Gute Welt, böse Welt. Andie Cloutier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andie Cloutier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748513667
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erstaunlich. Immerhin war er nun schon über achtzig Jahre alt. Mühsam erkämpfte er sich jeden einzelnen Schritt. Unfassbar, wie aus den kleinsten, alltäglichen Dingen mit den Jahren richtige Herausforderungen wurden. Albert Stein hatte genug von seiner Aufgabe. Über all die Jahre hatte er sich niemals beklagt. Nicht ein einziges Mal. Vor unendlich langer Zeit, als er noch jung und voller Energie gewesen war, hatte die ihm anvertraute Aufgabe ihn sogar mit Stolz erfüllt. Doch das war lange her und nun war er bereit endlich abberufen zu werden. Er erreichte die Kammer hinter dem großen Verkaufsraum, der durch die vielen verkäuflichen Gegenstände hoffnungslos überladen wirkte. Seine von Altersflecken gezeichnete Hand öffnete eine dunkle Holztruhe. Darin befand sich ein mit vielen Schnitzereien verziertes Kästchen. Albert machte sich nicht die Mühe das Kästchen aus der Truhe zu heben. Selbstverständlich hatte er das früher immer getan. Er hatte dieses wertvolle Kästchen aus der Truhe gehoben, diesen besonderen Augenblick, das ganze Ritual regelrecht zelebriert. Doch damit war es seit vielen Jahren vorbei. Er öffnete einfach den Deckel des Kästchens und hob den Inhalt heraus. Bevor er das Herausgenommene näher betrachtete, schloss er erst das Kästchen und dann die Truhe wieder. Nun sah er auf das Kuvert in seiner Hand. Er brauchte es nicht zu öffnen, wusste genau was sich darin befand. Es war immer dasselbe. Diese Prozedur hatte er schon unzählige Male hinter sich gebracht. Der Schlüssel, der sich im Kuvert befand und das dazu gehörige Dokument waren für ihn unwichtige Utensilien. Für ihn zählte nur eines: der Name auf dem Kuvert. Und genau den las er nun: Dr. Rebecca Brandt.

      Kaum hatte Rebecca das Telefongespräch mit einer Schreinerei beendet, führte Natascha mit ihren dick verquollenen Augen Eric Richter in ihr Sprechzimmer. Das war eine ungewöhnliche Vorgehensweise. Normalerweise teilte Natascha ihr die Ankunft eines Patienten mit, damit Rebecca den Patienten persönlich in ihr Sprechzimmer bitten konnte. Allerdings war Eric Richter auch nicht ihr Patient, sondern seine Frau Sophia. Und dieser Tag war weder für ihre aufgelöste Sprechstundenhilfe noch für sie selbst normal. Rebecca wusste nicht was Eric Richter in ihrem Sprechzimmer verloren hatte.

      „Sophia ist nun bereits einige Wochen bei Ihnen in Therapie, nicht wahr?“ begann er ohne jegliche allgemein übliche, höfliche Einleitung.

      Rebecca beobachtete ihn aufmerksam. Nur kurz blieb sein Blick auf dem großen Fleck im Teppich hängen, bevor er sich ihr zuwandte. Er nahm nicht in dem Sessel Platz, wie sie ihm wortlos mit Handzeichen anbot. Stattdessen blieb er stehen.

      „Ja, das ist sie“, beantwortete sie nun seine Frage.

      Eric Richter war zweifelsohne ein attraktiver, charismatischer Mann. Er trug stets teure Anzüge. Rebecca tippte auf Hugo Boss. Nicht weil sie sich damit auskannte, das war eher Julias Fachgebiet, sondern weil allein der Name schon perfekt zu seiner Ausstrahlung passte. Seine kurzen, dunklen Haare waren perfekt gestylt, wiesen nicht mal einen Hauch von Grau auf, obwohl das für einen Mann seines Alters normal wäre. Ein Mann aus reichem Hause, dessen symmetrischen Gesichtszüge ihm wahrscheinlich viele Vorteile verschafften. Mit seiner Figur und seinem Aussehen könnte er ein überaus vorzeigbares Modell für einen Anzugdesigner sein. Aber das wäre eine unwürdige Beschäftigung und kam für Eric Richter selbstverständlich nicht in Frage. Er hatte monatelang fleißig Wahlkampf betrieben und am Montag erreichte er das Ziel seiner Bemühungen: seine Amtseinführung als Oberbürgermeister. Er musste beliebt bei der Bevölkerung sein, sonst wäre er wohl kaum gewählt worden. Doch das galt keineswegs für sie. Sie kannte den Mann hinter der einnehmenden Fassade. Sophia hatte ihr tiefe Einblicke gewährt.

      „Wieso bessert sich der Zustand meiner Frau nicht? Nach all diesen kostspieligen Sitzungen kann ich doch eine Besserung erwarten.“ Er blickte auf Rebecca herab.

      Der kalte Ausdruck in seinen stahlgrauen Augen war Grund genug für ihre Antipathie ihm gegenüber. Selbst wenn sie keine Hintergrundinformationen über ihn kennen würde. Seine Augen strahlten nicht die geringste Wärme aus, ließen Rebecca erschaudern. „Sophia macht Fortschritte. Das versichere ich Ihnen, Herr Richter.“

      „Am Montag findet meine Amtseinführung statt. Ich kann mich nicht in der Öffentlichkeit mit einer Ehefrau blickenlassen, die ständig grundlos in Tränen ausbricht“, teilte Eric ihr mit.

