Gute Welt, böse Welt. Andie Cloutier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andie Cloutier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748513667
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Zu schwer lastete die Tatsache auf ihm, dass er seinen Bruder einfach nicht finden konnte. Er, der die ideale Ausbildung und alle Möglichkeiten dazu hatte, versagte kläglich. So konnte er seinen Eltern nicht vor die Augen treten. Eines Tages, wenn Daniel endlich wieder da war, würden sie zu zweit heimkehren. Das war jedenfalls Leons Plan. Außerdem liebte sein Vater es, Geschichten über Daniel zu erzählen. Geschichten darüber, wie Daniel einen Vertrag bei einem Bundesligisten ergattert hatte. Und was für ein erfolgreicher Nationalspieler Daniel heute sein könnte, wenn er nicht einfach verschwunden wäre. Nein, das ertrug Leon einfach nicht. Er löschte die Nachricht und ging ins Badezimmer. Das war eine wirklich miese Nacht gewesen. Mal abgesehen davon, dass er eine Therapeutin getroffen hatte, die er nur zu gerne näher kennenlernen würde. Eine Therapeutin, um Himmels willen! Was für eine miese Nacht. Er schaltete das Badezimmerlicht ein, zog sich aus und stellte sich unter das fließende, warme Wasser der Dusche.

      3.Kapitel

      Rebecca bezahlte den Taxifahrer und stieg aus. Trotz der eiskalten Regentropfen, die auf sie einschlugen, blieb sie unschlüssig stehen. Der Hintereingang des Gebäudes, in dem ihre Praxis lag, war nur wenige Schritte weit entfernt. Eine leicht zu überbrückende Distanz, wenn da nicht ihre Zweifel wären. Der Problematik war sie sich überaus bewusst. Immerhin hatte sie mal eine Patientin therapiert, die nach einem Überfall monatelang nicht arbeitsfähig, sogar kaum lebensfähig gewesen war. Aber Rebecca wusste genau wie wenig hilfreich es war, sich jetzt ängstlich in der Wohnung zu verschanzen. Die Wahrscheinlichkeit erneut einen solchen Vorfall wie den gestrigen erleben zu müssen, war sehr gering. Sie musste das einfach hinter sich lassen und ihr Leben wie gewohnt weiterführen. Dazu gehörte auch täglich in ihre Praxis zu gehen und ihren Patienten zu helfen. Rebecca straffte die Schultern und ging auf die Tür zu.

      Sie fand Natascha und ihre Teilzeitangestellte Sarah im Flur der dritten Etage vor. Die beiden Frauen standen in einigem Abstand zur Praxis und beobachteten zwei in Schutzanzügen gehüllte Personen beim Reinigen des Eingangsbereichs.

      Als Natascha sie sah, machte sich Erleichterung auf ihrem Gesicht breit. „Um Himmelswillen, was ist denn hier passiert?“

      Rebecca war nicht in der Verfassung irgendwelche Erklärungen abzugeben. Sie hatte es gestern miterlebt und es hatte sie bis in den ohnehin viel zu kurzen Schlaf verfolgt. Das, und diese unglaublich blauen Augen eines bestimmten Polizisten. Sie wollte die Ereignisse nicht auch noch schildern müssen. Jedenfalls nicht jetzt. Auch wenn die beiden Frauen durchaus das Recht auf eine Erklärung hatten. „Es gab Schwierigkeiten“, meinte sie deshalb. Das war eine sehr schwache Beschreibung, wenn man bedachte, dass in diesem Moment die Überreste eines Mannes entfernt wurden, der vor vierundzwanzig Stunden sicherlich noch nichts von seinem baldigen, gewaltsamen Tod geahnt hatte.

      „Schwierigkeiten? Das ist doch Blut! Und was ist mit deinem Gesicht passiert? Wurdest du etwa geschlagen?“ Natascha starrte entsetzt auf Rebeccas Wange.

      Rebecca holte tief Luft. Sie hatte sich vorhin alle Mühe gegeben ihre verfärbte Wange mithilfe diverser Cremes zu kaschieren. Und nun stellte sich all die Mühe als umsonst heraus. Vorsichtig ging sie an den beiden Reinigungsleuten vorbei in ihre Praxis. In ihrem Sprechzimmer verstaute sie ihre Jacke. Als sie sich an ihren Schreibtisch setzte, fiel ihr Blick auf den großen, dunklen Fleck im Teppichboden. Der war unmöglich auswaschbar. Höchstwahrscheinlich musste der Bodenbelag komplett ausgetauscht werden. Vielleicht sollte sie gleich etwas verlegen lassen, das leichter zu reinigen war. Rebecca hatte sich auf eine Panikattacke gefasst gemacht. Das war eine natürliche Reaktion auf die Geschehnisse. Doch sie verspürte keine Panik, lediglich ein kleines, kontinuierliches Pochen in ihrem Kopf. Leichte Kopfschmerzen waren ihr viel lieber als eine Panikattacke. Also nahm sie sich eine der Akten, die auf ihrem Schreibtisch lag und begann zu lesen. Ein Klopfen unterbrach sie wenig später. Rebecca sah auf. Ein Mann des Spezialreinigungsdienstes stand in der Tür. Es war eine bizarre Vorstellung, dass es für solche Reinigungsfirmen überhaupt einen rentablen Markt gab.

