Karl hatte bei seinem letzten Treffen mit dem Pfarrer dieses neue Empfinden und seine Verwirrung darüber, vorsichtig angesprochen. Dadurch ergab sich im Gespräch die Frage nach dem richtigen oder falschem Verhalten im Leben, dem Irrtum darin, dem Bösen und dem Guten und die daraus erwachsenen Fehler.
Der Pfarrer meinte, dass das Gute oder Böse nicht festzulegen sei, ebenso wenig wie das Richtige oder das Falsche. Einen Teufel gäbe es nicht. Man könne über Gut und Böse, Richtig oder Falsch, keine starre, absolute Norm errichten, obwohl das leider seit Menschengedenken immer wieder vollzogen würde. Das Gute und das Böse seien veränderliche Größen, deren Werte man festlegte, je nach Zeit und Bedürfnis einer Gesellschaft. Das sei eine gefährliche Wahrheit und dürfe nicht falsch verstanden werden. Doch die Gefahr, die Grundgesetze der Lebenseinstellung mit dieser Aussage zu verwirren oder die Ethik zu enthaupten, bestünde nur, wenn wir keine Klarheit und Beweglichkeit in unsere eigene, höchst persönliche Erkenntnisbereitschaft zulassen. Eine Norm sei immer vergänglich, und doch mag sie für den Moment ihrer Zeit Gültigkeit haben. Auch wenn sie das Gegenteil der ethischen Gesetze beinhaltet. Es ginge hier nicht nur um Krieg und Totschlag, um Lüge und Verrat, im Großen im Kleinen, der Gesellschaft, der Familie oder sich selbst gegenüber. Die einzige festliegende Richtlinie sei, an seinem Mitgefühl und der Bereitschaft zum Verständnis zu arbeiten. Darin zu wachsen, ohne sich dadurch erheben zu wollen, ein Mitempfinden für dieses sich windende, ringende Menschengeschlecht zu entwickeln und zu verfeinern. Mit aller Güte und Demut, die eines Menschen Kraft zulässt. Alle anderen Maßstäbe der Ethik seien separat von der Natur und der ewigen Wahrheit zu sehen, der göttlichen Wahrheit. Die Verständnisbereitschaft für Ethik, sei das Ausschlaggebende, ein Verständnis, das nicht von ständig wandelnder Erziehungsbasis ausgehe. Weniger verwirrend ausgesprochen, könne man behaupten, dass das individuelle Begehren, mit seinen meist fehlleitenden Bedürfnissen, einer untersten Stufe der Lebensrichtlinien entspräche, die fast jeder Mensch durchschreite, kurz oder länger oder im tragischen Fall ein ganzes Leben lang. Die nächste Stufe der menschlichen Entwicklung sei das Wachstum der Seele und mit ihm, das kollektive Wohlergehen. Die höchste Stufe, die ein Mensch in seiner Entwicklung erreichen könne, sei die Suche nach dem Wahren und seiner Ankunft in Gott.
Diese kleine Rede hatte Karl in Erstaunen versetzt, es waren nicht die üblichen Worte eines Priesters. Das Gespräch hatte ihn sehr beeindruckt, ebenso das gesamte Ambiente des artfremden, familiär duftenden Pfarrhauses. Karl hatte sich einer weiteren Rüstung entledigt, seiner luxuriös eleganten Aufmachung. Er hatte sich stets in dieser glänzenden, unantastbaren Schale in Sicherheit gefühlt. Man hatte auf Grund seines Outfits über ihn gedacht, was er gedacht haben wollte, das gab ihm diese allgegenwärtig anzutreffende, zweifelhafte Art von Sicherheit. Nun war seine Rüstung nicht etwa verrostet, oder er eingerostet in ihr, nein, sie war einfach aufgesprungen und hatte ihn ohne Vorwarnung herauskatapultiert. Ohne Schutz stand er da, wie eine Schneckenhaus-Schnecke ohne ihr Haus.
Das Erstaunliche daran war, dass er keinen Schmerz empfand, nicht so, als hätte die Zeit und das Geschehen ihm gewaltsam etwas aus dem Leib gerissen. Er fror nicht einmal und vermisste das lebenslang aufgebaute Rüstungswerk keine Sekunde. Ebenso war ihm die enorme Wichtigkeit des guten Eindrucks, den er bei einflussreichen oder gesellschaftlich hochgestellten Persönlichkeiten bisher zu hinterlassen bemüht gewesen war, in den Abgrund geraten. Mit dieser Wichtigkeit verhielt es sich, wie mit dem Fell des Esels.
Karl wollte noch schnell seine Wäsche aus der Wäscherei abholen, bevor er, nach einem nervenaufreibenden, langen Arbeitstag, mit einem Glas Wein auf sein Sofa plumpsen würde, um sich nicht mehr vom Fleck zu bewegen. Er hatte gerade den ersten Sperrbereich der geöffneten Schranke zum Camp durchquert, fuhr langsam hindurch, als sich ein junger Mann in seinen Weg stellte. Er trat auf die Bremse. Ein anderer Mann stellte sich an sein Seitenfenster. Man hatte den beiden Männern den Zugang zum Camp verwehrt, darüber waren sie besonders erbost und hatten ihm, in dieser ohnehin nicht freundlichen Stimmung, aufgelauert.