      „Öffentliches Interesse liegt Ihrer Frau auch nicht. Deswegen ist es nicht nur in Ihrem Interesse, wenn Sie auf die Begleitung Ihrer Frau verzichten könnten“, erklärte Rebecca ihm.

      Er beugte sich drohend über ihren Schreibtisch, taxierte sie mit seinen kalten Augen. „Machen Sie Sophia für den Montag fit. Ansonsten sehe ich mich dazu gezwungen, sie zu einem anderen Therapeuten zu bringen.“ Nach dieser Drohung verließ er das Sprechzimmer.

      Kurz darauf kam Sophia herein. Sie war der komplette Gegensatz zu ihrem Mann. Ihre langen, blonden Haare waren zwar gepflegt, dennoch hingen sie glanzlos, geradezu fade herunter. Ihre Hautunreinheiten ließen sich nicht von den teuren Cremes kaschieren. Durch das farbenfrohe Kleid, sicherlich auch ein Designerstück, wirkte sie gespenstisch bleich. Es hieß, sie wäre vor einigen Jahren noch eine strahlende Schönheit gewesen. Davon war heute nicht mehr viel zu sehen.

      Sophia setzte sich in den Sessel, faltete ihre Hände in ihrem Schoss und schaute Rebecca unsicher an. „Am Montag ist die Amtseinführung und Eric will die perfekte Familie vorzeigen.“

      „Was wollen Sie, Sophia?“ erkundigte sich Rebecca sanft.

      „Ich weiß, was Sie denken, Dr. Brandt. Sie fragen sich, warum ich mich nicht von ihm trenne.“ Sophia wich einem direkten Blickkontakt aus.

      „Es ist unwichtig, was ich denke. Es ist Ihr Leben. Sie treffen die Entscheidungen.“

      Sophia verfügte über keinerlei Selbstwertgefühl. Und es oblag Rebecca nicht, ihr vorzuschreiben wie sie ihr Leben zu führen hatte. Sie konnte ihr nur ihre Unterstützung anbieten, ihr zu hören und für sie da sein.

      „Dennoch halten Sie meine Entscheidungen für falsch“, beharrte Sophia.

      „Sind es die falschen Entscheidungen?“ Rebecca musterte Sophia aufmerksam.

      „Nein. Ich habe zwei wundervolle Kinder. Das war die richtige Entscheidung“, sagte Sophia bestimmt und ohne Zögern. Sie sah Rebecca besorgt an. „Geht es Ihnen gut, Dr. Brandt? Ich habe von dem Überfall gehört.“

      Die Frage und Sophias ehrlich besorgter Gesichtsausdruck machten Rebecca fassungslos. Ihre Patientin hatte mehr als genug eigene Probleme. Dennoch sorgte sie sich um ihre Therapeutin? Sophia hatte jemand besseren als Eric Richter verdient. „Mir geht es gut.“ Diese Antwort wurde offenbar zu einer neuen Angewohnheit.

      „Das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind sehr blass, meine Liebe“, teilte Sophia ihr mit.

      „Sorgen Sie sich nicht um mich, Sophia. Mir geht es wirklich gut. Möchten Sie eine Tasse Tee?“ Es war höchste Zeit das Gespräch wieder auf Sophia zu lenken.

      Eric machte es sich in einem der Sessel im Wartebereich gemütlich. Hoffentlich nahm sich die Quacksalberin seine Worte zu Herzen und diente endlich mit Resultaten. Über die Aussicht auf dieses notwendige Gespräch war er nicht sehr erbaut gewesen. Warum konnten die Leute nicht einfach ihren Job anständig erledigen? Was war so schwer daran? Wieso war es zu viel verlangt? Dabei würde es vieles vereinfachen. Glücklicherweise war die Sprechstundenhilfe geschwätzig. So erfuhr er etwas, das er sich zu Nutzen machen würde. Der unliebsame Morgen hatte also doch etwas Positives an sich. Er zog sein Smartphone aus der Jackettasche und betätigte die Kurzwahl. „In Dr. Brandts Praxis kam es gestern zu einem Zwischenfall. Dabei wurde ein Gebäudereiniger namens Manfred Groß erschossen. Er hat einen Sohn, der in Kanada lebt. Spüren Sie ihn auf und schaffen Sie ihn her.“ Eric hörte dem unsinnigen Gelaber seines Assistenten nur halb zu. Ein Neuankömmling im Empfangsbereich der Praxis beanspruchte den größten Teil seiner Aufmerksamkeit. Was für eine Frau! Ihre wilden, langen, roten Haare ließen sie ungebändigt wirken. Wie eine Wildkatze. Ihr Busen schien ihre Bluse jeden Augenblick sprengen zu wollen. Die Wildkatze, und das war sie ganz eindeutig, setzte sich ihm direkt gegenüber in einen Sessel. Ihr Anblick beflügelte seine Fantasie. Es gab viele Dinge, die er nur allzu gerne mit ihr anstellen wollte. Stattdessen musste er sich mit seinem unfähigen Angestellten herumschlagen. „Keine Ahnung, wie Sie das anstellen sollen.