Teppichboden, wie ihn heute niemand mehr hatte – graubraun gesprenkelt, sorgfältig gepflegt, aber verdammt alt. Wenige Möbel; ein schwarzes Sofa, ein schwarz lackiertes Regal voller Bücher, DVDs, CDs und Ordner und ein weiteres halbhohes Regal mit Kompaktstereoanlage, Fernseher und DVD-Player, darüber ein schwarz gerahmtes Foto, machten anscheinend den Wohnteil aus, ein eher kleiner weißer Tisch mit zwei Stühlen schien abwechselnd den Essbereich und das Arbeitszimmer vorzustellen.
Er betrachtete sich das Foto näher – eine belanglose Straßenszene aus den späten Siebzigern, wenn man aus den dicht an dicht geparkten Autos Schlüsse ziehen konnte. Nach Leisenberg sah es nicht aus – vielleicht war das Foto aus München? Die Autokennzeichen waren nicht zu erkennen, und das Foto begann bereits zu vergilben.
Alles war tadellos aufgeräumt. Anne sah sich in der Küche um und öffnete dann den Schrank unter dem blank geputzten Spülbecken, wo sich tatsächlich ein kleiner Stapel Plastiktüten befand. Sie drückte Felix zwei in die Hand und fuhr fort, die Schränke in der Küche zu inspizieren.
Felix verließ sie und trat durch den Durchlass ins Schlafzimmer.
Genauso bescheiden. Schwarzes Bett, neunzig breit, schwarze Schränke, zwei Stück, ein weißer Klappstuhl. Felix öffnete die Schränke. Sehr übersichtlich! Viel Kleidung besaß Emma Wiesner offenbar nicht, allerdings gute Stücke, wie man den Etiketten entnehmen konnte. Er packte hastig etwas Wäsche (Seide!), Socken, ein Nachthemd, zwei Sweatshirts und ein Paar graue Jeans zusammen und stopfte alles in die beiden Tüten. Über Knitterfalten würde sie sich in ihrer Zelle wohl kaum aufregen.
Das Schlafzimmer sah belanglos aus, karg, aber ordentlich. Nicht ärmlich, aber asketisch. Er wollte ja ohnehin nicht nach einer Mordwaffe suchen (so ein Blödsinn!), sondern ein Bild von der Wiesner gewinnen.
Komische Frau.
Wie eine Zeitreisende aus dem späten Zweiten Weltkrieg. Glaubte anscheinend nicht an den Rechtsstaat und lebte, als könne sie täglich ausgebombt werden. Er entdeckte neben den Schränken eine Reisetasche. Leder und Canvas, in sattem Braun und schon etwas bejahrt. Also packte er die Plastiktüten um, musterte noch einmal das Schlafzimmer (Bett, zwei Schränke, ein Stuhl – nicht einmal ein Nachttischchen. Nur eine kleine Lampe über dem Kopfende. Und ein sehr dezenter blassblauer Bezug mit einem schmalen weißen Streifen. Nichts sagend, aber feinster Makosatin, das sah er schon am Schimmer. Insgesamt trotzdem ein karges Ambiente) und wandte sich dem kleinen Bad gegenüber der Eingangstür zu.
Die lavendelblauen Kacheln erschlugen ihn fast. Jöi, war das blau!
„Hui!“, machte Anne hinter ihm. „Das nenn ich mal blau. Gibt dem Wort eine ganz neue Bedeutung. Die arme Frau, jeden Morgen dieser optische Knockout…“
Felix lachte. „Ich wäre nach drei Tagen reif für die Klapse. Vielleicht hat sie deshalb…“
„Was? Ihre Rivalin umgelegt? Einen an der Waffel? Sich so schnell im Knast wohl gefühlt?“
Öha. Anne Malzahn auf dem Kriegspfad? Immer bereit, in schwesterlicher Solidarität alle Kerle zur Ordnung zu rufen?
„Am ehesten noch einen an der Waffel“, gestand er schließlich und versuchte, sich nicht instinktiv zu ducken. Anne starrte ihn an oder besser gesagt durch ihn hindurch. „Merkwürdig ist sie wirklich. So…. genügsam. Schicksalsergeben. Was die wohl alles schon erlebt hat…“
Felix war sich nicht sicher, ob alle merkwürdigen Gestalten Schicksalsschläge hinter sich haben mussten. Konnte es denn nicht sein, das manche einfach so ein bisschen durchgedreht waren? Und war die Wiesner durchgedreht oder bloß ein kleines bisschen seltsam wie doch im Endeffekt praktisch jeder?
Wie sollte er das entscheiden, wenn er die gute Frau gerade einmal gesehen hatte? Aber einen an der Waffel hatte sie wirklich.
