„Ich verstehe das nicht“ klagte die Frau „das kann doch nicht sein, alles, alles voll. Denk‘ mal an voriges Jahr, alles, alles, ging glatt. Kannst du mir das erklären?“
Oh ja, er hätte es erklären können (die Systemtheorie) aber beschränkte sich darauf nur zu sagen:
„Feierabend, ich habe vorhin ein Hotel gesehen, wir fahren jetzt dort hin, hoffentlich haben die noch was frei.“
In seiner Stimme lag tiefe Entschlossenheit, die Frau staunte darüber, wie sich der Mann in den letzten Stunden verhalten hatte. Locker steckte er einen Tiefschlag nach dem anderen weg und unerschütterlich fuhr er zu diesem und jenen Zeltplatz, ohne ein einziges Wort des Ärgers oder gar eines Anzeichens der Verzweiflung wenn wieder „Complete“ zu sehen war. Meistens war die Frau es, die die Richtung vorgab, aber diesmal hatte er das Zepter in der Hand.
Das „Studie Hotel“ war keine architektonische Perle, es erinnerte eher an eine militärische Einrichtung oder einen Knast. Der Waschbeton war pockennarbig und eine eventuell früher vorhandene farbliche Anmutung schon lange nicht mehr sichtbar. In der kleinen Rezeption klärte die Frau, dass sie gern eine Nacht in dem Haus verbringen würden, kein Problem, der Rezeptionist führte sie zu dem Zimmer, der Mann warf einen kurzen Blick hinein und nickte, es war okay. Sie schleppten ihre Sachen die sie für die Nacht benötigten in den dritten Stock hoch, die Kühlbox kam an das Stromnetz, der Mann griff sich ein Bier heraus und schaute sich näher um, der Junge war dabei, den Fernseher in Betrieb zu nehmen. Direkt neben der Eingangstür quetschte sich ein Bett in eine Nische, das Doppelbett dominierte den übrigen Raum und eine kleine Kückenzeile komplettierte die Einrichtung, wobei die Küchenschränke mit Bändern verschlossen (die Nutzung war extra zu bezahlen) aber wenigstens der Kühlschrank frei zugänglich war, gut für ein gepflegtes kühles Bier. Innerhalb von zwei Tagen hatten sie jetzt fast 1.500 Kilometer hinter sich gebracht und der Mann fühlte sich ein bisschen geschlaucht. Über den Fortgang des Tages hatte allerdings er keine Zweifel, die Frau würde ihnen gleich ankündigen, dass es demnächst in die Stadt gehen würde.
„Wir machen jetzt eine kurze Pause, dann gehen wir in die Stadt Abendessen“ (oh Mann, sie war wie ein Stehaufmännchen, zäh wie Leder) legte sie fest. Der Mann musste sich zusammen reißen um nicht einzunicken, wenig später waren sie unterwegs. Ja, die Franzosen hatten schon Stil, die Städte strahlten Leben aus, sie waren nicht so steril wie bei ihnen zu Hause. Die kleinen Gassen quollen vor Leuten über die in den Auslagen vor den Geschäften kramten, die Restaurants begannen sich zu füllen und über allem lag ein gewisser Trubel, ohne dass es laut zuging, es war eher ein unterschwelliges Gemurmel und Lachen. Es roch nach Geschichte und die unverputzten Häuser kündeten davon, dass ihre Erbauer wohl geschickte Handwerker gewesen waren, denn die Gemäuer standen seit Jahrhunderten an ihren Plätzen.
Die Heimatstadt der Frau, des Jungen und des Mannes hatte im Krieg sehr gelitten. Das gesamte Stadtzentrum war damals pulverisiert geworden und als es mit dem großdeutschen Reich vorbei war gingen die Menschen daran, den Schutt wegzuräumen, und den Ort wieder aufzubauen. Herausgekommen war ein gesichtsloses neues Zentrum, das nach der Wiedervereinigung durch einfallslose Architektur abermals verunstaltet wurde. Der Bereich um die Frauenkirche war der Wunsch der Dresdner, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, aber es mutete doch vielfach wie ein Disneyland an weil es eben nicht authentisch war, trotzdem drängten sich dort massenhaft Touristen die den Platz stürmten. Nein, er liebte seine Stadt sehr, wenig weg vom Zentrum fanden sich herrliche Jugendstilhäuser, die Elbauen waren unverbaut und an warmen Tagen setzte dort eine Völkerwanderung ein. Auf dem träge dahin fließendem Fluss fuhren die alten Schaufelraddampfer und wenn ihn jemand gefragt hätte wo er gern leben würde wäre die Antwort ganz klar gewesen: in Dresden natürlich. Schon früher war er oft mit dem Moped durch die Straßen gefahren um etwas zu erspähen was gerade gebaut wurde. Jetzt strahlte alles wie neu, es war sauber und die Stadt zeichnete sich durch viel Grün und eine gewisse Luftigkeit aus. An den Elbhängen waren Schlösser zu sehen und von da aus hatte man einen schönen Blick auf die im Tal liegende Ansiedlung. Oper, Zwinger, Schloss und Hofkirche bildeten den historischen Kern, gerade am Abend ergab sich vom Fluss her ein zauberhafter Anblick.
Das war ein guter Ort zum Leben und eine halbe Stunde mit der
S-Bahn unterwegs erreichte man bereits die herrliche Sächsische Schweiz, die mit ihren beeindruckenden Panoramen für aufgerissene Münder sorgte, im Norden fanden sich Schlösser der Könige, die Gegend war also durchaus mit vielen Sehenswürdigkeiten gesegnet. Dass die Briten und Amerikaner 1945 die Stadt dem Erdboden gleich gemacht hatten hatte dazu geführt, die alten engen und muffigen Wohnquartiere verschwinden zu lassen, hier fand