Und nun wurde mir klar, warum meine Mutter in der letzten Nacht vor der Abfahrt vor Wut buchstäblich schäumte.
Tapfer versuchte ich beim Abschied meine Tränen zurückzuhalten. Meine Welt brach förmlich zusammen. Ich war erst zarte acht Jahre alt und sollte von all denen getrennt werden, die ich am meisten liebte. Zudem wusste ich nicht, was mich erwartete.
Bei der Verabschiedung zeigte ich Onkel Hackbart die kalte Schulter. Er wusste bereits seit einem halben Jahr von den Plänen meines Vaters – und hatte mich nicht einmal gewarnt…
*
Alles was mir an Leid widerfahren ist, hat mich nur immer wieder darin bekräftigt, meinen eigenen Weg zu gehen und mich für meinen eigenen Willen zu entscheiden.
(Delil Duman)
Mein Sohn betrachtete mich teils mitleidig, teils verwundert: »Das muss ein wirklich schlimmer Schock für dich gewesen sein, so plötzlich von deiner Familie getrennt zu werden. Echt jetzt? Du solltest zum Priester erzogen werden?«
»Ja, noch immer vertrete ich die Meinung, ein Kind sollte in seiner intakten Familie bleiben. Deshalb kannst du dir ausmalen, wie entsetzt ich war, als Fergus deine Schwester Sascha in ein Internat geben wollte. Der Beschluss meines Vaters, brachte mein gesamtes Weltbild ins Wanken. Den einzigen Wunsch, den ich bis dahin verspürte, war, genauso zu sein wie mein Vater, oder mein großer Bruder; nämlich ein stolzer Krieger zu werden. Stattdessen wurde ich ein Opfer der undurchsichtigen Politik meines Vaters.«
»Das verstehe ich jetzt nicht. Was hat das Priestertum denn überhaupt mit Politik zu tun?«, fragte Agnir ein wenig irritiert.
»Inzwischen war Gødrik, der Sohn des Sigurd, König von Dänemark geworden. Und statt die Tochter des Clanführers der Haraldinger als seine Gemahlin zu wählen, hatte er sich stattdessen für ein Sachsenmädchen entschieden. Er nahm Alfhild, vom Stamme der Nordalbingier zur Gemahlin. Das traf nicht gerade auf das Wohlwollen der Haraldinger, die sich übergangen fühlten. So überlegten sie, ob sie im Norden, nicht ein eigenes Königreich gründen sollten; mit meinem Vater als König. Der Dänenkönig wiederum sah Skryrmir als Eidbrüchigen an, weil ihm dieser sein Treuegelöbnis nicht gab und seinerseits Gødrik des Vertragsbruchs bezichtigte. Und wie das so ist, wenn jemand nach der Königswürde strebt, müssen die Götter, oder zumindest die Priester, auf seiner Seite sein. Wenn jedoch jemand aus dem aufstrebenden Königshaus in die Priesterschaft eintritt, ist den Priestern quasi garantiert, dass dieses Mitglied sich ausreichend um ihre klerikalen Interessen bemüht. Das war nicht nur bei den Katholiken so. Das System ist überall das Gleiche, nur die Namen der Parteien sind beliebig austauschbar. So wäscht eine Hand die andere«, erklärte ich ihm. »Dabei war ich in etwa so spirituell, wie eine verdammte Stehlampe, nur nicht so erleuchtet.«
»Okay, deshalb bist du letztendlich auch kein Priester geworden, oder? Und das, obwohl es deines Vaters Willen war. Trotzdem hast du dich dagegen entschieden. Warum genau?«, fragte er neugierig.
»Weil ich mich lieber an die Worte meiner Mutter hielt, die sie mir beim Abschied ins Ohr raunte.«
»Und die waren?«
»›Höre auf dein Herz. Denke daran, wo deine Wurzeln liegen. In deinen Adern fließt nicht nur das Blut des Drachentöters, sondern genauso das der Skoloti. Niemand sperrt einen Nomaden ein. Geh deinen eigenen Weg, mein Sohn.‹ Genau das waren ihre Worte. Also suchte ich einen passenden Zeitpunkt und die Gelegenheit, um zu türmen. Und überhaupt, mein Name ist Ragnor, was so viel bedeutet wie: Krieger der Götter. Er bedeutet jedoch nicht: Diener der Götter!«
»Nun ja, Cornelius erzählte mir bereits, du hättest den Rang eines Ausbrecherkönigs inne. Du bist aus dem unterirdischen Bunker von Salomons Ring, und sogar aus dem Kerker der Ewigkeit geflohen, der sich nirgendwo anders befindet, als in der Dämonendimension.«
»So, so! Was Connie nicht alles nebenbei ausplaudert, diese alte Schwatzbacke… Erzähl ihm bloß nicht, dass ich ein verdammter Priester werden sollte. Wenn er das erfährt, wird er mich damit bis ans Ende der Zeit aufziehen. Kann ich jetzt weitererzählen, oder hast du noch irgendwelche Fragen, die ich dir beantworten soll?«
»Nein, bitte. Erzähle weiter!«, bat Agnir.
