Ich weiß es jedenfalls nicht und vorher will ich vielleicht doch noch etwas essen. Wer weiß, am Ende vergeht uns der Appetit danach möglicherweise völlig…“ sage ich nachdenkend und ohne eine Antwort abzuwarten verdrücke ich mich unter die Dusche und mache die Glasschiebetür zu.
Das eiskalte Wasser rinnt über meinen müden Körper, doch ich spüre die Kälte kaum und sie macht mich auch nicht munterer.
Viel zu viel Gedanken huschen gespenstisch durch mein Gehirn. Vor allem was sein wird, wenn es Gewissheit werden sollte, dass ich doch Leukämie habe.
Unglücklich warte ich bis Saundra das Bad verlässt und gehe in die Hocke wo ich meinen Kopf auf die Knie niedersinken lasse und meine Beine mit den Armen umschlinge.
Am liebsten würde ich jetzt losheulen wie ein Schlosshund.
So eine verdammte Scheiße!
Warum ausgerechnet ich und warum gerade jetzt?
Warum dürfen wir nicht zusammen einfach nur glücklich werden?
Tief atmend erhebe ich mich wieder und drehe das Wasser etwas wärmer.
Jetzt darf ich nicht schwach werden und meinen augenblicklichen Gefühlen nachgeben. Ich muss stark bleiben für Saundra, denn sie hat es im Moment ohnehin nicht leicht durch ihr eigenes Geständnis, mit dem was ihr vor Jahren in Ungarn passiert ist.
Vor allem aber Lázlós Beichte macht ihr sicherlich noch mehr zu schaffen als sie zugeben will und so tut als hätte sie seine sexuelle Neigung und seine Entscheidung für Tristan akzeptiert.
Ich denke sie knabbert noch eine ganze Weile daran oder fängt erst richtig damit an, wenn Lázló und Tristan wieder in den USA sind und sich als Paar präsentieren.
Zermürbt beende ich die Dusche, indem ich mein Haar kurz mit Shampoo aufschäume und meinen Körper mit demselben Schaum einreibe.
Zum Abwaschen drehe ich die Dusche noch einmal kurz auf eiskalt, aber ich fühle mich immer noch wie gerädert oder eher so als wäre ein Panzer über mich hinweggerollt.
Kopfschüttelnd verlasse ich die Dusche, trockne mich ab und frottiere meine braunen welligen Haare nur gut durch.
Wahrscheinlich werde ich diese ohnehin verlieren, zumindest vorläufig wenn es zu einer Chemotherapie kommt und ich versuche mich im Spiegelbild mit einer Glatze vorzustellen.
Noch einmal tief durchatmend indem ich mit der linken Hand meine Nasenwurzel festhalte, spreche ich mir in Gedanken selbst Mut zu und gehe in das Zimmer zurück.
Saundra hat mit dem Frühstück bereits angefangen und ich schlüpfe zunächst in frische Shorts und ein T-Shirt, welches sie auf mein Bett gelegt hat und widme mich anschließend schweigend meiner Madre Tierra.
Sie mustert mich ebenso schweigend mit einer tiefen Stirnfalte die mir verrät, dass sie gern etwas sagen möchte … sich aber offenbar nicht traut, weil sie sich anscheinend meiner Verfassung nicht sicher ist.
„Was ist los, Saundra? Du möchtest doch irgendetwas sagen?“ frage ich daher sanft zwischen zwei Bissen und merke, dass mir plötzlich aus unerfindlichen Gründen der Schweiß ausbricht.
„Ach, nein! Ich weiß nicht!“ stottert sie verlegen und senkt die Augen.
„Ist nicht weiter wichtig!“
Mit dem Handrücken wische ich mir den kalten Schweiß von der Stirn und mache beim Weiteressen eine kurze Pause, denn es strengt mich heute unwahrscheinlich an auch nur diese kleine Schale auszulöffeln.
„Es gibt nichts was Unwichtig ist.“ sage ich daher eindringlich.
„Sag‘ mir doch einfach was dir auf dem Herzen liegt. Bitte!“
„Nein! Lassen wir es einfach, es ist besser so!“ schüttelt sie mit dem Kopf als es auch schon an der Tür klopft und Dr. Spector mit sehr ernstem Gesicht und einer Krankenakte unter dem Arm den Raum betritt.
