Er hatte vor einigen Jahren ein Grundstück weit außerhalb des Dorfes erworben und ein Zweizimmerhaus darauf errichten lassen. Dorthin hatte er sich zur Meditation zurückgezogen, und dort konnte er sich besonders gut konzentrieren. Damals wollte er dieses Grundstück, auf dem sogar einige Bäume standen, in Luz del Mars Namen erwerben. Da sie jedoch noch keine achtzehn Jahre alt gewesen war, ließ er sich im Privatvertrag als Vormund und Verwalter eingetragen. Dieser Wisch war nicht offiziell, doch für alle gültig. In letzter Zeit fuhr der Pfarrer nicht mehr so häufig dorthin, und er hatte seinen Augenstern, la „niña de mis ojos“, wie er Luz manchmal nannte, gebeten, sich um diesen kleinen Besitz zu kümmern. Das tat sie sehr gern, der Sonntag und manche Abende waren der Pflege dieses Ortes gewidmet. Seit Pfarrer Nestor dort kaum noch auftauchte, kam es immer öfter vor, dass Luz del Mar abends nicht bis in ihr Dorf zurückging, sondern das kleine Anwesen zur Nachtruhe aufsuchte. Sie hatte ein King-Size-Bett ergattert und es dorthin geschafft. Eine Camp-Señora hatte das Möbelstück empört abgelehnt, da eine winzige Ecke vom Holzbein abgebrochen war.
Von einem Händler, der die Familien in den Bergen regelmäßig abgraste, ihre handgewebten Decken und Wandbehänge billig erwarb, um sie im Camp für den zehnfachen Preis wieder zu verkaufen, hatte Luz zwei Teppiche und eine Alpakadecke erworben. Unter dieser Decke schlief sie in den selten kühlen Nächten.
So hatte Pfarrer Nestor sich das vorgestellt, sie sollte ihren eigenen Platz haben. Niemals würde sich eine Entfernung zwischen ihnen bilden können. Er zweifelte nicht daran, dass sich irgendwann der passende Mann einfinden würde. Bevor er aus diesem Leben schied, hätte er seine Luz gerne noch getraut und sie diesem Passenden anvertraut.
Nestor drängte Luz, eine „escritura“ zu beantragen, sie sei nun alt genug und berechtigt dazu. Sie winkte lächelnd ab, das sei unwichtig, sie wüsste ja, das Haus gehöre ihr.
Eigentumspapiere gab es selten in dieser Gegend, es wurde von Generation zu Generation vererbt oder allenfalls ein Privatvertrag gemacht, ohne Notar und die Behörden einzuschalten. Nestor blieb hartnäckig, er wollte die Einschreibung ins Grundbuch. Eine leidliche Tatsache bremste jedoch das behördliche Vorhaben im allerersten Anlauf ab. Sein Augenstern besaß keinen Identitätsnachweis. Nicht einmal eine Geburtsurkunde.
Alle Papiere, versicherte ihre Mutter immer wieder, seien damals auf der Reise verloren gegangen. Sie hatte sich nie bemüht das zu regeln. Pfarrer Nestor glaubte zu ahnen, warum es keine Papiere gab. Sicherlich kannte er Begoña nicht unter ihrem richtigen Namen, sicherlich wurde sie von der Polizei gesucht, und sicherlich hatte sie noch die Furcht, wenn ihr oder Luz´Name bei den Behörden auftauchte, nach so vielen Jahren trotzdem gefunden zu werden. Er wartete immer noch, dass sie sich ihm anvertraute. Hatte er dieses Vertrauen etwa nicht verdient?
Er rief sich zur Ordnung, diesen selbstbezogenen Gedanken durfte er nicht zulassen, er wollte sich nicht loben, nie wieder, das war Verrat an seiner Buße.
Luz del Mar besaß einzig und allein, als schriftlichen Beweis ihrer weltlichen Existenz, den Impfpass für Polio, Diphtherie und Tetanus. Außerdem gab es da noch das Zeugnis der Grundschule, mit dem Vermerk, dass sie die ersten vier Klassen mit Bravour absolviert hätte. Die Impfungen hatte der Pfarrer damals durchgesetzt, gegen den Willen der Mutter. Er war mit der Kleinen regelmäßig zu der mobilen Impfstation nach Chilete gefahren. Er besaß die nötige Autorität, seine Angaben wurden nicht bezweifelt. So kam er in den Besitz eines Impfpasses für das Kind, mit Angaben über Name, Geburtsdatum und sogar dem Ort und der Provinz versehen, wo sie das Licht der Welt erblickt haben soll. Diesen Namen hatte ihre Mutter einmal erwähnt, sollte er der Wahrheit entsprechen? Stempel und ihre Unterschriften galten sehr viel, sobald man sich nach draußen in die große Welt wagte. Das bedurfte keiner großen Reise, dazu zählte schon die nächste Küstenstadt. Man benötigte dringend einen gültigen Ausweis für Luz.
