KATENKAMP UND DER TOTE BRIEFTRÄGER. Detlef Wolff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Detlef Wolff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750225398
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es nur eine Frage von Stunden, bis er ein Geständnis ablegt. Da zieht man ein sauberes Protokoll aus der Maschine, lässt den Täter unterschreiben, übergibt die Akten der Staatsanwaltschaft und betrachtet den Fall als erledigt. Aber nein - ich muss einen erschossenen Postboten kriegen! - Gut, in der ersten Meldung war nur von einer männlichen Person die Rede. Wer weiß, was unter der Notrufnummer durchgegeben wurde. Die ersten Angaben taugen meist nicht viel. Trotzdem könnten die Dinge schon klarer liegen.

      »Viel Glück«, sagte Weber. Es klang nicht sehr hoffnungsvoll.

      Klapprodt nickte Katenkamp zu. »Sie kriegen selbstverständlich jede Unterstützung.«

      Was denn wohl sonst... Aber worin konnte die Unterstützung schon bestehen? Höchstens aus zwei Kriminalassistenten, die im Bezirk des Briefzustellers nach verschwundener Post fragten. Aber wer weiß denn im Voraus, was ihm mit der Post ins Haus steht? Vielleicht war der Empfänger auch froh, einen bestimmten Brief nicht bekommen zu haben, und hielt den Mund. Und wer konnte denn mit Bestimmtheit sagen, dass es dem Täter darum zu tun gewesen war, in den Besitz eines Briefes zu gelangen? Wenn es sich nicht gerade um einen am Vortage in Hamburg aufgegebenen Brief handelte, dann konnte niemand sicher sein, dass der Postbote einen bestimmten Brief in seiner Tasche hatte... Falls Post für mich dabei war, dann hab ich sie noch bekommen, dachte Katenkamp. Unser Haus hat er noch bedient. Eine Viertelstunde später war er tot. Und ich soll seinen Mörder finden.

      »Kopf hoch«, sagte Weber. »Wir haben alle mal angefangen.«

      Ich bin kein Anfänger mehr, dachte Katenkamp. Hier handelt es sich um meinen siebten Mordfall. Sechs konnte ich aufklären. Vier als Amateur, nach dem Rausschmiss - als Warenhausdetektiv, als Privatschnüffler. Und dann zwei als Schutzpolizist. Und nun, wo ich zur Mordkommission gehöre und theoretisch genau weiß, wie man vorzugehen hat, da gerate ich an einen hoffnungslosen Fall. Keine Augenzeugen, kein Motiv... Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

      »Nur nicht ungeduldig werden«, sagte ein Beamter, den er nicht kannte. »Manchmal hilft die Technik weiter.«

      Also ein Laborfritze. Einer von denen, die nicht zu denken brauchen. Die stellen ihre Untersuchungen an und knallen einem die Ergebnisse auf den Tisch. Sieh zu, ob du damit was anfangen kannst; unsere Werte sind hieb- und stichfest. Wage nicht, Zusatzfragen zu stellen oder unsere Ergebnisse anzuzweifeln. Außerdem sind wir überlastet, sei froh, dass du die Ergebnisse überhaupt schon hast. Nein, die von der Technik leisteten schon brauchbare Arbeit. Nur wäre ihm im Augenblick ein Augenzeuge lieber gewesen. Einer, nach dessen Angaben man ein Phantombild zusammensetzen konnte. Ein Phantombild machte sich auch in der Presse gut, oder auf einem Steckbrief... Neben der Tür hing der Fahndungsaufruf nach den meistgesuchten Terroristen. Von denen besaß man sogar Fotos und erwischte sie trotzdem nicht. Na gut; die meisten hielten sich wahrscheinlich im Ausland auf. Sein Täter lief hier in Hamburg herum. Die Chancen, ihn mit Hilfe einer Phantomzeichnung zu erwischen, waren ungleich größer als die Aussichten, einen Terroristen nach einem Jahre alten Foto zu erkennen.

      »Verlassen Sie sich man nicht zu sehr aufs Labor«, sagte Weber. »Die Nase ist manchmal viel wichtiger.«

      »Ach, du!« Der Beamte von der Technik drückte eine Zigarette in Webers Aschenbecher aus. »Als ob wir dir noch nie was Gutes getan hätten. Wenn ich mal Zeit habe, suche ich alle Fälle raus, bei denen du uns fast alles verdanken konntest. Da kommt etliches zusammen.«

      »Ich hab jetzt viel mehr Zeit als du. Lass mich lieber die Gegenrechnung aufmachen«, brummte Weber.

