Im Flur gab es neben der Badezimmertür noch eine Tapetentür, sie war sehr schmal und ließ sich nur nach außen öffnen. Dahinter verbarg sich eine sehr steile Treppe, die ins Dachgeschoss führte. Hätte der Hausherr einem Gast die Tapetentür gezeigt und wäre er mit ihm ins Dachgeschoss gestiegen – was noch nie vorgekommen war –, hätte der mit großer Verwunderung eine Ansammlung unterschiedlichster Geräte zur Informations- und Nachrichtenübermittlung entdeckt, unter anderem zwei Satellitenschüsseln zur Abfrage von GPS-Daten, ein altes Funkgerät und eine kleine Offsetdruckmaschine. Ein Fachmann hätte darüber hinaus bemerkt, dass dieses altmodische Haus mit einer elektronischen Tür- und Fenstersicherung ausgerüstet war. Die Haustür zum Beispiel ließ sich nur aufschließen, nachdem McShane mit Daumendruck das Schloss freigegeben hatte. Das Durcheinander im Dachgeschoss war nur ein scheinbarer Wirrwarr, tatsächlich jedoch sorgfältig arrangiert, denn es verbarg eine Wandöffnung, die ins Dachgeschoss des Nachbarhauses führte. Im Nachbarhaus lebten die älteren Schwestern Abigail und Pamela Lockey. Ihnen gehörte der Kater Tobermory, von dem Durchgang unter dem Dach wussten die Schwestern nichts. Sie waren schwerhörig und hatten seit Jahren das Dachgeschoss nicht mehr betreten. Eine andere Wandöffnung war im Erdgeschoss verborgen. Der Raum unter den Treppenstufen diente als Garderobe für Mäntel, Jacken und Mützen. Die hölzerne Rückseite war eine Tür, durch die man in den Schacht des stillgelegten Kamins gelangen konnte.
Philip McShane hatte seine Teetasse auf dem Schreibtisch abgestellt und danach den Monitor angeschaltet. Auf dem Schirm erschienen die Nachrichten des Morgens. Als er die Meldung von der Gesetzesvorlage zum verstärkten Schutz der Bürger gelesen hatte, probierte er den Tee und sagte dann: „Teimur Huxley, ich werde verhindern, dass du dich zu einem Tyrannen wie Cromwell erhebst – auch wenn ich dafür das Parlament in die Luft sprengen muss, auch wenn es mich das Leben kostet. Das bin ich Rachel schuldig.“
Kapitel 3: Kinder ohne Namen
Nach langen Debatten wurden in der zweiten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts von einigen Staaten die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, um die Errichtung und das Betreiben von Organspenderfarmen zu legalisieren. Auf diesen Farmen werden Menschen zu dem alleinigen Zweck gezüchtet, als Organspender zu dienen. Neben den staatlich autorisierten Farmen existieren in anderen Ländern privatwirtschaftlich geführte Betriebe, die nicht oder nur lasch kontrolliert werden … Aus: Roberta Gregorian: Kleiner Abriss der Genetik. Helsinki 2099.
Wenn Solveig Solness an ihre frühe Kindheit dachte, sah sie den Direktor vor sich und hörte ihn mit kalter Stimme sagen, ihre Erinnerungen seien Wunschvorstellungen, sie habe keine Eltern, er rate ihr nachdrücklich, mit niemandem über diese Hirngespinste zu reden. Wenn sie aber das Gesicht des Direktors wie einen Vorhang zur Seite schob, sah sie in einer Erinnerung, die sie für ihre erste hielt, ihre Eltern in einem Garten vor sich. Sie selbst spielte auf einer Wiese, in einiger Entfernung standen zwei Erwachsene beisammen, ein Mann und eine Frau. Beide waren schlank und großgewachsen. Sie lief auf sie zu, der Mann war ihr Papa, er breitete seine Arme aus, fing sie auf und setzte sie auf seine Schultern. Er war jetzt ihr Pferd. Sie hielt sich mit ihren Händen an seiner Stirn fest und sah sich um. Der Garten lag an einem Hang, in der Ferne sah man Wasser, einen See, vielleicht auch die Bucht eines Meeres, vom Gefühl her – wenn sie später an die Erinnerung dachte – eher eine Bucht oder ein Meeresarm. Auf der anderen Seite des Wassers zog sich eine blaugraue Bergkette hin, der höchste Gipfel war mit Schnee bedeckt. Am unteren Ende der Wiese standen mehrere Bäume, im Geäst eines Baumes war ein Vogelnest zu erkennen. An einem kräftigen Ast dieses Baumes hing eine Schaukel, zwischen zwei anderen Bäumen war eine Hängematte gespannt. Unter der Hängematte lief im Halbschatten ein Vogel mit einem langen gebogenen Schnabel am Boden hin und her, hielt an, pickte und lief weiter. Hangaufwärts lag das Haus, es war zweistöckig und hatte ein hohes Dach. Mehrere Fenster waren geöffnet, und Solveig