Der Aufenthalt im Heiligtum bedeutete für mich auch nichts anderes, als eben jenes, was ich von zuhause gewohnt war. Wieder einmal war ich das kleinste Licht in der Befehlskette. Die Bedeutung dürfte jedem klar sein: Ich musste die unangenehmsten und gleichzeitig anstrengendsten Aufgaben erledigen, die sonst niemand ausüben wollte. Zum Glück konnte ich mein Schicksal mit einem gleichaltrigen Leidensgenossen teilen. Der Novize Gunnar war genauso rothaarig wie ich, und durch seines Vaters Willen ebenfalls zu den Priestern gebracht worden. In einem Punkt unterschieden wir uns jedoch gewaltig. Während er seine Aufgaben mit einer ihm eigenen, ungebremsten Götter verehrenden Hingabe ausführte, betrachtete ich mein Dasein hingegen eher als schweres Los. Ganz gegen meine Gewohnheiten musste ich sogar in der Küche arbeiten; Gänse rupfen, Rüben schälen und schneiden, und nach den Mahlzeiten den Abwasch erledigen. Zudem legte ich Kräuterbeete an und sorgte dafür, sie von Unkraut frei zu halten. Nahezu demütigend fand ich es, mich um die Wäsche der Priester kümmern zu müssen. Wer schon mal im eiskalten Wasser schmutzige Wäsche wusch, wird mir zustimmen, wie schnell Hände gefühllos werden können. Und wenn ich nicht gerade Kohlen zum Auffüllen der ständig glühenden Kohlebecken an den verschiedenen Götterschreinen schleppen musste, wurden mir fremde Kräuter und Pilze unter die Nase gehalten, von denen ich weder Aussehen, noch Namen verinnerlichen konnte. Trotzdem gab ich mir wenigstens in dieser Beziehung ein wenig Mühe, denn es konnte nie schaden, zu wissen, in welcher Form die Ingredienzen ihre Wirkung taten. So gingen die Tage dahin. Und in mir reifte der Plan, sobald es wärmer werden sollte, zu flüchten. Ich verhielt mich so unauffällig wie möglich und tat klaglos meine mir auferlegten Pflichten. Niemand sollte mir anmerken, dass es mir im Heiligtum nicht gefiel. Denn sollte jemand auch nur ansatzweise bemerken, ich wolle fliehen, würden sie mich nur umso genauer beobachten und meine Flucht zu vereiteln versuchen. Hinzu käme, dass sie mir willkürlich den Ausgang verweigern würden, der mir als einzige Freude meines vorherigen Lebens geblieben war. Für mich stand hundertprozentig fest, dass ich mich hier im Heiligtum, lediglich auf der Durchreise befand. Obwohl die Priester weitestgehend freundlich waren und uns körperlich nicht züchtigten, konnte mich trotzdem nichts erwärmen, weiterhin an diesem Ort zu verweilen.
Im Nachhinein muss ich zugeben, viele mir später noch nützliche Dinge bei der Priesterschaft gelernt zu haben. Zuerst war ich nicht sonderlich erbaut darüber, wie ein Weib das Nähen zu erlernen. Darum gab ich mir dabei keine besondere Mühe.
»Ragnor!«, rügte mich der Priester namens Halvar, der dem Hospital vorstand. »Diese Stiche sind viel zu grob! Junge, trenne sie gefälligst wieder auf und beginne von vorn!«
Wie frustrierend das war! Und da ich nicht immer wieder von vorn beginnen wollte, tat ich die nächsten Stiche sorgfältiger.
Unseren Dienst an den Göttern mussten wir mehrmals am Tag nachgehen. Meine stillen Gebete an die Götter hatten lediglich einen einzigen Zweck: Ich versuchte sie davon zu überzeugen, auch als Krieger ihren Willen ausführen zu können, um ihnen gefällig zu sein. All mein Denken kreiste nur um einen Punkt: Wieder nach Hause zu meiner Familie zurückzukehren.
Vor allem um meine Schwester Svenja machte ich mir große Sorgen. Ich träumte immer wieder, mit meiner Familie endlich vereint zu sein – nur war ihr Platz jedes Mal leer. Das beunruhigte mich zutiefst. Obwohl sie älter als ich war, kam es mir beinahe so vor, als sei Svenja meine jüngere Schwester. Denn bei der stets kränkelnden Svenja, ließ ich genauso viel Rücksicht walten, wie bei der kleinen Gundfreya, die ich immerzu in Schutz nehmen musste, wenn die älteren Geschwister sie zu drangsalieren versuchten.
Mit meinem Wissen über Kräuter und dem Können im Nähen erzielte ich sichtbare Fortschritte. Darum war mir endlich etwas Abwechslung gegönnt. Im Heiligtum gab es ein Hospital, oder eher eine Krankenabteilung, wohin Menschen kamen, die hofften bei den Priestern Heilung zu finden. Manchmal wurden aber auch schwere Fälle von weit außerhalb zu den Priestern ins Heiligtum