Sie hatte diesen Umstand nie wahrgenommen und war jetzt ebenfalls erstaunt, warum hatte ihre Mutter den Verlust der Papiere damals nicht direkt gemeldet? Diese Mutter schwieg zu dem Vorwurf der Tochter. Dann weinte sie.
Pfarrer Nestor wusste Rat. Es wurden Passfotos von Luz angefertigt, und er ließ sie ein paar Formulare unterschreiben, die er sich vorher hatte zuschicken lassen. Er fuhr nach Trujillo und flog von dort aus nach Lima. Er bekam sofort eine Audienz bei seinem einzigen Vorgesetzten des Landes, mit dem er auch befreundet war. Er trug den „Fall Luz del Mar“ vor, bis in alle ihm bekannten Einzelheiten und bat um Unterstützung. Diese wurde ihm zugesagt, mit der Aufforderung, sich um eine Beichte dieser Mutter zu bemühen und bei der Polizei nachzuforschen. Auch dieser hohe Kirchendiener glaubte an ein verschwiegenes Verbrechen. Dazu bat er Nestor eindringlich, doch endlich sein Amt wieder normal anzutreten. Beinahe fünfzehn Jahre tiefste Provinz seien wahrlich genug der Buße. Sein zweiter provisorischer Amtsvertreter, der erste war verstorben, hatte sich gleich darum bemüht, den Umstand nach Rom zu tragen. Er, der Kardinal, würde sich für diesen Saulus sicher nicht einsetzen. Kommen Sie zurück, meinte der Kardinal drängend. Sie sind einer unserer Fähigsten, ich fühle mich zu alt für Rom, eines Tages wird das ihr Feld sein, prophezeite er Nestor. Es ist nicht ausreichend, dass Sie sich zweimal im Monat hier zeigen oder auf Bischofskonferenzen anwesend sind und per Post und Telefon ihre Order und Entscheidungen überbringen, Sie müssen wieder vor Ort residieren. Dreimal fünf Jahre, das ist das Höchste, was ich verantworten kann, das dritte fünfte Jahr ist demnächst um.“
Dazu war Nestor noch nicht bereit, er bat um einen kleinen Aufschub. Wenn die Schuld gesühnt und besiegt ist, ich mir selbst verzeihen und mich endlich um den Schmerz kümmern kann, komme ich zurück, obwohl ich mich eines so hohen Amtes, nach Allem was ich zugelassen habe, trotz Buße, für unwürdig halte, antwortete er.
Der Kardinal entließ ihn kopfschüttelnd. Er war der Einzige, der einen winzigen Teil, nur den ersten Schritt von Nestors „Sünde“ kannte. Bei Weitem nicht die ganze Wahrheit. Und dieser kleine Teil des Wissens darüber, bewog ihn dazu, es als verzeihbaren menschlichen Fehltritt abzutun. Er nannte es sogar einen jugendlichen Fehltritt, obwohl Nestor damals, als ihn das Unheil ergriff, schon leicht ergraute Schläfen vorzuweisen hatte. Er sei wahrlich nicht der Erste und auch nicht der Letzte in diesen Reihen, behauptete der Kardinal, dem solches Versagen, der Bruch des Zölibats, unterlaufen sei.
Zwei Monate später hielt Luz del Mar ihren gültigen Ausweis in Händen und wurde vom Pfarrer zum Fernstudium für die Hochschulreife angemeldet. Sie umarmte den Pfarrer dankbar.
Alles ist zu bewältigen, wenn du am richtigen Hebel sitzt, aber für dein geistiges Gut und dein Gewissen sind alle Hebel der Welt machtlos. Ich wollte Buße tun und leiden. Und was kam dabei auf mich zu? Ich bin königlich beschenkt worden.
Ein Kuss auf ihre Stirn, und er schob sie aus seinem Arbeitszimmer. Zögernd blieb sie im Türrahmen stehen und fragte etwas, was sie sich schon sehr oft selbst gefragt und aus Respekt vor ihm, nie laut ausgesprochen hatte. Warum leitet ein weltgewandter, überqualifizierter Priester deines Alters, mit hohen Beziehungen zum Kardinal, noch immer die Seelensorge einer Horde Wilder in der hintersten Provinz des Landes?
Sie hatte niemals, seit sie ein kleines Mädchen war, Usted oder Hochwürden zu ihm gesagt, wie ihre Mutter es tat, sie duzte ihn und nannte ihn “mi tio Nestor“, mein Onkel.
Hochmut und Stolz fällt auf dich zurück, mein Kind, sie trennen dich von der Wahrheit, vom Sinn des Seins, und, niemand ist überqualifiziert, wenn es um den Dienst an der Menschheit geht. Er betonte langsam, ausdrücklich und in zwei Silben ausgesprochen, das Niemand.
Er fügte hinzu, ich wollte büßen und leiden, bis ich mir selbst verzeihen kann. Dann wurde ich mit einer Tochter beschenkt, mit dir, als hätte Gott mir schon verziehen. Wenn ich manchmal dachte, ich könnte meine Schuld nicht mehr tragen, kamst du angelaufen, fasstest mich an der Hand und zeigtest mir einen