Sie hatte sich öfter in „Chan-Chan“ aufgehalten, dem berühmten Ausgrabungsort bei Trujillo, nur etwa drei Stunden Autofahrt entfernt, sozusagen vor ihrer Haustür. Man hatte lange Zeit behauptet, es sei die älteste Siedlung der Menschheit, diese Annahme war inzwischen widerlegt worden. An eine der Antithesen war sie durch einen Artikel in einer Fachzeitschrift geraten, von einem Archäologen verfasst, der eigentlich als Maya Experte Berühmtheit erlangt hatte. Man hatte in der Fachpresse über ihn gescherzt und behauptet, er kenne sich im Dschungel und der Caracol-Dynastie besser aus als in seinem Kleiderschrank. Die Fratze des Sonnengottes, auf einem zerbrochenem Keramikdeckel aus dem fünften Jahrhundert nach Christus, fasziniere ihn überaus mehr als die schönste Frau im Land.
Es überraschte Luz, dass er ebenso kompetent aus der mesoamerikanischen Blütezeit am Pazifik zu berichten wusste, wie aus der Zeit der alten Inka. Er hatte vor Ort recherchiert und mehrere interessante Abhandlungen über Chan-Chan publiziert, während er einige Jahre ein Ausgrabungsprojekt im Süden Perus geleitet hatte. Sie stieß relativ oft auf seinen Namen, Professor Dr. Leonard Bruckner, sie war begeistert von seinen Büchern und Artikeln. Ihr großer Traum war es, eines Tages als Archäologin im Team dieses Fachmannes arbeiten zu dürfen, und sie hatte keine Scheu, das auch kundzutun. Also schrieb sie an seine Universität in Deutschland und bat um persönliche Aushändigung ihres Briefes an Bruckner. Etwa zwei Monate später bekam sie eine Antwort von ihm, mit dem Rat, sich nicht weiterhin als Grabräuberin zu betätigen, erst einmal erwachsen zu werden, sich um ein Universitätsstudium zu bemühen und sich danach, erst danach, wieder bei ihm um eine Praktikantenstelle zu bewerben. Bis dahin sei ihr Hobbyinteresse möglicherweise in der Aufzucht von Kindern erstickt.
Ein arroganter Mensch. Luz war enttäuscht, er hatte ihre Begeisterung nicht ernst genommen, nicht zwischen den Zeilen gelesen. Sie hätte nicht von ihren persönlichen Funden schreiben dürfen. Außerdem, sie betrieb doch längst eine Art Studium, wenn auch ohne gestempelte Leistungsscheine, das hatte sie erwähnt. Zweimal schrieb sie ihm noch, ohne eine weitere Antwort zu bekommen.
Ihr Wissensdurst war nicht einseitig. In Karls Bücherstapeln hatte sie ein in Englisch verfasstes Buch entdeckt, in dem ein Thema behandelt wurde, von dem sie noch nie gehört hatte. Die sogenannte Hohlraumtheorie. Damit wusste sie wenig anzufangen, trotzdem, das Wort hatte sich festgehakt und sie neugierig gemacht. Dann las sie, dass einige Polarforscher, unter ihnen auch Berühmtheiten wie Fridtjof Nansen, von einer weißen Sonne an den Polen berichtet hatten. Einer angeblich zweiten Sonne, die sie deutlich gesehen hätten.
Luz blätterte zurück, sie las die Seiten mit den Aufzeichnungen und Behauptungen dieser Forscher zweimal. Diese Leute gingen wahrhaftig davon aus, die Erde müsse hohl sein, man könne an den Polen hinein, sie beherberge sogar Lebewesen. Menschenartige? Eine verrückte Theorie!
Luz fand es indiskutabel in Erwägung zu ziehen, dass unter den tiefen Bereichen der Erdkruste, außer der ungeheuren Menge an glühend flüssigem Gestein und unmessbaren Temperaturen, Leben bestehen könne. Nichts als Magma, das hatte sie so zu sehen gelernt. So wie man vor nicht allzu langer Zeit, Stein und Bein schwor, dass die Erde eine Scheibe sei?
Nun, diese Forscher behaupteten, und das nicht nur in jüngster Zeit, dass es Eintrittslöcher an den Polen gäbe. Weite, mehr als tausend Kilometer messende Pforten, dort könne man in ein Paradies des Erdinnern gelangen, dort stecke das Paradies! Darin waren sich alle, die diese Sache vertraten, einig.
