»Edward wirkt sehr nachdenklich«, sagte Mary-Ann. Sie winkte Candys Kindern zu, die Steine über die Wasseroberfläche springen ließen, dann sah sie Joshua in die Augen. Sie küsste ihn schnell zärtlich auf den Mund. Er erwiderte den Kuss und wollte seine Zunge zwischen ihre Lippen zwängen, doch sie wandte den Kopf zur Seite. »Nicht jetzt, Josh ...«
Joshua Cunningham, ehemaliger Angestellter von Mary-Ann und Journalist beim Sender, runzelte die Stirn. »Edward ist sehr introvertiert, das wird sich kaum ändern. Aber mir gefällt, dass er seinen inneren Schweinehund endlich überwunden hat und regelmäßig Sport treibt. Wer weiß, wozu es gut ist - zukünftig ...«
Mary-Ann wandte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an Joshuas Brust. »Bleib im Hier und Jetzt, Josh. Keiner weiß, was kommt. Vor den Untoten sind wir hier auf der Insel sicher. Trübsalblasen bringt überhaupt nichts. Uns geht es gut. Sehr gut sogar, wenn man an all die armen Menschen dort draußen denkt.«
Joshua legte das Kinn sanft auf ihren Kopf und sog den Duft ihres Haares ein, das nach irgendeinem Blütenextrakt duftete, exotisch und erotisch. »Vor den Untoten mögen wir sicher sein, aber ich denke da eher an Menschen. Vielleicht höre ich das Gras wachsen, aber diese unwirkliche Ruhe hier macht mich langsam nervös. Abgesehen davon hat Candy von verschiedenen Flüchtlingsströmen berichtet. Das Seengebiet des Lake Winnepesaukee ist prominent. Da fällt es nicht schwer, auf die Idee zu kommen, sich auf eine Insel zurückzuziehen. Leider sind - so wie es scheint - alle Inseln bereits frequentiert. Von Menschen, die nichts vom anderen wissen wollen. Das ist Sprengstoff. Du hast etwas, was ich haben will. Und schon haben wir den großen Knatsch. Mir gefällt nicht, dass sich die anderen da drüben ...« Er zeigte zu den andern Inseln. »...dass sie sich so einigeln. Das ist nicht gut. Wir Überlebenden müssen zusammenhalten.«
Joshua schwieg für einen Moment. Dann fuhr er fort: «Was ist mit der Codemeldung, die Candy durchgegeben hat? Ich halte es für keine gute Idee, unsere Position bekannt zu geben.«
Mary-Ann löste sich von ihm, trat einen Schritt nach vorne und wandte sich dann zu ihm um. Sie winkte ab. »Candy hat lediglich einen mit Otis Flanagan, so heißt der Agent doch? - vereinbarten Code durchgegeben, dass ihr gut angekommen seid, das ist alles.«
»Hoffen wir es.« Joshua vergrub die Hände in den Taschen und sah kurz zu Boden. »Die Lager sind zwar noch voll, aber ich denke, wir sollten nicht zu lange damit warten, uns weiter in der Gegend umzusehen. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«
Mary-Ann nickte. »Candy will übermorgen zu einem Rundflug aufbrechen. Die Shoppingmall in Concordia und dann der Privatflugplatz, um noch etwas Kerosin anzukarren. Dann noch mal runter nach Laconia. Aber wir sollten wirklich nur fliegen, wenn es wirklich notwendig ist. Der Hubschrauber ist nicht zu überhören.«
»Also doch Bedenken, mein Herz?« Joshua küsste sie auf die Stirn.
Mary-Ann beugte sich zu ihm hin und küsste ihn erneut, diesmal intensiver. Es funkelte in ihren Augen. »Realistisch. Das bin ich. Wir brauchen keine Panikmache, aber wir sollten nicht zu leichtgläubig sein. Und ... wir haben beschränkte Kapazitäten. Ich weiß, dass Edward der Meinung ist, wir könnten noch andere Flüchtlinge aufnehmen. Aber - wo ist die Grenze? Wann sagen wir nein?«
Er nickte und dachte daran, wie schnell er und Mary-Ann zueinandergefunden hatten, hier auf der Insel. Seit Jahren hatte er für sie geschwärmt. Sie war seine Chefin gewesen, er der etwas lethargische Journalist, der sein Potenzial niemals richtig auszuschöpfen wusste. Nie war etwas zwischen ihnen passiert, nicht auf den Empfängen, nicht bei den Galas - oder sonst wo. . Am ersten Abend ihrer Ankunft, als sie beide am Seeufer standen, hatten sie sich ausgesprochen. Es war ein warmer Sommertag, der mit einem traumhaften Sonnenuntergang in irren pink- und mauvefarbenen Tönen zu Ende ging. Grillen zirpten, der Mond stand am Himmel - und sie dicht beieinander am Ufer. Der Rest war das, was man Geschichte nennt. Joshua erinnerte sich noch genau an den Moment, als sie sich umarmten. Es war dieses unglaubliche Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Alleine in einer Welt, die langsam ihrem Ende zuging. Es machte keinen Sinn, etwas beschönigen zu wollen. Falls das Internet doch wieder einmal funktionierte, trafen nur Hiobsbotschaften ein. Die großen Städte verfielen, waren lebensfeindliche Zonen geworden, in denen die Zombies herrschten. Doch die Zombies blieben nicht in den Städten. Irgendwann begaben sie sich auf die Wanderschaft, gerade so, als würde sie das Fleisch der Lebenden locken.
