„Wie können wir eine Bombe verstecken“, fragte Imad Lahoud, „wenn die Gebäude sorgfältig bewacht werden?“
„Mit Allahs Hilfe, mit Geduld und List. Ich habe viel gelernt aus dem Buch Attentäter und Attentatsversuche. Ich empfehle es euch zur Lektüre, obwohl es von einer Ungläubigen geschrieben wurde. Darin wird zum Beispiel der Attentatsversuch eines unauffälligen Mannes namens Johann Georg Elser beschrieben. Vor einhundertsechzig Jahren lebte im mittleren Europa ein Anführer, der Adolf Hitler hieß. Ein einzelner Mann hätte ihn fast zur Strecke gebracht. Er kannte seine Gewohnheiten und nahm eine Stelle im Bürgerbräukeller, einem Gasthaus in der Stadt München, an. Er wusste, dass Hitler einmal im Jahr an einem bestimmten Tag in einem großen Saal des Gasthauses eine Rede hielt, eine Gedenkrede, bei der auch zahlreiche andere wichtige Personen anwesend waren. Deshalb ließ der Mann sich nach seiner täglichen Arbeit dort einschließen und baute in monatelanger Arbeit eine Bombe mit Zeitzünder in eine Säule ein. Das ist eine gute Vorgehensweise. Wenn wir ein Gebäude ausgewählt haben, wird sich einer von uns als Reinigungs- oder Wachmann anstellen lassen. Ich glaube“, er wandte sich Zargawi Rashid zu, „du bist am besten dafür geeignet. Mit deinem Gesicht und einem anderen Pass kannst du als Südeuropäer durchgehen, kein Mensch vermutet in dir einen treuen Diener Allahs.“
„Ich danke dir, dass du mich ausgewählt hast“, entgegnete Rashid, „denn ich habe mir den Imam Najmuddin Gotsinskii zum Vorbild genommen, der vor fast zweihundert Jahren in Dagestan gegen die russischen Kommunisten kämpfte. Er schrieb den wunderbaren Satz nieder: Ich knüpfe einen Strick, um damit alle aufzuhängen, die von links nach rechts schreiben.“
Diese hitzigen Worte gefielen Tarec al Suweidan, der zu den Besonnensten der Gruppe gehörte, nicht besonders und er sagte tadelnd: „Rashid, deine Unbeherrschtheit ist eine große Gefahr. Übe dich in Geduld und Zurückhaltung. Versenke dich in Allah und bete regelmäßig die Lieblingssuren des Propheten. Unbeherrschtheit führt oft vom Weg ab und leitet in die Irre. Folge den Anweisungen, die dir gegeben werden.“
Als Rashid widersprach, musste Amr Ali Khaled eingreifen und den Streit schlichten. Zum Schluss sagte er: „In zwei Monaten treffen wir uns wieder, gleichgültig, ob es stürmt, hagelt oder blitzt. Habt keine Furcht! Wir alle haben schon zahlreiche lebensgefährliche Aufträge für unser Ziel erfolgreich durchgeführt, weil Allah uns geleitet und geschützt hat. Es ist unsere Aufgabe, den Kreuzzug der Ungläubigen gegen den Islam mit unserem Blut und unseren Körpern zu beenden. Wir sind alle Mudschaheddin, heilige Krieger.“
Bevor die Kabine zum Stillstand kam, umarmten und küssten sie sich; dann gingen sie auseinander – die einen zum Waterloo-Bahnhof, die anderen zur U-Bahn-Station Westminster. Amr Ali Khaled dagegen wanderte den Fluss entlang und dachte dabei über den Verlauf des Treffens nach. Er war sehr unzufrieden, die teilweise unbedachten und hitzigen Reden bereiteten ihm große Sorgen. Einige Personen, deren Zuverlässigkeit er in Zweifel zog, würde er austauschen müssen. Was für ein Glück, dass keiner von ihnen seine Adresse kannte und auch nicht wusste, welchen Beruf er tagsüber ausübte! Mittlerweile hatte er den Platz vor der Tate Modern erreicht. Dort setzte er sich auf eine Bank und betrachtete die große Kuppel der Kathedrale auf der anderen Seite des Flusses. Wie schön wäre es, dachte er, wenn es gelänge, in der Laterne der Kuppel eine Bombe zu verstecken. Eine Explosion der Kuppel von Saint-Paul’s wäre noch wirkungsvoller, als es die Zerstörung der Kathedrale von Saint-Denis in Paris vor zehn Jahren war. Aber er wusste, dass sich diese Idee nicht würde verwirklichen lassen. Trotzdem gab er sich seinen Träumereien hin, bis ihn eine Stimme aufschreckte. Es war eine alte Dame, die fragte, ob der Platz neben ihm noch frei sei.