sah, wie sich die Vorhänge im Wind leicht bauschten. Seitwärts des Hauses erstreckte sich ein Gewächshaus, dahinter erhob sich ein Bergrücken, dessen Hang teilweise aus rötlichen Felsen bestand. Während ihr Vater als Pferd einige Schritte durch den Garten trabte, waren zwischen dem Bergrücken und dem Wasser noch andere Häuser zu sehen, sie verteilten sich als kleine weiße und rote Punkte im Grün der Wiesen und Baumgruppen. An eine Stadt in ihrem Blickfeld hatte sie keine Erinnerung, aber an Segelboote auf dem leicht gekräuselten Wasser. Ihre Eltern sprachen miteinander. Ihre Mutter lächelte ihr zu. Plötzlich verschwand das Lächeln, ihre Mutter griff sich an die Brust, machte ein paar Schritte und setzte sich auf einen Gartenstuhl. Dann sackte sie zusammen. In diesem Augenblick erschien eine Person in der Tür des Hauses, die ihr Vater jedoch nicht beachtete. Hastig setzte er Solveig ab und griff in eine Jackentasche. Er holte eine kleine Spritze heraus und drückte sie seiner Frau in die Armbeuge. Dabei sagte er zu seiner Tochter: „Mama ist krank. Aber du hilfst ihr, gesund zu werden.“ „Wie helfe ich ihr?“ „Mit deinem Blut.“ Immer wenn sie an diese Erinnerung dachte, versuchte sie, sich das Gesicht der Person in der Tür zu vergegenwärtigen, aber sie hatte das Gesicht nur einen Augenblick lang gesehen und konnte noch nicht einmal sagen, ob ein Mann oder eine Frau aus dem Haus getreten war. Trotzdem war ihre Erinnerung an diesen kurzen Augenblick stets mit einem Gefühl von Unbehagen und Gefahr verbunden.
In einer anderen Erinnerung war sie auf der Suche nach ihrer Mutter und öffnete die Tür zu einem Zimmer, in dem sich ihre Mutter oft aufhielt. Das Zimmer war jedoch leer, Solveig trat ein und blickte sich um. Auf einem niedrigen Tisch lagen neben einem Buch kleine, unregelmäßig geformte Steine, die auf einigen Seiten Vertiefungen und auf anderen Seiten Ausbuchtungen oder Höcker besaßen. Neugierig trat Solveig an den Tisch und nahm einige der Steine in die Hand, wobei sie bemerkte, dass sie aus Holz waren und sich warm anfühlten. Einer der Steine war wesentlich größer als die anderen. Solveig drehte und wendete ihn und stellte ihn anschließend mit seiner größten Fläche auf den Tisch. Jetzt nahm sie andere Teile in die Hand und versuchte, zwei so zusammenzustecken, dass der Höcker eines Steins in die Ausbuchtung eines anderen passte und dass die Kanten nicht voneinander abwichen oder überstanden. Nachdem sie einige passend zusammengesteckt hatte, suchte sie nach den beiden Steinen, die zu dem großen Stein passten. Sie fand sie, fügte sie zusammen und stellte fest, dass die drei Steine den Beginn eines Bogens zu bilden schienen. Ah, das ist ein Spiel, dachte sie und fügte mit zunehmender Begeisterung einen Stein an den nächsten, bis eine merkwürdige Figur entstanden war, eine Acht, die in sich gedreht war. Als sie das Zimmer wieder verlassen wollte, kam ihre Mutter herein. Solveig lief auf sie zu und rief: „Mama, Mama! Du hast ein schönes Spiel.“
„Welches Spiel meinst du denn?“
„Das Spiel mit den Steinen, die man zusammenfügen kann.“
Erst jetzt bemerkte ihre Mutter die zusammengesetzte Figur, sah ihre Tochter voller Staunen an: „Hat dir Papa dabei geholfen?“
„Nein, ich war allein im Zimmer. Aber es war ganz einfach. Die Steine sind nämlich unterschiedlich schwer, die schwersten kommen unten hin, die leichten oben.“
„Na, das wollen wir Papa erzählen“, antwortete ihre Mutter, nahm Solveig bei der Hand und ging mit ihr auf die Suche. Als sie ihren Mann im Gewächshaus gefunden hatte, sagte sie: „Stell dir vor, Solveig hat das Möbius’sche Band zusammengesetzt – ohne irgendeine Hilfe.“
Ein anderes Mal saß ihre Mutter vor dem niedrigen Tisch und sagte zu ihr: „Wir wollen jetzt gemeinsam ein Spiel spielen. Unter diesem Tuch liegen einige Gegenstände. Wenn ich das Tuch wegziehe, darfst du dir die Sachen ansehen. Dann bedecke ich sie wieder, und du sagst mir, woran du dich erinnerst. Magst du dieses Spiel spielen?“
Solveig nickte: „Ja gern, Mama.“
Noch als Erwachsene erinnerte sie sich, woran sie sich damals erinnerte hatte: an eine silberne Münze, eine rötliche Münze mit einem Loch in der Mitte, einen weißen Knopf, einen Ring, einen Ring mit einem Stein, ein Armband, eine Glaskugel, einen Würfel,