Anne sammelte rasch die notwendigsten Kosmetika zusammen, warf auch noch ein Päckchen Tampons in die Plastiktüte und alle Pröbchen, die sich in einem kleinen silbernen Gitterkorb auf der Ablage über dem Waschbecken befunden hatten, dazu. „Kann sie den Krempel endlich mal aufbrauchen. So ordentlich, wie´s hier ausschaut, wundert es mich sowieso, dass sie solches Zeug geduldet hat. Ich glaube, sonst hat die nichts Unnützes im Haus. Sogar in der Küche, Mensch!“
„Wieso?“, fragte Felix leicht zerstreut, weil er gerade feststellte, dass die schlichten cremefarbenen Handtücher zwar preiswert wirkten, aber extra dick und weich waren.
„Keine längst abgelaufene Kuchenglasur, kein uralter Senf im Kühlschrank, nur zwei Putzmittel unter der Spüle, keine vergammelten Tupperdosen, kein schimmeliges Gemüse… Ich bin ganz blass vor Neid. Wie macht die Frau das?“
„Keine Ahnung. Bei mir gibt´s jede Menge verschimmeltes Gemüse. Mehr Putzmittel hab ich zwar auch nicht, dafür aber einen Meerrettich, der ist – ich glaube, der ist noch aus dem vorigen Jahrtausend.“
„Das klingt allerdings auch eindrucksvoller als es ist“, fand Anne und zog den Schlüssel aus dem inneren Schloss. „Können wir?“
„Natürlich. Ich würde auch gerne noch selbst bei diesem Halbritter vorbeischauen. Der kommt mir langsam etwas seltsam vor.“
„Ist er auch. Der Eichinger hat ihn mal im Präsidium gehabt. So ein Traumtänzer. Und ein bisschen muffig, fand ich. Ganz hübsch, aber die Sorte, die etwas – naja, sagen wir – unfrisch wirkt.“
„Äh“, machte Felix. „Ich wollte ihm eigentlich zu Hause auflauern, aber wenn er so ein Ferkel ist… Brauche ich eine Gasmaske?“
„So arg war´s jetzt wieder auch nicht“, wiegelte Anne ab, ließ Felix in den Flur treten und schloss die Tür ab.
„Sie! Was machen´S denn da?“
Eine Stimme wie eine Stiegnhausratsch´n aus einer Sitcom. Beide fuhren herum und standen vor einem jungen Mädchen. Schwarze Locken, leuchtend blaue Augen, ein anbetungswürdiges Gesicht – und ein Putzkittel wie aus einem Wäschekatalog aus den sechziger Jahren, kleingeblümt mit weißen Aufschlägen. Adrett, fand Felix, das passende Wort war adrett.
„Wenn´S Eana fei net glei schleicha, hoi i d´Polizei!“
„Is scho da“, verfiel auch Anne etwas mühsam ins Bayerische und klappte ihren Ausweis auf.
Die Treppenhaussirene seufzte und stellte ihren Wäschekorb ab. „Was wolln´S denn jetzad wieder? Sie ham d´Emma doch eh scho verhaftet, obwoi s´es gar net gwesn sei ko.“
„Wieso denn nicht?“
„D´Emma macht so ebbes net. Und i hob´s ogruafa, zu der Zeit. Zwengs dera Treppn da.“
„Moment“, versuchte Felix der Fakten Herr zu werden. „Sie haben mit ihr telefoniert? Zur fraglichen Zeit? Wieso das denn? Sind Sie so gut befreundet?“
„Schmarrn, befreundet“, imitierte die Nachbarin spöttisch das hochdeutsche Wort. „Putzn hätt´s hoit müssn. De Treppn!“ Zur Erklärung wies sie den lavendelblauen Flur entlang auf die Travertinstufen. „Des Stockwerk, sonst nix. Sie hat´s halt vergessen, und ich hab´s aufm Handy angrufen. Sie hat gsagt, sie is mit dera Arbeit glei fertig und dann kommt´s heim und putzt.“
„Und, hat sie´s gemacht?“, fragte Anne.
„Ja. Net recht gründlich, aber des macht hier keiner gscheit. Aa scho wurscht.“
„Haben Sie bei diesem Telefonat irgendwelche Hintergrundgeräusche gehört? Spielende Kinder, Vogelzwitschern, Kirchenglocken, Stimmen?“
Das schwarzhaarige Hausfrauenideal runzelte die Stirn. „Stimmen… Naa. A Telefon hat g´litten. Und a Brummen hab ich ghört. Und die Emma hat sich an Kopf anghaut und gestöhnt. Und – ja, a Dia hat klappt und oana hat gsagt „Ham´S es bald?“ Sonst war nix.“
Anne seufzte, Felix war nicht unzufrieden. „Hat Sie denn noch niemand danach gefragt?“