Gute Welt, böse Welt. Andie Cloutier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andie Cloutier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748513667
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es Stunden? Sie wusste es nicht. Zwei Menschen starben heute in ihrem Beisein. Und für einen Tod war sogar sie selbst verantwortlich. Sie wagte es nicht sich auszumalen wie alles verlaufen wäre, wenn die Putzkolonne nicht zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort aufgetaucht wäre. Nach Paulys Tod war Rebecca in eine Leere gestürzt. Sie war einfach auf dem Boden zusammengesunken, unfähig sich zu bewegen. Alles erschien ihr unwirklich und realitätsfremd. Julias Ankunft hatte sie kaum wahrgenommen und die Fragen der Polizisten in einem Automatismus beantwortet. Von einer Sprachfunktion, die quasi im Autopilotenmodus funktionierte hatte sie zwar schon gehört, aber es noch nie selbst erlebt. Bis zum heutigen Abend. Etwas selbst zu erleben war immer vollkommen anders, als es in der Theorie dargestellt wurde. Sie wusste nicht einmal, was die Polizisten sie gefragt hatten oder was sie ihnen antwortete. Die Beharrlichkeit, die Stimme des zweiten Kommissars befreite sie letztendlich irgendwann aus ihrer Starre. Sein mehrmaliger Versuch sie zu einem Krankenhausbesuch zu überreden, war ihr alles andere als willkommen. Ihr ging es gut. Zumindest was ihre körperliche Verfassung betraf. Erstaunlicherweise hatte sie durch den Schlag keine Brüche erlitten, sondern nur einen Bluterguss. Die Krankenhausärzte konnten dagegen nicht mehr unternehmen als sie selbst. Der Kommissar hatte ihr zwar eindringlich zu einer ärztlichen Untersuchung geraten, aber nicht angeboten sie zu begleiten. Wie hätte sie reagiert, wenn er es getan hätte? Sie erinnerte sich an seine Augen, in der Farbe eines strahlend klaren Himmels an einem Sommermorgen. Das war ein schöner Anblick. Wie der ganze Kommissar überhaupt. Was wäre geschehen, wenn er ihr seine Begleitung angeboten hätte? Wäre sie dann ins Krankenhaus gegangen? Es gab viele Dinge, die schlimmer waren, als jetzt mit ihm in einem Krankenhaus warten zu müssen. Worüber würden sie sich während der Wartezeit unterhalten? Den Schusswechsel? Die Aussicht trübte den Gedanken daran. Gab es keine anderen möglichen Themen über die sie sprechen würden? Rebecca seufzte. Vielleicht litt sie doch an einer Gehirnerschütterung. Warum sonst beanspruchte der Kommissar derartig ihr Denken? Das war zu klischeehaft für ihren Geschmack. So etwas passte nicht zu ihr, dafür umso mehr zu Julia.

      „Im Notfall gebe ich mich mit Fastfood zufrieden“, meinte diese.

      Für einen Moment hatte Rebecca den Faden verloren. Dann fiel ihr Julias Frage wieder ein. „Ich habe keinen Hunger. Setz mich bitte einfach Zuhause ab.“

      „Bist du dir sicher?“ fragte Julia zweifelnd und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.

      „Ja“, antwortete Rebecca und beobachtete wieder durch das Fenster die Welt, wie sie an ihr vorbeizog.

      „Ich fasse nicht, dass er dir einfach so seine Karte gegeben hat“, brummte Julia nun. „Rufst du ihn an?“

      Rebecca dachte kurz darüber nach. Die Karte hatte sie für den Notfall bekommen. Jedenfalls hatte sie es so verstanden. „Vermutlich nicht“, antwortete sie. Wer wollte schon gerne ein Notfall sein? Sie jedenfalls nicht.

      „Gut, dann gib sie mir“, schlug Julia vor. „Ich rufe ihn an.“

      „Nein“, erwiderte Rebecca prompt. Natürlich hatte Julia Interesse an dem Kommissar. Sie hatte ein Interesse an allen gutaussehenden Männern.

      „Das finde ich sehr egoistisch von dir“, teilte Julia ihr schnippisch mit.

      „Ich habe die Karte im Falle eines Notfalls und nicht damit du deiner Sammlung eine weitere Trophäe hinzufügen kannst“, stellte Rebecca klar.

      „Hast du ihn dir denn genau angesehen? Vielleicht hattest du während deiner Freakshow nicht die Zeit dafür? Der Kerl ist heiß. Er ist heiß und er hat Handschellen. Wenn du ihn nicht willst, gib mir die Karte. Ich bin gerne ein Notfall“, forderte Julia.

      „Nein“, wiederholte Rebecca erneut, was ihr einen finsteren Blick von Julia einbrachte.

      Ihre Freundin nahm ihr das wirklich übel, stellte Rebecca fest. Sie kannten sich seit Jahren, hatten sich während ihrer Studienzeit sogar eine Wohnung geteilt und sich noch nie wegen eines Mannes gestritten. Vielleicht lag es daran, dass Rebecca sich kurz nach dem Studienbeginn verliebt hatte und wenig später eine feste Beziehung einging. Julia hingegen, beanspruchte damals alle anderen Männer für sich.

