und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde…
(Prediger Salomo)
Alles ist stetig in Bewegung, alles fließt. Nichts ist gewiss, außer dem Wandel. Dieser Grundgedanke zeigt die überragende Bedeutung der Zeit im chinesischen Denken. Wir sind daran gewöhnt, Zeit quantitativ zu betrachten, ihr qualitativer Aspekt ist uns unvertraut. Die alten Griechen waren sich dieser Unterscheidung noch bewusst. Sie nannten die mess- und berechenbare Zeit „Chronos“ und gebrauchten den Begriff „Kairos“ um auszudrücken, dass die Zeit auch eine Bedeutungsdimension hat - dass in dem, was uns zeitgemäß „zufällt“, ein Sinn liegt. Nur, wer im Einklang mit der Zeit ist, wer also das Gebot der Stunde erfüllt, kann den Kairos - die Gelegenheit – nutzen. Und wir alle wissen aus unserer Erfahrung: wenn der Moment nicht stimmt, können wir uns noch so sehr anstrengen, wir werden doch scheitern.
C.G. Jung hat für dieses Phänomen den Begriff der „Synchronizität“ (Gleichzeitigkeit) geprägt. Er erkannte, dass jenseits der kausalen Verbindung von Ursache und Wirkung ein anderer, sinnhafter Zusammenhang wirkt, dass Zufälle höchst bedeutsam sein können. Im Zu-Fall ist ein perfektes Timing am Werk, das dafür sorgt, dass sich die Dinge in einer unglaublichen Weise anordnen, um ein bestimmtes Ergebnis hervorzubringen. Diese Synchronisierung innerer und äußerer, subjektiver und objektiver, seelischer und materieller Prozesse sprengt unser rationales Weltbild. Sie lässt uns ahnen, dass eine transzendente Macht, eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit am Werk ist, die unser begrenzter Verstand nicht fassen kann.
Diese Vorstellung ist vielen Menschen allerdings unbehaglich. So setzen sie auf die Illusion, die Kontrolle über ihr Leben läge in ihren eigenen Händen, auch wenn die Wirklichkeit ihnen immer wieder das Gegenteil beweist. Sie meiden ängstlich alle Risiken und halten sich an das, was aus ihrem beschränkten Blickwinkel Gewissheit verspricht. Doch wenn das Sicherheitsdenken zur Grundmelodie des Lebens wird, geht es auf Kosten von Lebendigkeit und persönlichem Wachstum.
Grundannahmen
Wer mit Orakeln arbeitet, geht von bestimmten Grundannahmen aus, die von der Mentalität des rationalen Zeitgeistes deutlich abweichen. Wie es das Wesen aller Axiome ist, lassen sich auch diese nicht beweisen. Je mehr Erfahrung wir allerdings mit dem I Ging haben, desto mehr werden sie sich bestätigen, so dass wir mit der Zeit die Zweifel verlieren und einen Zustand subjektiven „Wissens“ erlangen.
Wir Menschen existieren auf zwei Wirklichkeitsebenen: im materiellen Diesseits wie im transzendenten Jenseits.
Unsere Identität reduziert sich nicht auf bewusstseinsbegabte, aber vergängliche Körperlichkeit - wir sind in Wahrheit unbegrenzte spirituelle Wesen, die eine Erfahrung in der materiellen Welt machen.
Auf dem Weg über das Orakel können wir mit der jenseitigen Dimension Kontakt aufnehmen.
Frühere Generationen siedelten die höhere Weisheit außerhalb von uns an – „im Himmel“, wie es im I Ging oft heißt. Heute gehen wir eher davon aus, dass unser Unbewusstes ungeahnte Dimensionen hat, die bis zum Göttlichen reichen. Indem wir dem I Ging Fragen stellen, kommen wir in Berührung mit einer überragenden Intelligenz, die uns Antworten für unser irdisches Leben gibt, Antworten, die die Reichweite unseres persönlichen Denkens bei weitem überschreiten.
Die Antworten des Orakels entsprechen der Wahrheit, auch wenn sie nicht rational überprüfbar sind.
Orakel irren sich nicht, sie offenbaren die Wirklichkeit. Dabei sind ihre Antworten oft überraschend: Sie weisen uns auf Aspekte hin, die wir selbst übersehen haben, und erweitern und korrigieren damit unseren beschränkten Horizont. Allerdings sind Orakelantworten häufig mehrdeutig und können deshalb von unserem Ego, das manches hören will und anderes nicht, missverstanden werden.
Orakel betrachten den Zufall als die Sprache des Lebens. Im Grunde besitzt damit alles, was uns widerfährt oder begegnet, eine orakelhafte Qualität. Der Vorteil ausgefeilter Instrumente wie des Tarot oder I Ging liegt darin, dass sie uns einen differenzierten Deutungsschlüssel zur Verfügung stellen. Sie lassen uns Entwicklungen schon im Keim erkennen und geben uns damit die Chance, uns darauf einzustellen. Sie zeigen uns, wo wir in Gefahr sind, aus der natürlichen Ordnung des Tao herauszufallen, und auf welche Weise wir wieder auf den „rechten Weg“ zurückkehren können.