      Weber hält nicht viel von kriminaltechnischen Untersuchungen, dachte Katenkamp. Das ist auch eine Generationsfrage. Auf beiden Seiten. Früher sind auch die Herren Verbrecher nicht so raffiniert vorgegangen. Da wusste man ungefähr, in welchen Kreisen man den Täter zu suchen hatte. Früher... Ich werde auf die Laborarbeit angewiesen sein. In ein paar Stunden werde ich wissen, wie die Tatwaffe beschaffen war; das Kaliber, vielleicht sogar das Modell. Später können sie mir sagen, aus welchem Winkel der Schuss abgefeuert wurde. Nur, wer ihn abgefeuert hat, das können sie mir nicht sagen... Sie werden auch rauskriegen, was der Tote zuletzt gegessen hat. Das könnte sogar wichtig sein, falls er irgendwo eingekehrt ist. Vielleicht hat er bei einer Imbissstube haltgemacht und Bratwurst mit Ketchup gegessen. Vielleicht hat ihn dabei jemand gesehen und auch beobachtet, dass ihm anschließend einer gefolgt ist... Vielleicht weist der Mageninhalt auch auf den Verzehr von selbstgebackenem Kuchen hin; dann könnte an der Grüne-Witwen-Theorie doch was dran sein... Vielleicht. Immer nur vielleicht. In jedem Fall lief alles auf zeitraubende Befragung hinaus.

      »Ich bin draußen in Sasel«, sagte Katenkamp und verließ den Raum.

      Heinrich Randulke. Das Namensschild unter den Klingelknöpfen des Sechsfamilienhauses sah neu aus. Wahrscheinlich erst frisch eingezogen, dachte Katenkamp. Er drückte auf den Klingelknopf über dem Namensschild. Mit einem unangenehmen Schnarrton sprang die Tür auf.

      Wenigstens ist die Familie schon benachrichtigt worden. Gut, dass ich nicht dabei war. Ich werde trotzdem mein Beileid aussprechen müssen, überlegte er.

      Im ersten Stock stand eine Wohnungstür offen. Katenkamp trat in den Flur.

      Es sah ungefähr so aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Geblümte Tapete und ein gemusterter Teppich; rechts hinter der Tür vier Garderobenhaken aus geschwärztem Eisen. Es sollte wie handgeschmiedet aussehen. An den Haken hingen drei Bügel mit gelbem Plastiküberzug.

      Ein Junge trat aus der Wohnzimmertür. »Was wollen Sie denn?«, fragte er. Es klang trotzig.

      »Kriminalpolizei.«

      Vor kurzem hast du noch geweint, dachte Katenkamp. Du bist höchstens siebzehn. In deinem Alter weint man noch, auch wenn man mit dem Alten sonst Krach hatte. Jetzt willst du mutig sein und Mutti vor zudringlichen Besuchern schützen. Im Augenblick fühlst du dich ein bisschen wie Vatis Nachfolger als Familienoberhaupt. Recht so.

      »Kriminalpolizei«, wiederholte er. »Ich muss Ihre Mutter sprechen.«

      Spätestens jetzt willst du gesiezt werden. Ich tu’s gern. In deinem Alter sollte man den Vater noch nicht verlieren. Entweder früher oder später. In deinem Alter gewöhnt man sich nicht mehr an einen Stiefvater.

      »Können Sie sich ausweisen?«

      »Selbstverständlich.« Katenkamp hielt dem Jungen seinen Dienstausweis hin.

      Der Junge nickte und trat in das Wohnzimmer zurück.

      Du wirst wahrscheinlich nie einen Stiefvater haben, dachte Katenkamp, als er die Frau in dem hochbeinigen Lehnstuhl sitzen sah. Über ihre Knie war eine großkarierte Decke gebreitet. Neben ihr lehnte ein schwarzer Stock mit breiter Krücke an dem Lehnstuhl. Die Frau saß vornübergebeugt und starrte apathisch vor sich hin. Dabei vollführte ihr Kopf leichte Pendelbewegungen.

      »Hier ist wieder jemand von der Kriminalpolizei«, sagte der Junge.

      Die Frau wandte den Kopf nur leicht. Ihre grauen Haare waren unordentlich zusammengesteckt. Aus dem blassen Gesicht sahen ihn müde Augen teilnahmslos an.

      »Wir wissen schon Bescheid«, sagte die Frau. Dann senkte sie den Kopf wieder.

      »Leider muss ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.« Er schaffte es nicht, irgendetwas von Beileid zu murmeln. Stattdessen fragte er: »Darf ich mich setzen?« Neben dieser kranken Frau auf gesunden Beinen dazustehen, das kam ihm unpassend vor.

      Die Frau reagierte nicht.

      Der Junge nickte ihm zu.

      Katenkamp schob sich in eine Ecke der niedrigen Couch und war froh, niedriger als die Frau zu sitzen.

      »Wie ist es passiert?«, fragte sie.

      »Wir wissen es noch nicht. Versuchen Sie, meine Fragen zu beantworten, nur damit können Sie uns im Augenblick helfen.«

      Die Frau nickte.

      Er zog sein Notizbuch hervor. Es enthielt noch keine anderen Eintragungen. Bei dem Fall Wagenknecht war er nur am Rande beteiligt gewesen. Martin Wagenknecht