Lucas sah, dass der Bauer ein grobes Holzgestell hinter sich herzog, auf dem ein Schaf festgebunden war.
„Ich bin allein“, erwiderte Lucas, „was willst du?“
„Das dumme Tier hat sich ein Bein verletzt, es kann nicht mehr gehen. Ich will es euch verkaufen.“
Lucas schaute sich das Schaf an. Sofort fiel ihm auf, dass es hochträchtig war. „Ich habe kein Geld. Der Fleischer kommt morgen wieder.“
Das Tier war fast leblos. Lucas befühlte die dicken Adern am Hals und spürte noch ein leichtes Pulsieren. Das eine Vorderbein war gebrochen, Splitterknochen stießen aus der arg geschwollenen und eitrigen Wunde hervor, die voller Fliegen war.
„Es wird es nicht mehr lange machen.“ Lucas sah dem Bauern in die Augen. „Ich gebe dir die Hälfte des Fleisches, der Rest ist für das Schlachten.“
Der Bauer fixierte ihn mit zusammengekniffenen Brauen und holte mit der Hand aus, aber brach die Bewegung sofort ab, als er das Messer sah, das wie zufällig in die Hand von Lucas gelangt war.
„Du kannst dein Schaf auch wieder nach Hause schleppen, wenn du willst.“
Der Bauer schaute ihn böse an, presste seine Faust in die Hand, dann schlug er sich auf die Handfläche und nickte.
„Hilf mir, es hineinzutragen!“, sagte Lucas.
Gemeinsam luden sie das Schaf ab und schleiften es ins Haus.
„Komm in zwei Stunden wieder!“
Kaum war der Bauer weg, befestigte Lucas ein Seil um die Hinterbeine des fast regungslosen Tieres, zog es über der Schlachtbank hoch und stellte einen hölzernen Eimer unter dessen Kopf. Dann schnitt er die Halsschlagader auf und achtete sorgsam darauf, dass alles Blut seinen Weg in den Eimer fand. Das dauerte, und er wartete ungeduldig, bis der Blutstrom versiegt war. Nun führte er sein scharfes Messer mit einem langen Schnitt quer über die dünne Haut des Tierleibes, tief genug, um mit seinen Händen den Weg in die Öffnung und zum ungeborenen Lamm zu finden. Er wühlte im Bauchraum herum, fand es, zog es heraus, nabelte es ab und legte es in einen Korb. Es hob den Kopf und begann zu zappeln.
Er legte ein Tuch über den Korb und band es fest, sodass das Lämmchen nicht herausfallen konnte. Dann trug er es hinter das Haus, wo sich in einem Gehege andere Schafe aufhielten. Er sonderte eines ab, das kürzlich abgelammt hatte, und band es fest. Dann stellte er den Korb auf den Boden, öffnete das Tuch und ließ das Neugeborene auf den Boden gleiten. Das Mutterschaf zog am Strick, es zeigte kein Interesse. Lucas massierte das kleine Tier, strich ihm über Maul und Nase, dann umfasste er mit seinen Händen Maul und Nase des Muttertiers. Diesen Vorgang wiederholte er einige Male. Zurück im Haus, machte er sich an das Zerlegen des toten Schafes.
Später sah er nach dem neugeborenen Lämmchen. Es war sauber abgeleckt und stakste schon recht sicher herum. Seine neu ernannte Schafsmutter ließ es an ihre Zitzen.
Den Fleischanteil für den Bauern legte er auf dessen Holzkarren und wartete, bis er wieder auftauchte. Als er ihn laut schimpfend näherkommen hörte, zog er es vor, ihm auszuweichen. Er hörte noch, wie er ihn verfluchte und ihn als Halsabschneider bezeichnete, bevor er mit seinem Gestell abzog.
Die andere Hälfte und das Lamm verkaufte Lucas am anderen Tag dem Fleischer zu einem guten Preis. Für das Geld erstand er sich ein Pferd, kein edles zwar, eigentlich eine alte Mähre, die zum Schlachten vorgesehen war, aber es ermöglichte ihm, sich rascher zwischen seinen Verstecken im Wald und dem Schlachthaus zu bewegen. Das gutmütige Tier hatte sich schnell an ihn gewöhnt, und bald konnte er es auch recht gut reiten. Der Fleischer erlaubte ihm, das Pferd bei ihm unterzustellen. Gregor gegenüber verheimlichte er seine neueste Errungenschaft.
