… Was ist? Ich bin nun mal nicht gut im Trösten. Meine Kinder haben nie geweint. Die Zwillinge brachten eher andere zum Weinen, Jule war eine geborene Frohnatur und Mara hatte das säuerliche Wesen ihrer Mutter geerbt. Im Grunde bereue ich den begangenen Mord an Seraphim nicht. Ich dachte, damit tue ich etwas Gutes. Das einzige Übel, das daraus erwuchs war, dass meine gesamte Familie unter den Folgen meiner Tat leiden musste. Und nun heulte Cedric wie ein Schlosshund, wobei ich befürchtete, dass er sich gänzlich in blutige Tränen auflösen würde. Schnell reichte ich ihm mein Taschentuch.
»Ja, was soll ich sagen? Ach, lass es einfach raus. Dennoch solltest du nicht vergessen, dass er dich in den Kerker werfen ließ und anschließend noch ein paar Mal versuchte, dich umbringen zu lassen.« So tätschelte ich ihm abermals die Schulter.
Als er meine Worte verinnerlichte, stoppte er sofort die Aktion und überlegte, was mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam.
»Oh, ja! Das stimmt. Er war ein ganz böser Mann und hat vielen weh getan! Wenn ich es mir so überlege, dann ist es gar nicht so schlimm.«
Zur Versöhnung reichte ich ihm eine Flasche Hochprozentiges. Im Gegensatz zu menschlichen Speisen, zeigte der Alkohol eine beruhigende Wirkung auf den Kleinen. Okay, jetzt werden wieder ein paar Moralapostel entsetzt auf brüllen, dass man Kindern keinen Alkohol geben darf. Aber im ernst. Cedric war über 600, damit eindeutig kein Kind mehr!
Nachdenklich schüttelte ich den Kopf, als er sich die hochgeistige Flüssigkeit wie Wasser in die Kehle goss.
»Kannst du dich noch an das letzte Datum erinnern? Und eine ganz wichtige Frage. Wohin sind Mala und die Kinder gefahren?«
Wenn ich wenigstens wüsste, wo ich die Gräber meiner Frau und der Mädchen finden konnte, wäre es für mich ein schwacher Trost sie umbetten zu lassen.
»Du warst noch nicht lange tot, höchstens ein paar Tage. Ich kann mich genau an eine Insel erinnern. Ja, wir wollten nach England fahren. Doch Rahan weinte und wollte nicht dort hin, weil es dort so hässliche Frauen gab. Gungnir sagte, die Engländer wären ohnehin alle schwul und dort gäbe es nichts mehr zu holen, weil die Wikinger schon alles abgeräumt hätten. Dann fuhren wir weiter, auf eine andere Insel. Da gab es nette Leute mit roten Haaren. Sie tanzten immer so im Kreis, zu Flöten- und Harfen-Musik. Dazu kam noch die wirklich lustige Sprache. Es war wie im Himmel, echt schön dort. Irrenland, oder so. Gungnir sagte, dass wir über Eisland und Grünland nach Vinland fahren wollten, da gäbe es einen Landstrich, der Manahatta hieß. Dort haben alle Menschen rote Haut und schwarze Haare. Sie seien friedlich und nur böse, wenn man ihnen Milch zu trinken gibt. Deshalb ließen wir auch die Kühe zuhause«, berichtete Cedric aufgeregt und nahm noch einen Schluck.
Vor meinem geistigen Auge erschien ein Schiff, beladen mit meinen Lieben, und ihren Haustieren, die wild diskutierten (aber nicht die Haustiere!) und Mala mich mit verkniffener Witwenmiene, bis in alle Ewigkeiten verfluchte. Rahan heulte, weil die Engländerinnen in seiner Fantasie alle gruselig aussahen. Das verstehe ich nicht, er liebte doch sonst Wesen mit Pferdegesichtern. Warum, in alles auf der Welt, wollten sie überhaupt zu den bekloppten Engländern? Dabei pflegten wir doch die besten Verbindungen in den Osten. König Hogarth, für den ich kurz tätig war, hatte sogar die Patenschaft für meine Tochter Jule-Thuja übernommen. Wieso schipperten sie auf dem Meer herum und wollten in ein Land, das einer Wikingerlegende entsprang? Wahrscheinlich war jedes Land am Ozean alarmiert, um nicht diese Arche des Grauens landen zu lassen. Offensichtlich war diese Seereise maßgeblich an der schnelleren Entwicklung der Seemine beteiligt. Aber da ich den Lord ermordet hatte, war durch mein Handeln Malas politischer Einfluss auf Null gesunken, und somit war sie für die Gegner des Lords uninteressant geworden.
Übrigens gab es Vinland wirklich, nur wurde es ein paar Jahre später Amerika genannt. Und Manahatta okkupierte der holländische Gesandte Pieter Stuyvesant und taufte es in New Amsterdam, das spätere New York, Manhattan. So wie es scheint, hat Gungnir zwischenzeitig sein Ziel erreicht, er residiert jetzt geschäftlich in der Fifth Avenue.