Kinderkram, dachte Luz. Gab es überhaupt ein Paradies? Außerdem, nach dieser Theorie müssten alle Planeten hohl sein, lächerlich! Sie las das nächste Kapitel, nicht weil sie daran glaubte oder glauben wollte, sondern weil es sie faszinierte, auf welch ausgefallene Ideen andere Menschen kamen und was, wenn man sich der Fantasie und dem Glauben ganz hingab, daraus gesponnen werden konnte. Was passierte, wenn sich die ganze Bandbreite, die sich daraus entwickelte, potenzierte und in alle Richtungen galoppierte. Aus einer einzigen Idee oder Vision heraus. Mit einem verrückten Funken konnte die gesamte Entwicklung plötzlich einen gewaltigen Sprung nach vorne machen. Ein Entwicklungsschritt aus einem Zweitsonnensichterlebnis am Polgebiet? Alles war möglich, man musste nur die Antennen dazu ausfahren und schon verfingen sich die Inspirationen in dem Geflecht der Erwartung. Es war einfach interessant, in das Geflecht anderer Menschen hineinzusehen. Vielleicht gab es nur ein einziges Netz dieser Ideen, die Empfängnisbereitschaft! Nur, dass jeder an einem anderen Faden zog, in eine andere Richtung zerrte, stolperte fiel oder wirklich etwas schuf, etwas Brauchbares, für andere Menschen Erkennbares, Anerkennenswertes und letztlich sogar Verwertbares.
Aus diesem Grund las sie mehr Informationen darüber, Annahmen von Wissenschaftlern, ebenso wie von Spinnern. Sie war erstaunt über die Weite der Halluzinationen in dieser Richtung. Vielleicht stellte das Nordlicht, so nahe an den Polen, den Verstand auf den Kopf? Die Unmöglichkeit des Hohlraums wegen des Magmas wurde mit der Theorie zerschlagen, dass es diese glühende Pampe nur in der etwa einige Tausend Kilometer dicken Erdkruste gäbe, auf deren Rand wir uns bewegten.
Polarlöcher? Wo blieb dann das Meereswasser, unsere Erdkugel müsste sich demnach mit Wasser füllen? Und wo käme das nötige Licht für ein Leben im Inneren der Erde her?
Da sprach man eben von dieser mysteriösen zweiten Sonne, einem gleißenden Licht aus dem Inneren, das angeblich dort gesehen worden war, wo nach fachmännischer Navigation in diesem Moment unmöglich unsere bekannte Sonne hätte stehen können, ebenso wenig eine Reflexion von ihr. Das Wasserproblem rechtfertigte man mit der Gravitation, durch die das Magma beim Entstehen der Welt an den Rand geschleudert worden sei und die auch dafür sorgte, die Öffnungen der beiden Pole vom Wasser freizuhalten. Dazu las sie, dass das simple Beispiel einer Waschmaschinentrommel im Schleudergang, das eindrucksvoll veranschaulichen würde.
Nun wusste Luz ja inzwischen, was solch ein Schleudergang mit der Wäsche anstellte. Alles wurde an den Rand geschleudert und klebte dort fest, bis es nicht mehr schleuderte. Aber die Welt drehte sich schließlich noch, und warum sollte es dieser Welt bei ihrem Entstehen im ungeheuren Schleudergang anders ergangen sein. Alles Große steckt im Kleinen, und alles Kleine enthielt das Große, dachte Luz belustigt.
Sie las und lernte mit Hingabe, Pfarrer Nestor befürwortete und unterstützte weiterhin ihren Eifer darin. Wenn sie sich über ihre Leidenschaft oder ihre Korrespondenz unterhielten, fand das ausschließlich in seinem Arbeitszimmer statt. Luz´ Mutter Begoña werkelte unterdessen versunken in der Küche, sie interessierte sich weder für diese Gespräche, noch schenkte sie den Posteingängen des Pfarrhauses Aufmerksamkeit. Da sie sich oft über den Lerneifer ihrer Tochter aufregte und seine Richtung schroff ablehnte, hielt Luz es nicht für angebracht ihrer Mutter weiterhin von den Studien zu erzählen.
Begoña vertrat die Meinung, ihre Tochter müsse selbstverständlich lesen und schreiben können, etwas rechnen und ein wenig über das Geschehen in ihrem Land orientiert sein. Sie solle auch etwas lernen, um Menschen in Not behilflich sein zu können, etwas Nützliches anstreben. Dieses ehrfurchtslose Graben in der Vergangenheit, wozu sollte das gut sein! Entehrung der Toten? Davon hielt Luz´ Mutter gar nichts, es war etwas wenig Anstrebenswertes für ein junges Mädchen. Sie solle besser ihren Wissensdurst auf die Koch- und Nähkunst richten, vielleicht den Beruf der Krankenschwester anstreben oder Schneiderin werden. Erste kleine Unebenheiten schlenderten in die Beziehung zwischen Mutter und Tochter.
Zwischenzeitlich beantwortete der Pfarrer die Fragen seines Schützlings gewissenhaft, auch wenn sie nicht ganz in sein Programm passten. Was er von diesem mysteriösen Hohlraum hielt, wollte sie wissen und fügte spöttisch hinzu, theoretisch müsste es auch Archäologen dort geben. Wieso waren die noch nicht auf uns gestoßen? Das sind sie vielleicht, antwortete der Pfarrer, aber wir wissen es nicht!“
Luz del Mar war glücklich, viel mehr