In der Nähe vom Seoul Tower stiegen sie aus. Inzwischen war der Himmel aufgeklart. Die Befürchtung eines weiteren Regenschauers hatte sich im Nichts aufgelöst. Am Straßenrand stehend betrachteten sie erneut den Verkehrsfluss, der sich nicht verändert hatte. Diese Stadt war ständig in Bewegung. Dynamischer Verkehr, dynamische Menschen, dynamische Leben. Nach den zerfallenen Fabrikhallen und maroden Wohnhäusern schien die Flut aus leuchtenden Reklametafeln, modernen Wolkenkratzern und Straßen voller Menschen, die sich wie unzählige Thermiten über den makellosen Asphalt bewegten, wie eine märchenhafte Glitzerwelt. Dieses künstliche Plastikleben hatte Haekwon satt, denn sie drohte, wie er selbst der Meinung war, die letzten Kulturschätze zu ersticken.
„Nächste Woche gleiche Uhrzeit, gleicher Treffpunkt?“
Soo-Jung streckte ihm die Hand entgegen.
„Abgemacht“, erwiderte Haekwon kurz und ergriff die bleichen Finger, die sich im Gegensatz zu dem unbedarften Charakter des Kahlkopfs eher zierlich und zart anfühlten. Seine wirkte grob und kräftig. Obwohl er keinen Sport mehr machte, schien dies ein Überbleibsel aus vergangenen Jahren zu sein. Regelmäßiges Tennisspielen hatten seine Oberarme und Schenkel kräftig gemacht, was ihm der Laptop und die Softdrinks wieder genommen hatten. Nur sein Griff war immer noch der Alte. Soo-Jung drehte sich um und verschwand ohne weitere Worte zu verlieren in der Menschenflut, die auf ihn zurollte, während Haekwon den dunklen Rachen der Metrounterführung hinabstieg. In Gedanken versunken, da er immer noch nicht sicher war, was er sich von weiteren Treffen erhoffte.
Bonuspunkte
Der Warteraum des Krankenhauses quoll über wie eine faulig stinkende Mülltonne. Ein kleiner, pummeliger Junge saß auf dem warmen Mutterschoß einer zierlich gebauten Frau, die vergeblich versuchte, liebevoll seinem Jammern ein Ende zu setzen. Auf hellgrünen, am Boden festgeschraubten Kunststoffstühlen saßen meist ältere Leute, sehnsüchtig darauf wartend, dass die unfreundliche Schwester hinter dem Schalter ihre Zahl aufrufen würde. Hyuna presste sich das Taschentuch fester auf die Nase. Einige Tropfen Blut waren bereits auf die roten Kacheln gefallen, fielen daher nicht sonderlich ins Auge. Er hatte es schon wieder getan, obwohl sie alle Regeln befolgt und sich seinem Willen gebeugt hatte. Er hatte sie erneut geschlagen. Sie wusste nicht, wann seine Wutausbrüche ein Ende nehmen würden. Unkalkulierbar der Zorn war eines Mannes, der von der eigenen Frau hintergangen wurde, indem sie mit einem Immobilienmakler eine Affäre angefangen hatte und nach Japan durchgebrannt war. Auch Hyuna spürte gelegentlich diesen Zorn. Denn sie fühlte sich von ihrer eigenen Mutter im Stich gelassen. Ihr einziger Trost war ihr sechsjähriger Bruder, Ji-Min, der sich tapfer auf den fleischigen Rücken seines Erzeugers geschmissen hatte, als der wieder die Kontrolle über sich verlor. Nicht selten bekam der kleine Junge dabei auch eine verpasst. Dann taumelte er winselnd wie ein Welpe in eine Ecke, was Hyuna mehr Schmerzen bereitete als der Schlag ins Gesicht.