      „Die Reinigung des Flurs und des Vorzimmers sind abgeschlossen. Den Teppichboden hier werden Sie austauschen lassen müssen. Melden Sie sich, wenn es soweit ist. Ich übernehme die Entsorgung. Das ist Sondermüll“, teilte der Mann ihr mit.

      Rebecca überlegte kurz. Es machte keinen Sinn die Arbeit unnötig aufzuschieben. Außerdem war es weder für sie noch für ihre Patienten ein angenehmer Anblick. „Samstagvormittag wäre mir recht.“

      Der Mann überprüfte den Termin in einem Notizbuch. Rebecca musste lächeln. Wer benutzte heutzutage noch altertümliche Notizbücher?

      Er nickte zustimmend. „Ich kann das auf elf Uhr legen.“

      „Das passt“, entgegnete sie.

      „Bis morgen.“ Er hob die Hand kurz zum Gruß und ging.

      Rebecca wollte sich erneut auf die Akte konzentrieren und wurde gleich wieder unterbrochen.

      Natascha betrat das Sprechzimmer, sparte sich das Anklopfen. Sie starrte auf den großen Fleck am Boden. „Wie kann es sein, dass ich hier arbeite, aber nicht weiß was vorgefallen ist?“

      „Wie kann es sein, dass du auf Informationen bestehst, die ich dir im Moment nicht geben kann?“ stellte Rebecca eine Gegenfrage. „Nimm dir doch ein Beispiel an Sarah. Sie geht brav ihrer Arbeit nach ohne Fragen zu stellen.“

      „Oh, Sarah möchte auch wissen was hier los war. Sie traut sich bloß nicht zu fragen. Das Problem habe ich nicht.“ Natascha setzte sich in einen Sessel vor dem Schreibtisch. Eigentlich war der Sessel den Patienten vorbehalten.

      Rebecca legte die Akte zurück auf den Tisch und schaute ihre Angestellte missbilligend an. Natürlich war das nicht nur ihr Arbeitsplatz, sondern auch der von Natascha und Sarah. Von daher hatten sie selbstverständlich das Recht zu erfahren was vorgefallen war. „Kurz nachdem du gegangen bist kam ein fremder Mann in die Praxis. Er hat mich mit einer Waffe bedroht.“

      Nataschas Miene zeigte deutlich ihr schockiertes Erstaunen. „Was? Warum? Hat er irgendwas gesagt? War es ein Überfall? Wurde etwas gestohlen? Wer überfällt eine Praxis? Das ist unglaublich!“

      „Seine Tochter kam vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht ums Leben. Der Unfallfahrer wurde vor ein paar Tagen aus der Haft entlassen. Darüber war der Mann sehr wütend. Ich weiß nicht, was genau er sich von der Aktion gestern erhofft hat. Das weiß ich wirklich nicht“, erzählte Rebecca. Hoffentlich hatte sich das Thema damit erstmal erledigt.

      Natascha sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Er hat dich geschlagen!“

      Rebecca verzog das Gesicht. Sie bereute es sofort, denn die Wange schmerzte umgehend. „Ich hatte viel mehr Glück als einer der Gebäudereiniger. Er wurde erschossen.“

      Entsetzen löste den Schrecken auf Nataschas Gesicht ab. „Wer wurde erschossen? Wer?“ fragte sie mit schriller Stimme.

      „Seinen Namen kenne ich nicht. Es war der Ältere mit dem lichten Haar“, sagte Rebecca.

      Natascha schluchzte auf. „Manny? Manny ist tot? Nein, das kann nicht sein! Das darf nicht sein!“ Ihr Schluchzen wurde noch lauter. Sogar als sie regelrecht aus dem Sprechzimmer stürmte. Rebecca sah ihr überrascht nach. Was war denn in Natascha gefahren? Wie gut kannte sie das Reinigungspersonal? So sensibel kannte sie Natascha überhaupt nicht. Die Gute hatte doch normalerweise immer einen kessen Spruch auf den Lippen. Rebecca kramte ein Telefonbuch aus einer Schublade hervor und suchte nach Firmen, die sie mit dem Austausch des Bodenbelags beauftragen konnte.

      Abgetragene Gesundheitsschuhe schlurften schwerfällig über einen braunen, gefliesten Boden. Ein alter Mann, mit in allen Richtungen wild abstehenden, weißen Haaren, dicken, buschigen Augenbrauen und einen ebenso buschigen Schurbart, bahnte sich langsam einen Weg durch den von zahlreichen antiken Möbeln gesäumten schmalen Gang. Er kannte jedes einzelne Stück an dem er vorbei schlurfte. Die Herkunft, die Geschichte eines jeden dieser Unikate war ihm bekannt. Sein Wissen bezog sich nicht ausschließlich auf das Mobiliar, es erstreckte sich ebenso auf die anderen Einrichtungsgegenstände. Das war sein Antiquitätenladen, den er seit vielen Jahrzehnten führte. Er liebte diese geschichtsträchtigen, aus massivem