Der Befragungskontext
Wenn wir das I Ging befragen, überlassen wir uns ganz bewusst dem Zufall. Wir schalten uns dabei gewissermaßen in den Fluss der Zeit ein und erhalten im Antworthexagramm ein qualitatives Zeitzeichen, das die Bedeutung des Augenblicks erhellt. Diese bewusste Begegnung mit dem Zu-Fall wird zum Beginn eines sinnvollen Dialogs mit den übergeordneten Kräften, die unser Leben lenken.
Es hat also nichts mit Wahrsagerei zu tun, wenn wir das I Ging befragen. Das Orakel zeigt einfach den Zusammenhang der Gegenwart mit einer möglichen Zukunft auf, die aber nicht vorherbestimmt ist. Die Zukunft ist wie eine Wolke von Möglichkeiten, aus der wir durch die Fokussierung unseres Geistes bestimmte Alternativen in die manifeste Wirklichkeit hineinziehen. Das I Ging lässt uns einen Blick auf die noch unsichtbaren Keime werfen, die wir schon angezogen haben und die sich angenehm oder unangenehm auswachsen werden, wenn wir den eingeschlagenen Weg beibehalten. Damit erhalten wir eine Orientierungshilfe bei unseren Fragen. Das Wissen um Sinn und Qualität des aktuellen Moments macht es uns leichter zu entscheiden, ob wir jetzt aktiv eingreifen sollen, ob wir auf unserem Standpunkt beharren sollen (Yang) oder ob es vielmehr darum geht, nachzugeben, abzuwarten und loszulassen (Yin).
Im Allgemeinen wenden wir uns an ein Orakel, wenn wir mit unserem Verstandeslatein am Ende sind und feststellen müssen, dass wir in einer Sackgasse stecken. Im Allgemeinen fühlen wir uns dann aufgewühlt, verwirrt und überfordert, Bewusstes und Unbewusstes gehen getrennte Wege. In solchen chaotischen Lebenslagen ist das irrationale I Ging das Mittel der Wahl. Das Orakel beseitigt das Durcheinander zwar nicht, doch es transzendiert es und offenbart uns damit eine neue Ebene der Einsicht. Es kann uns wieder mit uns selbst verbinden, indem es uns an einen Nullpunkt zurückführt, wo alles offen ist. Nachdem unser Kopf mit seinen Lösungsversuchen nicht weit gekommen ist, vertrauen wir uns jetzt dem Zufall an - ein Manöver, das die Kontrollwünsche unseres Ego konstruktiv ad absurdum führt.
Die richtige Haltung
Wer zum I Ging greift, sollte ernsthaft und konzentriert sein. Nur dann besteht die Chance auf eine klare Kommunikation mit der dahinter stehenden Intelligenz. Vermutlich werden auch Sie das I Ging mit der Zeit automatisch immer mehr wie ein reales Gegenüber behandeln, wie einen wertvollen Freund, dem man mit großem Respekt begegnet. Am besten können Sie von dieser Begegnung profitieren, wenn Sie sich ausreichend Zeit nehmen, emotional ganz bei Ihrer Frage sind und Ihren unruhigen „Affengeist“ halbwegs zum Schweigen bringen. Nur wenn wir offen und aufnahmebereit sind - welche Antwort da auch kommen mag – sind wir auch fähig, den Sinn der Lage zu erfassen.
Es kommt immer wieder vor, dass das I Ging seinem eigentlichen, spirituellen Zweck entfremdet wird: Manchen Menschen fehlt der notwendige Respekt, sie fragen nur, um sich die Zeit zu vertreiben oder die innere Leere zu füllen. Andere suchen nach Wissen, um damit ihre Mitmenschen zu kontrollieren. Manche meinen, sie könnten das I Ging instrumentalisieren, um den Launen ihres Ego zu dienen – möglicherweise versuchen sie sogar, es wie ein Zirkuspferd vorzuführen. Und andere stellen verbohrt immer wieder dieselbe Frage, weil sie die schon erhaltene Antwort nicht akzeptieren wollen. Ein solcher Mangel an Achtung und Vertrauen führt dazu, dass die Verbindung zur kosmischen Intelligenz abreißt und das Orakel sich verweigert. In diesem Fall erhalten wir plötzlich sinnlose und verwirrende Botschaften. Das I Ging kennt diese Problematik sehr genau, denn im Hexagramm 4, „Die Jugendtorheit“ geht es exakt darum. Da heißt es im Urtext:
Beim ersten Orakel gebe ich Auskunft.
Fragt er zwei-, dreimal, so ist das Belästigung.
Wenn er belästigt, so gebe ich keine Auskunft.
All das gibt uns die beruhigende Botschaft, dass das I Ging im Grunde nicht missbraucht werden kann. Sobald wir dazu neigen, uns in irgendeiner Weise davon abhängig