Durch einen Dienstboten, aus dem Haus des Schwagers, erfuhr der junge Mann, auf Grund vorsichtiger, wie beiläufig geführter Nachfragen, dass sein Geliebter im Sterben läge. Er hätte mit seinem Anliegen, Nestor besuchen zu wollen, keinen Einlass in die Gemächer des Schwerkranken erwirkt. Außerdem bestand die Gefahr, ihn dadurch zu kompromittieren. Also verfiel der Mann in seiner Panik, ausgelöst durch den Gedanken eines drohenden Todes, auf keine bessere Idee als die unsinnige, sich als Klempner auszugeben.
Er gelangte in das Haus, das er ein wenig durch Nestors Beschreibungen kannte und fand auf abenteuerliche Weise ins obere Stockwerk ins Schlafgemach. Der Kranke war bei Besinnung. Freude erhellte seine müden Augen. Doch dann zog sich sehr schnell die Besorgnis darüber, die Furcht vor dem Entdecken der Wahrheit. Obwohl ihm der nahe Tod bewusst war, fegte die Wichtigkeit seiner kirchlichen Würde mit der gefährdeten Stellung durch die Freude. Als seien er und sein Versagen unsterblich, und er müsse den Imageverlust und das befürchtete Verlassen der greifbaren, glänzenden Spitze mit in die Hölle nehmen. Dieser Gedanke war schlimmer als die Hölle.
Der gefährliche, geliebte Besuch erregte ihn so sehr, dass er einen Hustenanfall mit blutigem Auswurf nicht zu verhindern vermochte. Lautes Getöse. Der Geliebte nahm ein Kissen zur Hand, beugte sich über Nestor, um ihm zur Erleichterung das Kissen in den Rücken zu schieben und küsste ihm vorher liebevoll die Stirn. Dieser letzte Kuss sollte Nestor lange in Erinnerung bleiben.
Als seine Schlafzimmertür eilig aufgestoßen wurde, eine Krankenschwester, der Arzt und ein Hausangestellter in den Raum gestürmt kamen, schwebte das geliebte Gesicht immer noch über ihm, mit dem Kissen in der Hand. Man überwältigte den erschrockenen Kissen-Mann sofort. Zu dritt stürzten sie sich auf ihn und schafften ihn mit Tritten und Schüben schnellstens aus dem Raum. Andere Hausangestellte kamen zur Hilfe. Nestor erhaschte noch einen letzten flehentlichen Blick seines Liebsten. Der Arzt blieb und gab ihm eine Spritze.
Da sich in diesem Raum ein Tresor befand, der mit Dingen, von erheblichem Wert gefüllt war, allen Menschen im Haus war das bekannt, und da der Mann verdächtiges Werkzeug bei sich getragen hatte, wurde er unter Verdacht des geplanten Mordes und Raubes von der Polizei abgeführt. Man unterstellte ihm, er hätte sein Opfer mit dem Kissen zu ersticken vorgehabt, als gerade die Helfer, welche wenig später als vertrauenswürdige Zeugen willkommen geheißen wurden, hereinstürmten. Niemanden wäre je etwas anderes in den Sinn gekommen. Nestor war über jeden Verdacht erhaben. Er schwieg. Sein Liebster schwieg ebenfalls und wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.
Nestor verfolgte den Prozess und erfuhr die Verurteilung nicht nur aus der Zeitung. Alle gratulierten ihm. Er wurde gesund, und er schwieg weiterhin. Dann nahm er seine Arbeit wieder auf, die ihm allem Anschein nach, was ihm Tag und Nacht Übelkeit verursachte, mehr bedeutete als das Leben eines geliebten Menschen. Er stand kurz vor den Toren des Bischofsamtes. Das Judasmal rumorte in ihm, fraß an seinen Seelenwänden. Nach drei endlos lang erscheinenden Monaten entschloss er sich zu einem Besuch im Gefängnis. Dort teilte man ihm mit, der Bösewicht hätte sich in der vergangenen Nacht in seiner Zelle erhängt und übergab ihm einen von der Zensur geöffneten Brief, an ihn adressiert.
„Am Ende zählt nur die Liebe“ stand dort. Niemand von der Zensur hatte mit diesen Worten eines verrückten Kriminellen etwas anfangen können. Nestor litt höllisch. Doch die Tragik fand kein Ende, der tote, schweigsame Freund hatte nicht vollends geschwiegen, sondern seiner Frau, die ihn regelmäßig besucht hatte, in einem zweiten Brief ein Geständnis hinterlassen. Und zwar, seine Liebe zu einem Mann und das seit Jahren bestehende homosexuelle Verhältnis. Den Namen dieses Mannes hatte er nicht erwähnt.
Diese Wahrheit bin ich dir schuldig, hatte er geschrieben, ich wollte dir niemals Schmerz zufügen, obwohl ich weiß, dass ich es nun tue. Mit diesem Geständnis, das mir leider nicht eher gelungen ist, hoffe ich wenigstens zu erreichen, dass du dich leichter emotionell von mir lösen kannst, mich vielleicht hassen kannst, um eine neue Liebe zu finden. Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst, ich habe dich, so unglaubwürdig es jetzt für dich klingen mag, immer geliebt und geachtet, aber du hast mehr verdient als das, was ich dir geben konnte.
