Clockwise - Reise durch Traum und Zeit. Carola Hipper. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carola Hipper
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847622826
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dauerte fast zwei Stunden, bis der Arzt mit einer Pinzette alle Stacheln aus dem Allerwertesten der Tante herausgezupft hatte. Nach diesem Malheur hatte Tante Kunigunde drei jammervolle Wochen lang »auf halber Pobacke« sitzen müssen. Das hatte urkomisch ausgesehen, aber Emmas Vater war über diesen kleinen Unfall sehr, sehr wütend geworden. Überhaupt sei es merkwürdig, einen Kaktus »Sir Paddington Grusonii« zu nennen, hatte er geschimpft. Und ihre Mama hatte Emma zu erklären versucht, daß ein Kaktus nun einmal nicht lebendig und darum kein ordentlicher Spielgefährte sei. Man könne nicht mit ihm spielen oder ihn gar streicheln wie ein Haustier. Emma hatte geschwiegen. Sie hatte es vor langer, langer Zeit aufgegeben, ihre Eltern von der Tatsache zu überzeugen, daß es auf der ganzen Welt keinen treueren Freund als Paddy geben konnte. Emma war von jeher ein stilles, in sich zurückgezogenes Mädchen.

      Ihre Eltern, Titus und Elizabeth Clock, waren zerstritten, seit Emma denken konnte. Sie hatte gerade erst laufen gelernt, als sie eines Abends die Eltern wieder einmal heftig streiten hörte. Es war schon weit nach Mitternacht, und eigentlich hätte das Mädchen längst schlafen sollen, da schlich sich Emma leise ins Treppenhaus. Von dort belauschte sie die Auseinandersetzung der Eltern. Schon damals hatten sie sich laut angeschrieen und eine Menge Geschirr zerbrochen. Und genau so war es auch heute. An Weihnachten stritten sie gewöhnlich besonders lautstark und heftig.

      Emmas Vater stammte aus Schottland. Lange vor Emmas Geburt war er aus Liebe seiner Frau nach Deutschland gefolgt. Nach und nach hatte er sich in Hamburg eine Existenz als Rechtsanwalt aufgebaut. Doch nach seinem zweiten Herzinfarkt hatte er seine Anwaltskanzlei aufgeben müssen. Emmas Mutter war eine erfolgreiche Chirurgin. Leider verbrachte sie weitaus mehr Zeit in ihrer Klinik als daheim.

      An den Wochenenden gab es im Hause der Familie Clock fast immer Streit. Manchmal begannen Emmas Eltern schon vor dem Frühstück, aneinander herumzunörgeln. Häufig ging es um belanglose Kleinigkeiten. Emma hatte stets versucht, sich daran zu gewöhnen. Doch ohne Erfolg. Ihre Angst, daß die Eltern sich einmal voneinander trennen könnten, schien im Gegenteil täglich zu wachsen.

      Zuweilen fand Emma Trost bei dem Gedanken, daß sie nicht immer ein Einzelkind gewesen war. Ihr Zwillingsbruder war unmittelbar nach seiner Geburt gestorben. Die Eltern sprachen niemals von ihm. Emma aber hatte von jeher in Erfahrung bringen wollen, woran ihr Bruder gestorben war. Doch Titus und Eliza Clock behaupteten stets, Emma sei zu jung, um die Umstände seines Todes vollends zu verstehen. Nach und nach hatte das Mädchen den Eindruck gewonnen, daß erst das Schweigen der Eltern seinen Bruder, dessen Namen es nicht kannte, wahrhaftig getötet hatte. Irgendwann hatte Emma schlicht aufgegeben, Fragen zu stellen. Doch tief in ihrem Herzen hatte sie niemals wirklich glauben wollen, daß ihr Zwillingsbruder »einfach so« gestorben war. Sie spürte, daß ihre Eltern ihr nicht die volle Wahrheit sagten.

      Wenn sie allein in ihrem Zimmer vor sich hin grübelte, fragte sie sich oft, wie es wohl wäre, einen Bruder zu haben. Emma fragte sich, ob ihre Eltern sich weniger streiten würden, wenn ihr Sohn nicht gestorben wäre. Im Laufe der Zeit hatte Emma gelernt, sich in ihre eigene Welt zurückzuziehen. Und ihr kleiner, stacheliger Freund Paddy war zu einem wichtigen Teil ihres Lebens geworden.

      »Welch ein herrlicher Morgen!« dachte Emma.

      Mit einem Mal war sie hellwach und voller Tatendrang. Sie schloß die Zimmertür leise. Dann ging sie zum Fenster hinüber, schob Paddys Sandtöpfchen behutsam beiseite und öffnete es.

      »Die Luft ist herrlich! Was hältst du von einem Spaziergang im Schnee?«

      »Nicht mit mir! Ich bin nicht gut zu Fuß«, antwortete Paddy mürrisch, bevor er sich einem hingebungsvollen Gähnen widmete. »Geh und frag ›Miss Schreck-in-der-Morgenstunde‹!«

      »Bitte sehr, wenn der Herr in seinem Sandtopf versauern möchte – mir ist es recht!« erwiderte Emma achselzuckend. Sie schlich zur Tür hinaus auf den Gang, dann horchte sie noch einmal kurz nach den Eltern. Alles blieb still. Auf Zehenspitzen glitt das Mädchen die Treppe hinab bis ins Kellergeschoß. Dort, unter den Stufen der Kellertreppe, wohnte Pepperoni.