„Aber natürlich, gnädige Frau“, antwortete er höflich und rückte ein wenig an den Rand.
Sie nahm Platz und schloss für eine Weile die Augen. Dann drehte sie ihren Kopf in seine Richtung und sagte: „Ist es nicht schön, im September in der warmen Sonne zu sitzen?“
Er nickte.
„Ja, ja, der Klimawandel hat auch etwas für sich, nicht wahr?“
Kapitel 5: Spurlos verschwunden
World Weather News, 15. Sept. 2100: Heute erwartete Tagestemperaturen: Upernarvik (Grönland) 5°C, Frobisher Bay (Kanada) 4°C, Cuzco (Peru) 19°C, Oslo (Norwegen) 25°C, Berlin (Europäische Gemeinschaft) 29°C, Madrid (Europäische Gemeinschaft) 37°C, Rom (Europäische Gemeinschaft) 35°C, Jakutsk (Russland) 13°C, Wuhan (China) 27°C, Kanpur (Indien) 38°C, Daly Waters (Australien) 30°C.
„Seht euch die Fotos an“, sagte der Mann, der am Kopfende des Tisches saß, „die Weiber sind abgebrüht, echt eiskalte Fotzen!“
Der Mann war wütend, weil er keine Erklärung für die Ereignisse hatte und befürchtete, man würde ihm den Fehlschlag der Aktion in die Schuhe schieben.
Der in gedämpftes Licht getauchte Besprechungsraum besaß keine Fenster. Eine Wand nahm ein etwa sechs Meter langer und drei Meter hoher Bildschirm mit einer Weltkarte ein, die alle gegenwärtigen Konfliktbrennpunkte und Kriege zeigte; die Darstellung der Weltkarte ließ sich vielfach verändern, die Erde konnte physisch, klimatisch und geologisch abgebildet werden. In der gegenüberliegenden Wand waren etwa einhundert Monitore eingelassen, die Fernsehnachrichten aus allen Teilen der Welt brachten oder Webcam-Bilder aus wichtigen Städten übertrugen. Der Ton war jedoch ausgeschaltet.
An einem Konferenztisch saßen neun Männer und vier Frauen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe. Sie waren unauffällig gekleidet und hatten unauffällige Gesichter. In einer größeren Menge würde keiner von ihnen besonders auffallen. Sie blickten zum Kopfende des Tisches und hörten einem dunkelhaarigen Redner zu, der eine Folge von Fotos erläuterte, die er auf einem weiteren Großbildschirm an der Rückseite des Raumes zeigte.
Begonnen hatte der Redner, der Levon Radjabow hieß, seinen Vortrag mit Erwähnung eines ungelösten Falles: „Sie erinnern sich sicherlich an den Vorfall am Kap Lopatka.“
„Ist da nicht dieser Doppelagent spurlos verschwunden? Hieß er nicht Kaimoa Shahade?“ bemerkte einer der Teilnehmer.
„Genau. Diesen Vorfall aus dem Frühjahr des vergangenen Jahres meine ich. Shahade war auf der Flucht aus Russland. Vom Putoranagebirge hatte er, um seine Verfolger zu täuschen, Spuren gelegt, als wolle er sich zur Kara-See wenden. Tatsächlich aber wählte er verwegen den Weg nach Osten und hat sich bis auf die Kamtschatka-Halbinsel durchgeschlagen. Sein Fluchtweg betrug sechstausend Kilometer – eine grandiose Leistung, aber auch eine Leistung, die bei einigen Leuten Misstrauen hervorrief. Am Kap Lopatka sollten wir ihn übernehmen. Doch am vereinbarten Treffpunkt tauchte er nicht auf.“
„Haben ihn die Russen am Ende noch geschnappt?“ fragte eine Frau, die erst seit einigen Monaten zu der Gruppe gehörte und mit dem Fall Shahade nicht vertraut war.
„Nein. Das hätten wir erfahren.“
„Ist er umgekommen?“
„Nein, wir haben sein implantiertes Ortungssignal während der Flucht aufgefangen