Noch etwas zu den Ureinwohnern: Viele Naturvölker vertragen keine Milch, haben eine Laktose-Intoleranz. Kein Wunder, dass die Natives einen Kriegstanz aufführten, wenn man ihnen den Kuh-Euter-Saft kredenzte. Sie dachten wohl, die Nordmänner um Leif Eriksson, wollten sie vergiften.
Und nun kam die alles entscheidende Frage.
»Cedric, wenn die anderen angeblich nach Vinland gefahren sind, wieso habe ich dich als vertrocknete Mumie aus diesem Ausstellungskasten gefischt?«, hakte ich nach.
Mein Schwager sah mich verwirrt an und kratzte sich ausgiebig am Kopf. »Oh, ja, genau. Ich fuhr gar nicht nach Vinland. Also, das war ganz seltsam. Jemand zog an mir, so war es. Vielleicht hatte ich Heimweh. Ich sagte den anderen Nordmännern, dass ich dringend weg müsste. Da bin ich mit ihnen zurückgefahren. Dann war da diese Stimme, und so ein Schatten. Ganz genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern, doch es war so dunkel und ich war schrecklich hungrig, nein durstig. Ragnor? Das macht mir irgendwie Angst. Wo ist Cornelius, und warum heißt er jetzt Sal? Ist das eine Abkürzung für Saline?«
Tröstend legte ich ihm meine Hand auf die Schulter.
»Ist schon gut, wir werden herausfinden, was mit dir geschah. Nein, nicht für Salino, sondern Salvatore, was ich ebenfalls für eine Geschmacksentgleisung halte.«
Wenn ich kein Auge auf Cedric werfen konnte, musste er immer Mist bauen. Dabei hatte er mich gerade um ein paar Tage überlebt. Trotz der Fülle der Informationen waren die verwertbaren Fakten nicht gerade ergiebig. Mir war es kaum möglich, meine Enttäuschung zu verbergen.
»Hör zu, während wir sechshundert Jahre weg vom Fenster waren, wandelte Cornelius weiter auf diesem schönen Erdenrund und hat viele Leben gelebt. Leider gibt es nicht mehr so viele Vampire, wie vor dem Tod des Lords. Und deshalb leben wir alle, mehr oder weniger, getarnt unter den Menschen. Deshalb trage ich auch Kontaktlinsen und keine Hörner mehr. Du musst deine Aura verbergen und dich so gut wie möglich anpassen. Cornelius heißt jetzt Sal Ormond, weil er ein anderes Leben führt, als er es vorher tat. Du darfst niemanden verraten was du, ich und Sal sind. Deshalb fehlen auch meine Hörner und durch das spezial-behandelte Blut, das wir trinken, bekommen wir sogar eine gesunde Hautfarbe.«
Vielleicht waren Cedric diese Umstände noch gar nicht aufgefallen. »Was? Oh nein! 600 Jahre? Oh ja! Du siehst sehr gesund aus. Genau, deine Hörner sind weg. Ich dachte, du hättest sie jemanden geliehen, und der brachte sie nicht wieder. Das muss ein richtig tolles Blut sein, wenn es dich so gesund macht!«
»Das Blut ist von einer Firma, die Guni-Med heißt. Ich will nur mal wissen, wer sich so einen dämlichen Namen ausdenkt«, bemerkte ich kopfschüttelnd.
»Sag mal, wenn ihr Dämonen jagt, dann werdet ihr mich auch bejagen? Du weißt doch, auch ich bin ein halber Dämon!«, fragte er entsetzt.
»Nein, wir würden dir niemals etwas antun, es sei denn, du tötest einen Menschen. Unsere Organisation ist nun einmal dazu da, die Menschen vor bösen Dämonen und Monstern zu beschützen, die den Menschen schaden wollen.«
Schon damals war die Barriere von der Dämonendimension zur diesseitigen Welt porös und brüchig. Doch jetzt schien sie eindeutig hin zu sein.
Mein kleiner Freund war so entsetzt, dass er sich einen volle Flasche Gin hinter die Binde goss und verwirrt den Kopf schüttelte. Für ihn war das alles zu viel. Eigentlich konnte ich froh sein, nicht persönlich für die Rechnung der Getränke aufkommen zu müssen. Nur, dass das Hotelpersonal mir den Ruf eines unheilbaren Trunkenbolds andichten würde, wollte mir nicht so recht zusagen.
Nachdem er seine dritte Flasche geleert hatte, wurde Cedric allmählich lockerer. »Also 600 Jahre sind vergangen! Cornelius heißt jetzt Sal und sieht anders aus. Wie sieht er aus? Hat er jetzt Hörner? Er hat deine Hörner geklaut und ich muss meine Aura verbergen, weil es nicht mehr so viele Vampire gibt? Warum eigentlich?«, fragte er mich und griff sich die vierte Flasche. Gut, nach 600 Jahren hatte er auch ein Recht darauf. Wenigstens war das Glück auf seiner Seite, und er musste nicht mit Betäubungsmitteln vollgepumpt, mit Riemen auf eine Liege geschnallt, erwachen – So wie es bei mir der Fall gewesen war.
»Tja