      »Pst«, sagte Emma leise und lauschte in die Stille hinein. Nichts rührte sich. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Vorsichtig spähte sie zwischen den Stufen hindurch.

      »Pst, pst. He Peppi! Schlafmütze! Wach auf!« zischte Emma ins Dunkel. Da, plötzlich, blitzten zwei strahlend gelbe Augen, hell wie Feuerbälle, unter den Treppenstufen hervor. Pepperoni war aufgewacht. Aus ihren ausdrucksvollen Augen strahlte sie Emma an.

      »Na, Tigerin, hast du endlich ausgeschlafen?« lächelte Emma.

      »Uaaah!« gähnte Pepperoni und erhob sich gemächlich von ihrem weichen Ruhekissen. »Emmaaah! Ich hatte einen sooo süßen Trauuum. Hmmmh!« schnurrte sie und begann, ihre verschlafenen Glieder genüßlich zu recken und zu strecken.

      »Dann erzähl ihn mir draußen, ja? Ich möchte Mama und Paps nicht aufwecken. Laß uns einen Spaziergang machen, hm?«

      »Oh! Es ist ja noch ganz dunkel und viel zu früh! Laß mich ein bißchen weiterträumen, hmmmh!«

      »Draußen dämmert es bald. Es hat geschneit, und die Sterne leuchten hell«, sagte Emma aufmunternd. Pepperoni verzog das Gesicht und murmelte:

      »Bäh, Schnee! Da werden meine Pfötchen ja ganz naß. Nimm meinethalben den ›kleinen, grünen Giftzwerg mit‹, aber laß mich schlafen.«

      »Ach, bis Paddy seine Füße aus dem Sand ausgegraben hat, ist der Schnee längst getaut«, entgegnete Emma. »Nun komm schon mit, Pepperoni. Etwas Bewegung täte dir gut.« Nach einer Pause fügte Emma mit hochgezogener Braue hinzu: »Ich sehe, daß du schon Bauchspeck angesetzt hast!«

      »Was?!?«

      Pepperoni war aufgesprungen. Blitzartig wechselte die Farbe ihres Fells von Schwarz nach Giftgrün. Die Nackenhaare standen ihr zu Berge, und sie machte einen Buckel. Pepperoni war eine Chamäleonkatze. Vermutlich die letzte ihrer Art. Je nach Stimmung und Gelegenheit wandelte sich die Farbe ihres Fells, ja selbst ihre Augenfarbe war veränderlich. Dabei war sie entsetzlich eitel und sehr darauf bedacht, sämtlichen Katern der Nachbarschaft zu gefallen. Der Richtige war ihr zwar noch nicht über den Weg gelaufen, aber sie glaubte fest an die große romantische Liebe. Bisher war es allerdings noch niemals geschehen, daß Pepperoni ihr glänzendes Fell rot aufflammen ließ. Der freche Paddy hatte es gewagt, ihr zu unterstellen, daß sie in Wahrheit gar nicht rot zu werden vermochte, zumal sie, Paddy zufolge, nicht einmal Schamesröte besaß. Doch Pepperoni hatte steif und fest behauptet, daß ihr Fell eines Tages in einem feurigen Rot erstrahlen werde. Sie erklärte, sie könne diese heikle Farbe nur im Moment noch nicht anlegen, weil sie noch nicht wußte, wie es sich anfühlte, jemanden mit voller Leidenschaft und aus tiefstem Herzen zu lieben. Wenn aber der Richtige endlich da wäre, dann, ja dann würde sie das strahlendste Rot anlegen, das je eine Katze ihrer Art getragen hatte!

      »Waaas? Bauchspeck?!« Entsetzt blickte Pepperoni an sich hinunter. »Das ist nur mein Fell! Sieh doch, es wirft Wellen«, fügte sie rasch hinzu und streckte ihren Körper lang und länger, bis alle »Bauchwellen« verschwunden waren.

      »Es liegt nur an der Körperhaltung. Siehst du, ich habe eine perfekte Figur«, betonte die Katze und änderte ihre Farbe augenblicklich in ein dunkles Violett. Emma schmunzelte. Es war nur allzu offensichtlich, daß ihre Eitelkeit Pepperonis Achillesferse war.

      »Also, ich weiß nicht ...« sagte Emma stirnrunzelnd. »Nein, ich weiß wirklich nicht ... vielleicht sollten wir doch nach draußen gehen. Hier im Dunkeln kann ich nicht genau beurteilen, ob du recht hast. Nicht einmal die Farbe deines Fells kann ich genau erkennen!« Mit einem großen Satz sprang die nunmehr zitronengelb angelaufene Pepperoni aus ihrem Versteck. Dann besann sie sich und nahm eine aufrechte Haltung an. Schließlich sollte Emma nicht merken, wie sehr sie sich um ihr Äußeres sorgte.

      »Also gut! Laß uns an die frische Luft gehen«, säuselte die Chamäleonkatze, die ihre inzwischen königsblaue Schwanzspitze kokett hin und her wedelte. »Das wird mir gut tun. Aerobic am Morgen vertreibt Schlummer und Sorgen!«

      Mit königsblauer Miene tänzelte sie leichtfüßig an Emma vorbei die