3
Mittlerweile hatte Lucas sich durch den steten Umgang mit seinen Messern eine Fertigkeit angeeignet, die auch Gregor nicht entgangen war. Lucas konnte kleinere Gegenstände aus Holz oder Knochen schnitzen, kleine Nachbildungen von Vögeln oder Fröschen; er benutzte sogar beim Essen ein Messer, wo doch sonst ein Holzlöffel oder die Finger genügten. Mit der Zeit hatte er eine ganze Sammlung von verschiedenen Messern, feine und grobe, kurze und lange, jedes für einen bestimmten Zweck. Auch dafür hatte er sich geeignete Verstecke eingerichtet.
Was Lucas im Wald mit seinen toten Tieren und beim Fleischer alles gelernt hatte, entging Gregor, oder er wollte es nicht wissen. Seine Sorge galt dem bevorstehenden Besuch des Kirchenadministrators.
Als der Tag endlich gekommen war, hatte Gregor der Köchin aufgetragen, ein opulentes Mahl zu bereiten.
Nachdem sie die Suppe aufgetragen und sich wieder in die Küche verzogen hatte, meinte der Kirchenadministrator: „Ihr habt eine neue Köchin, wie ich sehe.“
„Ja, ihre Vorgängerin ist leider verstorben.“
„Sie war doch Spanierin, oder?“
„Jawohl. Lucia Creamore. Ihr erinnert Euch gut.“
„Und hatte sie nicht einen Sohn?“
„Ja, er heißt Lucas. Ich möchte mit Euch über ihn sprechen.“
„Hat er denn keinen Vater?“
Gregor merkte, dass er rot anlief. „Hier im Dorf weiß man nicht, wer sein Vater ist.“
Der Kirchenadministrator legte den Löffel zur Seite. „Wisst Ihr es denn?“
Gregor schaute in den Teller. „Ja.“
Die Köchin brachte einen Topf und stellte ihn auf den Tisch. Der Kirchenadministrator schwieg, während sie die Teller füllte. Als sie wieder unter sich waren, räusperte er sich.
„Das ist eine ernste Angelegenheit. Ihr kennt die Regeln der Kirche.“
„Ja, Hochwürden. Ich möchte ihnen gerne nachleben. Nachdem die Mutter von Lucas verstorben ist, dachte ich, es sei möglich, ihn in die Klosterschule zu geben.“
Der Kirchenadministrator wirkte abweisend. „Die Anforderungen sind hoch.“
Gregor schöpfte seinem Gast nach und füllte das Weinglas auf. „Ich habe Lucas sorgfältig unterrichtet, er kennt die Bibel, kann Lesen und Schreiben. Auch habe ich ihm das Lateinische beigebracht.“
„Holt ihn!“
Gregor erhob sich und rief nach Lucas.
Der Kirchenadministrator beäugte Lucas von Kopf bis Fuß. Schwarze Haare, schwarze Augen, hellbraune Haut, ging es ihm durch den Kopf — wie seine Mutter. Darum also konnte Gregor seine Vaterschaft bisher verheimlichen. Eigentlich ein hübscher Junge. Die Mutter war wirklich eine reizvolle Frau gewesen, mit ihren schwarzen Haaren und glutvollen Augen. Warum nur hatte er es mit der eigenen Köchin treiben müssen? Pfarrer kommen doch herum und können ihre Segnungen auch außerhalb des eigenen Hauses verbreiten.
Der Kirchenadministrator schüttelte den Kopf, und Gregor folgerte daraus, dass er seinen Vorschlag ablehnte. Er sah es als eine Bestrafung für sein sündiges Verhalten. Damit kommt eine kirchliche Karriere für Lucas nicht infrage, dachte Gregor, doch die wirklichen Gedanken des Kirchenvorstehers blieben ihm verschlossen.
Für diesen war die Irrung des Dorfpfarrers nichts Ungewöhnliches; solches pflegte man sonst füglich zu regeln. Aber er konnte sich in seinem Zuständigkeitsgebiet einfach keinen solchen Geistlichen vorstellen — einen der aussah wie Lucas. Für ihn hatten Kirchenleute und Heilige, Jesus und wahrscheinlich auch der Schöpfer selbst keine schwarzen Augen. Doch irgendeine Lösung musste man finden, um den Pfarrer auf seinem Weg zurück zur Tugend zu unterstützen.
„Was kann er denn, Euer Sohn? Hat er Talente?“, fragte er Gregor, als er Lucas wieder entlassen hatte.
„Jawohl! Er kann mit allem, was schneidet, perfekt umgehen.“ Er zeigte ihm die kleinen Kunstwerke von Lucas.
„Wunderbar. Wirklich