„Nummer 124!“ Die mechanische Stimme der Schwester dröhnte blechern aus dem Lautsprecher. Routine und Alltag hatten ihre Gesichtszüge versteinern lassen. Alle Emotionen waren im Geruch von Desinfektionsmitteln und den Ausdünstungen Kranker zersetzt worden. Nur die hellblaue Kappe auf ihrem leicht ergrauten Haar hatte etwas Warmherziges. Hyuna blickte auf den zerknitterten Zettel in ihrer Hand. Die Zahl, die aufgerufen wurde, gehörte einem Greis im Poloshirt, der sich mit Hilfe seines Gehstocks aufrichtete und auf den Schalter zuwankte. Ein Speichelfaden klebte ihm am Kinn und er schien kaum in der Lage die kurze Strecke zu bewältigen, die ihm in seinem Zustand wie eine Reise zum Mount Everest vorkommen musste. Seufzend stopfte sie den Zettel mit der 145 in die Hosentasche ihrer Jeans, auf der am rechten Oberschenkel eine blaue Blume aufgestickt war. Die hässliche Hose hatte sich heute mit einem gelben Schlabberpulli vermählt. Ice Cream war auf der Brustseite in weißen Lettern gedruckt. Grässlich diese Kombination, die zu Hyunas Stimmung passte. Wenn alle Klamotten abgenutzt waren, schickte sie meist ihr Vater, Jun-Su, zur Kleiderspende, da der Stolz ihm selbst die Beine lähmte. Genauso lähmend war die Scham, die sie dazu trieb, auch in der Freizeit in ihrer Schuluniform rumzulaufen, damit andere nichts von ihrer Armut erfuhren. Immer noch dröhnte ihr der Schädel. Sie spürte ein Stechen auf dem Nasenrücken, der hoffentlich nicht gebrochen war. Ins Gesicht hatte er sie noch nie geschlagen. Sie hatte das überraschte Aufblitzen in seinen Augen bemerkt, da er sich selbst über die eigene Grobheit zu wundern schien. Patienten verließen das Krankenhaus und doppelt so viele strömten nach. So viele kranke Menschen, die kleine oder große Gebrechen behandeln lassen wollten. Neben Hyuna nahm ein Junge im Sportdress Platz, den Arm im Gips. Freunde und Familie hatten ihn signiert. Hinter den mit schwarzem Filzstift gemalten Geschmiere tauchte nur sporadisch weißer Verband auf. Anscheinend war er sehr beliebt. Hyuna tat so, als müsste sie zur Toilette. Denn im Gesicht des Jungen, zwar schön und jugendlich, erkannte sie auch die Ungeduld und Unbeherrschtheit ihres Vaters. Eingekeilt zwischen dünnen Holzwänden der Toilettenkabine vernahm sie rauschende Wasserhähne und beiläufige Gespräche. Der Raum kam ihr kälter vor als der Wartesaal. Trotzdem blieb sie auf dem runtergeklappten Toilettensitz, um die Zeit verrinnen zu lassen. Im Sichtfeld nur die weiße Tür aus Sperrholz. Daneben die zerpflückte Klopapierrolle, die sich dem Ende neigte. Es hatte aufgehört zu bluten, daher schmiss sie das durchtränkte Taschentuch in die klaffende Öffnung des Mülleimers. Dumpf drang die Lautsprecherdurchsage bis zu ihr.
„Nummer 129!“
Sie würde noch hier einige Zeit verharren müssen, bis der zuständige Arzt sie ihrer Ungewissheit berauben würde. Eine gebrochene Nase konnte viele lästige Fragen in der Schule aufwerfen, der sie als schlechte Lügnerin kaum standhalten würde. Im Rausch der Gedanken musste sie an den Lieferjungen denken. Er hatte die treuen Augen eines Hundes und das schüchterne Lächeln eines Knaben, der das erste Mal eine nackte Frau zu Gesicht bekommt. Einen richtigen Freund hatte Hyuna noch nie gehabt. Es waren vielmehr kurzfristige Begegnungen gewesen, die mehr enttäuschend als erleuchtend gewesen waren. Innere Schönheit, das war nicht nur eine Phrase für sie. Denn ihre letzte Begegnung hatte sie mit einem Jungen, mit dem sie einige Male zusammen gegessen hatte. Die Kilos, die er zu viel auf die Waage brachte, störten sie nicht. Vielmehr fürchtete sie sich vor der Unsicherheit des Dicken, die schnell in Angst und Wut umschlagen konnte, daher hatte sie die Sache schnell beendet. Das Gesicht war für Hyuna nicht nur ein Sammelsurium aus Mund, Nase und Augen, sondern versuchte sie bei Fremden zunächst anhand der Mimik den inneren Seelenzustand zu ergründen. Wie konnte sie eine Person lieben, die selbst keine innere Ruhe finden konnte?
„144!“
Nun war es fast so weit. Mit einem seltsamen Gefühl verließ sie die Kabine und wusch sich am schmutzigen Waschbecken die Hände. Im dumpfen Licht der Neonlampe betrachtete sie im Spiegel ihr Gesicht. Sie sah müde aus. Trotzdem nicht unbedingt unglücklich. Die Augen waren für ihren Geschmack zu asiatisch. In der Stadt wurden die Sinne von Reklametafeln fast erdrückt, auf denen schlanke Frauen mit großen, runden Augen die Kosmetikindustrie anpriesen. Manchmal blieb sie vor einem Plakat stehen, um minutenlang die schönen Gesichter von Models zu betrachten. Um ihr schien die Welt ohne sie weiterzulaufen, während sie in einer stehenden Zeitkapsel gefangen war, mitten auf dem Bürgersteig. Hinter den bunten Bildern erstreckte sich die farbengeschmückte Betonlandschaft.
„Wie ist das passiert?“, fragte der Arzt.
„Hab in der Schule einen Basketball ins Gesicht bekommen“, log Hyuna.
Das breite, rosige Gesicht des Mannes lächelte zwar, aber drückte auch Zweifel aus. Als die warmen Finger ihre Nase berührten, zuckte sie zusammen.
„Keine Sorge. Gebrochen ist sie nicht.“
„Gut.“
Hyuna ließ