Er sei lebensunfähig und es bliebe ihm nur noch dieser einzige letzte Weg. Mit einigen Zeilen für die Kinder und dem Bedauern ihnen wehtun zu müssen, hatte er den Brief beendet. Er hatte seine Frau allerdings nicht von dem Schuldspruch der Welt und des Richters befreit. Zu der Annahme, dass er ein Dieb war und sein Opfer töten wollte, war nun noch die Homosexualität beigefügt. Das war mehr als diese Frau zu tragen bereit war.
Nestor erfuhr von diesem Brief erst, als man ihm berichtete, dass die Frau eine Woche nach dem Tod ihres Mannes, tot aufgefunden worden war. Der Brief war von der Polizei entdeckt worden. Warum hatte sie diesen unnötigen Brief nicht einfach vernichtet, war Nestors erster Gedanke gewesen, und es war der letzte unpassende Gedanke in seinem Leben.
Die frische Witwe hatte sich und ihre beiden Kinder, in ihrem Schmerz und Wahn, vergiftet. Sie hatte ihre Ehre und die der Familie somit wieder herzustellen geglaubt. Ehre und Schande, zwei Begriffe, die sich in ihren Kreisen in beängstigender Nähe, untrennbar gegenüberstanden, sie hatten ihr als Spitze der Orientierung gedient. Es galt, das Eine nach Außen ersichtlich zu verteidigen und das Andere, für dasselbe Außen, nicht sichtbar werden zu lassen. Dafür war es, im Fall der verzweifelten Frau, zu spät gewesen. Sie fürchtete für sich und ihre Kinder den gesellschaftlichen Untergang mehr als ihren weltlichen.
Für das Mädchen und die Mutter kam jede Hilfe zu spät, der Junge hatte überlebt, er hatte sich mehrmals erbrochen und war rechtzeitig aufgefunden worden. Natürlich kümmerte Nestor sich im Namen der Kirche um diesen Jungen, den er nie zu Gesicht bekommen hatte. Zumindest nicht bis heute. Es waren großzügige Überweisungen an die Großeltern des Jungen getätigt worden. Spätere Gelder, für ein Studium der Rechte, wurden ebenfalls über einige Schleichwege von privaten Konten der Nestor-Familie abgebucht. Den Frieden konnte Nestor sich damit nicht erkaufen. Er hatte sich für die Buße entschieden.
Nun verstehst du es, mein Kind, flüsterte Nestor müde, egal was ich noch versuche zu bereinigen auf dieser Welt, es wird niemals genug sein. Es gibt keine Sühne für mein Vergehen, wer sollte mir auch verzeihen, wenn ich es selber nicht kann. Ich habe die mir gestellte Probe Gottes, du nennst es Schicksal, nicht bestanden.
Luz del Mar hatte schweigend zugehört. Sie hätte sich hierzu niemals ein Urteil erlaubt und hatte auch nicht das Verlangen zu urteilen. Da gab es nichts hinzuzufügen, sie dankte ihm für das Vertrauen in sie.
Es gibt einen Menschen, den du um Verzeihung bitten solltest, sagte sie, und du weißt es. Meinst du nicht, es ist an der Zeit, das zu tun? Dieser Jemand ist längst alt genug, um dich anzuhören. Ich hoffe es hilft dir, etwas ausgesprochen zu haben, was schwer in Worte zu fassen ist und das wie Blei auf deiner Seele lastet. Als empfindsamer Mensch kannst du nicht endlos nur den ganzen Müll der Anderen tragen. Auch deine eigene Schmutzecke musste mal gelüftet werden. Sie lächelte kaum merklich und richtete seine Kissen.
Luz del Mar war glücklich, sie lebte voller Wissensdrang, arbeitete, sang und lernte, und jeden Tag freute sie sich über hundert kleine und einige große Gefühle. Das war ungerecht, es gab so unendlich viele Menschen, die immerzu im Unglück lebten. Warum ging es ihr so gut, womit hatte sie das verdient? Hatte es mit der Entfernung zu den meisten ihrer Mitmenschen zu tun, mit dem Abstand, den sie zu ihnen hatte? Abstand zu deren Meinungen, Gefühle und Sorgen. Barg das Unglück der Anderen etwa eine Ansteckungsgefahr?
Obwohl, in Nestor nistete ja auch noch das Unglück, auch wenn es uralt war, es lebte. Sie fühlte echte Anteilnahme, es bekümmerte sie, aber es verdunkelte nicht ihr Gemüt, es machte sie nicht unglücklich. Wenn sie sah, wie ein Kind gestolpert war und sich das Knie verletzt hatte, konnte sie es liebevoll in den Arm nehmen und die Schotterkrümel vom Knie pusten. Das war eine neue Erfahrung für Luz, denn die ausländischen Camp-Kinder ließen sich von ihr anfassen, sie schreckten nicht vor ihr zurück oder liefen panisch davon.
Sie hoffte bald wieder ins Camp gehen zu können, trotz der Sorge um Nestor, vermisste sie den Tagesablauf dort. Sogar der Ingeniero fehlte ihr und seine ungeschickte Art, mit der er sich bemühte seine Zuneigung