„Ach Sie sind noch beim Frühstück!?“ sagt er halb feststellend und halb fragend.
„Dabei wollte ich natürlich nicht stören, aber ich dachte Sie sind schon längst fertig!“
Er wendet sich wieder dem Ausgang zu, doch ich halte ihn instinktiv zurück.
„Nein! Sie stören nicht Dr. Spector, ich war ohnehin schon so gut wie fertig. Das Essen strengt mich heute unheimlich an und ich schaffe ohnehin nicht alles. Mein Magen scheint in den letzten vierundzwanzig Stunden um die Hälfte geschrumpft zu sein.“ gebe ich meine momentanen Gefühle preis.
Dass Saundra auch noch nicht mit ihrem Frühstück fertig ist übersehe ich heute geflissentlich, denn ich will endlich wissen was der Doktor herausgefunden hat.
Zudem habe ich das Gefühl, wenn ich noch länger auf die Ergebnisse der Untersuchungen und eine eventuelle Gewissheit warten muss, noch verrückt zu werden.
„Nun ja, wie Sie meinen Mr. Bolder.“ sagt er ernst, setzt sich auf den Stuhl neben mich und dreht ihn zu mir herum, dabei schlägt er ein Bein über das andere und sieht stirnrunzelnd zu Saundra.
„Ich kann aber auch gerne noch warten bis Miss Dunaway fertig gefrühstückt hat.“
Im Augenwinkel bemerke ich wie ihr der letzte Bissen im Hals stecken bleibt und sie damit kämpft ihn hinunter zu schlucken.
„Nein! Dr. Spector! Es ist in Ordnung, ich war eigentlich auch schon fertig!“ sagt sie tief einatmend, schaut mir dabei besorgt ins Gesicht und schiebt das Tablett von sich.
Dr. Spector legt die Akte zugeklappt auf den Tisch und verschränkt umständlich die Hände auf die er zunächst seinen Blick senkt und selbst tief durchatmet.
„Nun ja!“ fängt er vorsichtig an zu sprechen, sieht danach verlegen an die Decke bevor er meinen Blick einfängt und mir nun fest in die Augen schaut.
„Wie soll ich es erklären?“ spricht er ruhig weiter und atmet abermals tief durch.
„Das ist für mich auch jedes Mal wie ein Gang auf das Schafott und gerade bei Ihnen empfinde ich es leider ganz besonders stark, weil wir uns doch schon eine Weile kennen. Aber meine schlimmsten Befürchtungen haben sich leider bewahrheitet.“ sagt er leise aber fest und er macht eine kurze Pause in der er erneut tief Luft holt und hart schluckt.
„Sie leiden unter einer besonders aggressiven Form von Leukämie, welche ziemlich schnell voranschreitet. Deshalb fühlen Sie sich wohl von Tag zu Tag schlechter.
Ich vermute einmal, dass Sie inzwischen Gliederschmerzen haben, von der ständigen Müdigkeit ganz zu schweigen und Ihre jetzige offensichtliche Appetitlosigkeit ist ein weiteres Zeichen für das was mir die Blutuntersuchung gezeigt hat.“
„Ja!“ raune ich, während ich emotional noch an seinen Lippen hänge.
In Saundras Augen schwimmen die ersten Tränen und sie springt augenblicklich wortlos von ihrem Stuhl auf, stellt sich vor das große Fenster und sieht mit verschränkten Armen auf das immer noch winterliche Philadelphia, während sie uns den Rücken zukehrt.
Dr. Spector atmet erneut tief durch und ergreift meine rechte Hand die auf dem Tisch liegt.
„Mr. Bolder bitte! Sie dürfen jetzt auf keinen Fall aufgeben. Es gibt viele Möglichkeiten Ihnen zu helfen und ich würde am besten noch heute Nachmittag mit der Chemotherapie anfangen damit wir nichts verpassen.
Noch besser wäre natürlich eine Stammzellenspende und ich hoffe Sie haben bereits eine Liste ihrer nahen Verwandten gemacht?“ führt er besorgt aus.
Geschockt schlucke ich zunächst diese Nachricht hinunter und suche mit den Augen auf dem Tisch herum, auf dem wir gestern Nachmittag mit Mum diese Liste zusammen geschrieben haben.
„Saundra?“ frage ich daher benommen.
„Wo ist diese verdammte Liste von meinen Verwandten, die wir gestern mit Mum erstellt haben?“