      „Ich kann es nicht fassen. Du weigerst dich tatsächlich?“ Julias Stimme klang etwas schrill. Sie regte sich sehr über die Sache auf. Was nicht erstaunlich war. Julia war nun einmal eine sehr egoistische Person, die immer bekam was sie wollte. Dazu war ihr jedes Mittel recht. Das galt sowohl für die Anwältin als auch für die Privatperson Julia Sommer. Rebecca sehnte sich nach ihrer Wohnung, nach Ruhe und dem Ende dieser Diskussion. Warum wollte diese Heimfahrt nicht enden? Julia bestrafte sie nun mit Schweigen. Erleichtert stieg Rebecca aus, als der Wagen endlich vor dem Mehrfamilienhaus hielt, in dem sich ihre Wohnung befand. Kaum hatte sie die Wagentür hinter sich geschlossen, rauschte Julia mit quietschenden Reifen davon. Kopfschüttelnd schloss Rebecca die Haustür auf. Ihre Wohnung lag im Parterre. Sie musste nur wenige Schritte durch den Hausflur, um an ihre Wohnungstür zu gelangen. Kaum hatte sie ihre Wohnung betreten, ging sie in die Küche zum Kühlschrank, nahm eine Packung Tiefkühlerbsen aus dem Gefrierfach und schmiegte es an ihre schmerzende Wange. Mit der freien Hand nahm sie ein gerahmtes Foto von einem Regal im Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch sinken. In dem schwachen Lichtschein, der durch die Tür von dem hell erleuchteten Flur ins dunkle Wohnzimmer schien, betrachtete Rebecca das Bild. „Ach, Ben“, seufzte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie das Bild fest an ihre Brust drückte.

      Leon parkte seinen Wagen im Carport, stieg aus und ging zur Tür seiner Einliegerwohnung. Trude, seine Vermieterin, fischte gerade die Tageszeitung aus dem Briefkasten und winkte ihm mit der Zeitung in der Hand freudig zu. "Guten Morgen, Leon. Ich habe dir gestern Abend etwas zu Essen in den Kühlschrank gestellt. Es gab Schmorbraten mit Klößen und Rotkohl. Ich habe wieder viel zu viel gekocht. Lass es dir schmecken!" Leon winkte zurück. Er mochte das alte Vermieterehepaar, obwohl er sich an Trudes Eigenart ihm etwas zu Essen in seinen Kühlschrank zu stellen, nicht recht gewöhnen konnte. Sie spazierte dazu einfach durch seine Wohnung, während er nicht zu Hause war. Unter Privatsphäre verstand er etwas anderes. Diese Unart hatte Trude sich mit der Zeit angewöhnt. Offensichtlich brauchte der arme Junge etwas Anständiges zu Essen. Von dieser Meinung war sie nicht abzubringen. Die eigentliche Abmachung war, er zahlte eine relativ geringe Miete und dafür mähte er ein paar Mal im Jahr den Rasen. Irgendwann war in einem merkwürdigen Automatismus noch Teilverpflegung dazu gekommen. Er wusste, dass Trude es nur gut mit ihm meinte. Deswegen hatte er das Schloss auch nicht ausgetauscht. Leon sperrte die Tür auf. Selten hatte er sich seinen Dienstschluss so sehr herbei gewünscht wie heute. Nach ihrem Einsatz in der Praxis waren sie zur Inspektion zurückgekehrt, um sich mit der lästigen, aber dazu gehörenden Schreibarbeit zu befassen. Die machte leider einen großen Teil seines Berufs aus. Und Dieter, clever wie er nun mal war, überließ den, seiner Meinung nach, unsinnigen Schreibkram natürlich gerne ihm. Da Leon angeblich noch die Übung fehlte. Als ob das Schreiben von Berichten jahrelange Übung erforderte. Sein Partner nutzte den höheren Dienstgrad aus und schob die unliebsame Arbeit auf Leon ab. Und als wäre das nicht schon Strafe genug gewesen, musste er Sticheleien über sich ergehen lassen. Die winzige Tatsache, dass er Rebecca Brandt seine Hilfe angeboten hatte wurde von seinen Kollegen offenbar sehr amüsiert aufgenommen. Leons Begründung, dass er nur ein anständiger Freund und Helfer sein wollte, bot weitere Gründe für wilde Spekulationen. Na gut, da empfand er ausnahmsweise Sympathie für eine Frau, das letzte Mal war schon Jahre her, und womit bekam er es gedankt? Mit den Sticheleien seiner Kollegen. Er erinnerte sich an seine vielleicht etwas übertriebene Reaktion auf einen Kommentar eines nicht sehr beliebten Kollegen. "Hey Zimmermann. Falls du die Adresse des reizenden Docs brauchst um dich ausgiebig um sie zu kümmern, kann ich sie dir geben. Immerhin wäre es im Interesse von uns allen, wenn du etwas entspannter wärst."

      "Wenn du meine Faust in deinem Gesicht brauchst, kann ich sie dir geben", hatte Leon erbost erwidert, doch Dieters fester Griff an seiner Schulter hatte ihn von allem weiterem abgehalten.

      Leon verzichtete auf das Einschalten des Lichts und drückte auf den Knopf seines Anrufbeantworters, dessen beharrliches Aufleuchten auf den Eingang von Nachrichten hinwies.

      "Leon, dein Vater wird morgen siebzig Jahre alt. Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Aber es wäre wirklich schön, wenn du ihn besuchen kommen