Karl schimpfte, sie sollten gefälligst sofort aus dem Weg gehen. Die beiden Männer öffneten schnell die Fahrertür und zerrten ihn heraus. Der Wachmann verlangte eilig über Funk, Verstärkung an. Er kannte die Männer, es waren frühere Freunde und Fußball Kameraden aus seinem Dorf. Freunde mussten nun wie Feinde behandelt werden.
Karl war kein bisschen erschrocken, nur ungehalten, weil sich nun sein Moment der Entspannung auf dem Sofa, mit den ungestörten Gedankenformationen gefüllt mit Luz del Mar, durch diese Idioten verzögerte. Was sollte das?! Er riss sich ärgerlich los und wollte zurück ins Auto. Sie boxten ihn, schlugen gegen seine Schultern und schubsten ihn in den Straßengraben. Sie schrien gemeinsam auf ihn ein.
Karl verstand kein Wort, und nachdem er einem der Beiden einen gewaltigen Tritt gegen das Schienbein versetzt hatte, mischte sich der Wachmann endlich ein. Seine Pistole allerdings ließ er im Gürtel stecken. Er half Karl auf die Beine, denn sie hatten ihn wieder umgeworfen. Entehrt, war das Wort, das sie am lautesten schrien. Dieses Wort hörte er aus dem doppelten Wortschwall heraus. Er kannte es. Hatte er nicht die Tasse mit dem blauen Henkel entehrt?
Hier aber handelte es sich nicht um eine fast vergessene Entweihung einer Tasse, sondern, wie der Wachmann in verständlicherem Spanisch mitteilte, um die Schwester dieser beiden Männer. Karl stutzte. Mit Hilfe des Wachmanns wurde ihm nun erklärt, dass er, Karl, diese Schwester entjungfert haben sollte, und dass er sich nur durch eine Heirat dem sicheren Tod durch Ganzkörperhäutung bei lebendigem Leibe, Dolchstößen, Kastration und abschließendem Erhängen entziehen könne. Niemand würde je seine Leiche finden, er hätte eine Woche Bedenkzeit. Der junge Wachmann lachte und entblößte sein fehlerhaftes Gebiss. Drei weitere Camp-Polizisten waren inzwischen eingetroffen und begleiteten die Morddrohungen mit gutmütigen, machohaften Schlägen, die auf den Schultern der jungen Männer landeten. Danach versicherten sie Karl, ein paar Dollar, und die Sache könne gütlich aus der Welt geschafft werden. Dann vertrieben sie pflichtbewusst ihre Landsleute von dem Gelände und rieten Karl beschwichtigend, er solle sich über diesen Vorfall keine Sorgen machen, der Kaffee würde nicht so heiß getrunken, wie er gebraut würde.
Während Karl ins Auto stieg, hörte er, wie ein Polizist dem anderen zurief, das sei nur die erste Drohung gewesen, noch kein Grund zum Eingreifen.
Karl war empört über die Behauptung dieser Brüder. Entjungfert und entehrt? Heiraten? Unverschämte Bande! Die waren verrückt, samt ihrer Schwester, dieser liebestollen Aushilfe. Ihm war nicht einmal ihr Name bekannt, der interessierte ihn auch nicht. Gehirnschaden durch Inzest in den Dörfern, das war ja bekannt. Er beruhigte sich schnell, am nächsten Morgen war der Vorfall für ihn vergessen.
Noch in der selben Woche wiederholten sich Blockade und Drohungen. Karl hätte beinahe einen der Brüder, der sich ihm in den Weg gestellt hatte, überfahren. Dieser warf sich im letzten Moment, als er bemerkte, dass Karl nicht gewillt war anzuhalten, zur Seite. Er streifte sogar mit seinem Arm das Auto. Oder streifte das Auto ihn? Die Flüche vernahm Karl nicht mehr, er sah nur im Rückspiegel die wütenden Drohungen des einen Mannes. Der zweite wand sich vor Schmerzen und hielt seinen verletzten Arm an den Leib gepresst.
Die Brüder waren sich einig, nun warf man Karl zusätzlich das Vergehen der vorsätzlichen Verletzung mit Fahrerflucht vor. Doch zuerst musste man die erstrangige Forderung in Ordnung bringen, dagegen war die Fahrerflucht lächerlich preiswert.
Das Lehrer Ehepaar
Luz del Mar war zurück im Camp. Sie hatte ihren Abstand zu Karl deutlich verringert, vielleicht wegen seiner Besuche im Pfarrhaus, vielleicht wegen ihrer langen Abwesenheit? Vielleicht hatte auch sie ihn vermisst? Karl wusste es nicht, das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Mit atemberaubendem Glücksgefühl saß er an ihrer Seite am Steuer seines Pickup und sprühte zusätzlich vor Unternehmungslust und Hoffnung auf ein Erleben mit ihr. Er wollte ihr ein unvergesslich schönes Wochenende bieten. Schon alleine, dass sie zugestimmt hatte, mit ihm ans Meer zu fahren, bedeutete, dass sie seine Anwesenheit nicht mehr fürchtete.