Aber noch leben wir, dachte er. Die Wolkendecke riss auf und gab die Sonne frei. Joshua blinzelte und wischte sich kurz über die Augen.
»Können wir heute wieder spazieren gehen?«, rief Leo, Candys Sohn.
Mary-Ann lächelte zuerst ihn, dann Joshua an. »Nehmen wir die beiden mit?«
»Ausnahmsweise«, erwiderte Joshua. »Leo, Janet - packt eure Rucksäcke. Wir machen nachher ein kleines Picknick am westlichen Ufer.«
»Können wir zu einer der anderen Inseln übersetzen oder ans Festlandufer?«, fragte Leo.
Mary-Ann schüttelte den Kopf. Sie wirkte übergangslos ernst. »Nein, Leo. Ihr kennt die Spielregeln. Vorläufig bleiben wir für uns.«
Leo wollte murren, doch seine Schwester stieß ihn kumpelhaft in die Seite. »Motz nicht. Hier ist es schön. Außerdem könnten am Ufer Zombies sein. Die mag ich nicht. Die sind gruselig.«
»Okay.« Leo verzog das Gesicht. Dann liefen die beiden in die Hütte, um ihre Rucksäcke zu packen.
Mary-Ann griff nach Joshuas Hand. »Gehen wir. Wenn wir nicht rechtzeitig fertig sind, geht das Murren der beiden wieder los. Du weißt doch,wie ungeduldig Kinder sein können.«
Joshua nickte und wollte sich in Bewegung setzen. Aus den Augenwinkeln heraus war ihm, als hätte er einen Reflex wahrgenommen, fast so, als bräche sich das Sonnenlicht in der Linse eines Feldstechers. Er wandte sich um, doch da war nichts mehr. Na ja, vielleicht beobachtet man uns von dort drüben, kam es ihm in den Sinn. Es wurde langsam Zeit, wieder an Wachen zu denken. Sie waren zu sorglos. Ja, dachte er. Das Inselleben lullte sie langsam ein. Es war eine trügerische Sicherheit. Irgendwie ahnte er mehr, als dass er es wusste, dass es früher oder später mit dieser Ruhe vorbei sein würde. Hoffentlich später ...
4 Landung in der Steppe
Kasachstan
In der Steppe, ca. 150 km von Scheskasgan entfernt
»Wir nähern uns dem Zielgebiet«, sagte Jessica Warden mehr zu sich selbst. Ihre rechte Hand hielt den Joystick umklammert, obwohl nach wie vor der Autopilot den Tarnkappenjet steuerte. Cleveland war zusätzlich über Satellit mit den Bordcomputern verbunden. Es machte Jessica nervös, zum Nichtstun verdammt zu sein. Zu gerne hätte sie diesen neuen Vogel einmal selbst geflogen bzw. gelandet, doch sie durfte nicht.
Otis verzog das Gesicht. Jessica wusste, dass er das Fliegen nicht unbedingt mochte, es nach eigener Aussage sogar hasste. Trotzdem hatte er sofort zugesagt, als General Lee H. Parker von Cleveland Air Force Base Nova sie und Otis in den neuen Auftrag eingeweiht hatte. Es gab in Cleveland Nova für Agenten zu wenig zu tun. Und das Herumsitzen zerrte an den Nerven. Otis und Jessica hatten etliche Stunden im Fitnesscenter und mit Schießübungen zugebracht: Bogenschießen, der Kampf Mann gegen Mann und was es sonst noch gab.
Otis sah auf die verschiedenen Displays. Das Landegebiet wirkte karg, menschenfeindlich. In der Ferne erhob sich das Ulutau-Gebirge,