Smilla gab ihr einen Kuss auf die Stirn, „Vielen Dank, Irmchen, aber heute habe ich keine Zeit zum Frühstücken. Die Arbeit ruft, ich muss gleich los.“
„Du musst aber unbedingt etwas essen, Kindchen, sonst kannst du nicht richtig denken. Ich werde dir eben schnell ein paar Sandwiches für unterwegs fertigmachen.“
Da ihr Magen bereits eindringlich rumorte, nahm Smilla das Angebot dankend an, „Das ist lieb von dir, ich springe in der Zwischenzeit kurz unter die Dusche.“ Nachdem sie sich vom hart erarbeiteten Schweiß befreit hatte, schlüpfte sie in Jeans und T-Shirt. Danach folgte der rituelle, überaus kritische Blick in den Spiegel. Vor ihr stand eine fast vierzigjährige, schlanke Frau mit kurzen strohblonden Haaren, stahlblauen Augen und einem entzückenden Schmollmund. All diese Attribute, inklusive der für ihren Geschmack viel zu üppigen Oberweite, hatte sie ohne jeden Zweifel ihrer schwedischen Mutter zu verdanken. Der optische Beitrag ihres deutschen Vaters hielt sich deutlich in Grenzen. Doch das spielte im Moment keine wirkliche Rolle, ihr Anblick erfüllte die gestellten Anforderungen und stimmte sie äußerst zufrieden. Da die Zeit inzwischen drängte, suchte sie eilig ihre Sachen zusammen. Keine zehn Minuten später lenkte sie ihren roten Mini Cooper Richtung Umgehungsstraße.
***
Der große Perlweiher lag, eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft, ein ganzes Stück außerhalb der Stadt. Als Smilla am Fundort eintraf, war dieser bereits großräumig abgesperrt und die anwesenden Kollegen wirkten allesamt sehr beschäftigt. Tiberius Preussner winkte sie zu sich rüber. „Ich muss dich warnen, Chefin, das Opfer bietet keinen schönen Anblick. So wie es aussieht, hat sie kurz vor ihrem Tod noch eine ganze Menge durchgemacht.“
Smilla hockte sich neben die junge Frau, um das Szenario genauer zu betrachten. Ihr vollkommen nackter Körper war mit blauen Flecken, Striemen und Schnittwunden übersät. Darüber hinaus gab es noch deutliche Fesselspuren an Fuß- und Handgelenken. Irgendjemand hatte seine niederen Instinkte auf übelste Weise an ihr ausgelebt und sie dann anschließend wie ein Stück stinkenden Müll entsorgt. Dieser sichtliche Wahnsinn und die unglaubliche Grausamkeit ließen Smilla regelrecht erschaudern. „Wissen wir schon, wer sie ist?“
„Paula Hankenfeld, einundzwanzig Jahre alt und Studentin der Medizin. Ihre Mitbewohnerin Erin Porschke hat sie vor zwei Tagen als vermisst gemeldet“, der mittlerweile knapp sechzigjährige Tiberius kämpfte mal wieder verzweifelt mit seinem Smartphone, „wie ich diese verdammten Dinger hasse.“ Nach einigen komplizierten Fingerübungen erreichte er endlich das angestrebte Ziel, „Hier ist ein Foto aus besseren Tagen. Bei der Linken handelt es sich um unser Opfer, die andere ist die bewusste Mitbewohnerin.“
Smilla blickte in das Gesicht einer augenscheinlich glücklichen jungen Frau. Sie sprühte regelrecht vor Lebenslust, was Smillas Wut gegen den Täter ordentlich schürte. Noch einmal saugte die Kommissarin jedes Detail in sich auf. Das getrocknete Blut an der Innenseite ihrer Schenkel sprach Bände. „Paula wurde definitiv sexuell missbraucht. Sobald der Obduktionsbericht vorliegt, will ich ihn auf meinem Schreibtisch haben.“ Sie begab sich wieder auf Augenhöhe mit ihrem Kollegen und fixierte ihn mit ernster Miene, „Das hier ist das Werk eines regelrechten Monsters und wir werden alles daran setzen, diesen verdammten Mistkerl zu kriegen.“
„Das werden wir, Smilla, das werden wir auf jeden Fall.“
Der aufkommende Wind kräuselte die Wasseroberfläche und spielte geräuschvoll mit den herunterhängenden Ästen der Trauerweide. Smilla schaute über die glitzernde Weite des mit Schilf bewachsenen Sees. Der herrliche Anblick entlockte ihr einen lang gezogenen Seufzer, „Ein wahrlich idyllisches Plätzchen zum Sterben, … findest du nicht?“
Tiberius hatte mit diesem natürlichen Krempel nicht viel am Hut, bestätigte ihre Aussage aber dennoch mit einem kurzen Nicken, „Ja, ja, ist ganz nett hier. Gestorben ist sie trotzdem woanders. Wo genau, gilt es herauszufinden.“
„Was ist mit den Eltern?“
„Es gibt nur noch die Mutter und die wohnt in Thüringen. Die Kollegen Dornhäuser und Krauschel kümmern sich bereits darum.“
„Gut“, Smilla schätzte die Eigenständigkeit ihrer Mitarbeiter und war stolz auf ihr kreatives Team. „Dann werden wir uns als Erstes mit ihrer Freundin Erin unterhalten. Vielleicht weiß sie ja, wo unser Opfer seine letzten Stunden verbracht hat.“
„Was im Klartext heißt, dass ich mich wieder in deinen popligen Mini quetschen muss.“ Bei einer Größe von immerhin einhundertneunzig Zentimetern in Kombination mit einer nicht unerheblichen Körperfülle benötigte Tiberius entsprechend viel Raum, um sich frei entfalten zu können. In dieser fahrbaren Sardinenbüchse fand er nicht einmal genügend Platz zum Husten. „Wann kaufst du dir endlich mal ein richtiges Auto?“
Smilla kam nicht umhin breit zu grinsen, „Wenn du die versprochenen zwanzig Kilo abgenommen hast.“
Tiberius seufzte schwermütig, „Also nie.“
„Bei deiner konsequenten Inkonsequenz im Umgang mit Nahrungsmitteln kann das ja auch nichts werden“, die Kommissarin deutete galant auf die Autotür, „na los, komprimier dich ein bisschen und steig ein.“ Während der Fahrt betrachtete Tiberius sein rundes Gesicht kritisch im Spiegel der Sonnenblende, was sich aufgrund der minimalen Größe der Glasfläche als äußerst schwierig erwies. Unablässig drehte er den Kopf in sämtliche Richtungen, ohne seine smaragdgrünen Augen davon abzuwenden. Diese für ihren Kollegen ziemlich ungewöhnliche Handlung rief sofort Smillas stark ausgeprägte Neugier auf den Plan, „Was ist, … suchst du Pickel oder Falten?“
Der strafende Blick von der Seite folgte prompt, „Weder, noch.“ Nach einem relativ kurzen beleidigten Moment des Schweigens räusperte er sich, „Sag mal, … findest, … findest du mich attraktiv?“
Mit seinen ausdrucksstarken Augen, der eleganten goldgefassten Brille und der stets auf Hochglanz polierten Glatze konnte man ihn durchaus als gut aussehend bezeichnen. Auch wenn ihm ein paar Kilogramm weniger sicherlich gut zu Gesicht stehen würden. Für Smilla kam er als erotisches Objekt nicht infrage, was keinesfalls etwas mit dem Altersunterschied zu tun hatte. Sie stand einfach auf einen ganz anderen Typ Mann. Außerdem verband die beiden eine innige Freundschaft, die sie für nichts auf der Welt aufs Spiel gesetzt hätte. „Ja, … ja, ich halte dich für ein echt knuffiges Kerlchen.“ Sie ahnte die Bedeutung seiner Frage, hakte aber dennoch nach, „Sag mal, gibt es da vielleicht etwas, das ich wissen sollte?“
„Was, … nein, es hat mich einfach nur mal interessiert.“ Wenn dieser gestandene Berg von einem Mann errötete, dann steckte mit ziemlicher Sicherheit mehr dahinter.
Sie antwortete mit einem dreisten Grinsen, „Na los, Kojak, erzähl mir vom Traum deiner schlaflosen Nächte.“
Er winkte ab, „Ich kenne sie ja kaum.“
Geduld gehörte nicht zu ihren Stärken, „Ja und, … jetzt lass dir doch nicht jeden mickrigen Wurm einzeln aus der Nase ziehen. Wer ist sie, wie heißt sie?“
„Sie heißt Edwina Klum und ist meine neue Nachbarin. Wir haben uns bis dato nur ein paar Mal unterhalten, weiter nichts.“
„Aber sie gefällt dir ja offensichtlich. In welcher Altersliga spielt sie denn?“
Er zuckte mit den Schultern, „Keine Ahnung, ich kann nicht gut schätzen. Sie ist vielleicht so um die Fünfzig oder ein kleines Stück drüber. Und ja, … ja sie gefällt mir tatsächlich ziemlich gut.“
„Und worauf wartest du dann noch? Bagger sie an und lass deinen Charme ordentlich sprudeln.“
„Immer langsam mit den jungen Pferden, alles zu seiner Zeit. Ich kann ja nicht gleich mit dem Tor in die Scheune fallen. Aber keine Angst, ich werde dich diesbezüglich auf dem Laufenden halten.“ Tiberius deutete auf einen gerade renovierten Altbau, „Dort vorne ist es, Haus Nummer zwölf. Die WG wohnt bedauerlicherweise ganz oben unterm Dach.“
Der feuchte Geruch von frischer Farbe