I Ging. Andrea Seidl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andrea Seidl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783844263381
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der irdischen Machtverhältnisse, so dass die jeweilig herrschende Oberklasse sich auf die „himmlische Ordnung“ berufen konnte.

      Mit seiner Übersetzung hat Wilhelm zwangsläufig einen weiteren Filter hinzugefügt, der den Stempel seiner Epoche trägt: Der Zeitgeist Ende des 19. Jahrhunderts war von Imperialismus, Kapitalismus und Industrialisierung geprägt. Wie im damaligen China herrschte auch in Deutschland ein feudalistisches System, das Hierarchien, Sitte und Staatsmoral hochhielt. In der patriarchalen Gesellschaft hier wie dort galt das Weibliche wenig. Gleichzeitig herrschte eine ausgeprägte Prüderie, die durch Wilhelms Protestantismus noch bekräftigt wurde. Diese verklemmte Haltung reibt sich mit dem Urtext, der die Sexualität als mächtigen Aspekt des Kosmos anerkennt und bejaht.

      Darüber hinaus machte Wilhelm wohl auch Zugeständnisse an das naturwissenschaftliche Denken seiner Zeit, indem er sich in Vielem darauf beschränkte, die zutiefst esoterischen Hintergründe des I Ging nur anzudeuten.

      Diese Verzerrungen mindern Wilhelms Leistung nicht. Sie sind die unvermeidbaren Begleiterscheinung jeglicher menschlichen Tätigkeit. Dennoch müssen wir uns bewusst machen, dass solche Filter existieren und dass ein überzeitliches Weisheitsbuch wie das I Ging niemals „fertig“ ist, niemals eine zementierte, absolute Form hat, auf die man sich berufen kann. Es lebt mit uns und verändert sich mit uns und unserer Zeit.

      Die Schwierigkeiten der Übersetzung

      Wilhelm stand bei seiner Übersetzung vor grundlegenden Problemen: Weder die chinesischen Schriftzeichen, noch die darin vermittelten Bilder sind eins zu eins in eine westliche Sprache transferierbar. Der Urtext gibt seinem Übersetzer solche Probleme auf, dass er jedem, der nicht darauf spezialisiert ist, größtenteils unverständlich bleibt.

      Das beginnt schon damit, dass die chinesische Schrift sich ja als Bilderschrift entwickelt hat und von daher unmittelbar an unsere ganzheitliche, rechte Hemisphäre richtet, ganz anders als die Lautschriften aus unserem Kulturraum. Gleichzeitig sind ihre Schriftzeichen grundsätzlich mehrdeutig. Es gibt keine Unterscheidung nach grammatikalischem Geschlecht, nach Singular oder Plural. Und da auch Zeitangaben und Pronomen fehlen, schwebt der Text merkwürdig in der Luft. Die Urtexte des I Ging beschränken sich zwar meist auf nur sechs Zeichen, doch diese lassen sich auf viele verschiedene Weisen übersetzen – mit zum Teil gravierenden Abweichungen. Damit steht der Übersetzer vor einem tatsächlich unlösbaren Problem. Es ist fast, als hätte er einen Tintenklecks des Rohrschach-Tests vor sich, in den er die unbewussten Inhalte seines eigenen Geistes hineinprojiziert…

      Neben der Unschärfe der Schriftzeichen sind auch viele spezifische Begrifflichkeiten, die im I Ging vorkommen, wenig fassbar. Schon bei der Übersetzung des Taoteking grübelte Wilhelm lange über dem Begriff „Tao“, auf dem ja die ganze Philosophie des I Ging aufbaut. Bei Laotse heißt es: „Das Tao, das mitgeteilt werden kann, ist nicht das ewige Tao“. Nur, wenn es nicht benannt werden kann, wie soll man es dann übersetzen? Wilhelm entschied sich für „der Sinn“. Andere Autoren wählten ähnlich vage Worte wie „der Weg“, „der Weltengang“ oder sie beließen es gar bei „das Tao“. Nun ist das I Ging voll von solchen Begriffen: Es spricht von „Edlen“ und „Gemeinen“, vom „großen Mann“ und vom „Überschreiten des großen Wassers“… All diesen Worten liegen komplexe Gedankengebäude und Konnotationsfelder zugrunde, die man kennen und verstehen muss, um etwas damit anfangen zu können. Auf den unvorbereiteten westlichen Leser wirken diese Texte deshalb erst einmal mysteriös bis unverständlich.

      Das I Ging beinhaltet viele uralte Bilder, die noch aus einer Zeit des vorwissenschaftlichen Denkens stammen. Es nimmt Bezug auf den schamanischen Seelenvogel und andere mythische Tiere, es verwendet Bilder aus Astrologie, Astronomie und Geomantie. Wie soll ein Übersetzer sich in all diese komplexen Wissensgebiete einarbeiten?

      Angesichts der beschriebenen Fülle von Schwierigkeiten und verzerrenden Filtern wird klar, wie relativ jede Übersetzung des I Ging bleiben muss, auch die von Richard Wilhelm. Es ist schlicht unmöglich, dem Anspruch auf eine vollkommen „richtige“ Übersetzung gerecht zu werden. Daher können alle Übersetzungen nicht mehr als ein Vorschlag sein, der gefärbt ist durch das Verständnisniveau und das Weltbild des Übersetzers.

      Das mag zunächst unbefriedigend klingen, doch es ist auch eine Einladung an uns, aktiv zwischen den Zeilen zu lesen und uns das Recht zu nehmen, eigene Assoziationen und Weiterdeutungen zu entwickeln.

      Neuinterpretationen

      Mittlerweile ist Richard Wilhelms Maßstäbe setzende Übersetzung fast 100 Jahre alt. Seine Sprache ist längst nicht mehr zeitgemäß, das Weltbild gründlich veraltet. Dementsprechend haben zahlreiche jüngere Autoren den Versuch unternommen, das I Ging moderner zu formulieren und von seiner feudalistischen Ideologie zu befreien. Einige von ihnen sind ebenso eingehend und ernsthaft in die Spiritualität dieses Werks eingetaucht wie dereinst Wilhelm. Dann gibt es eine Anzahl von eher akademischen Veröffentlichungen, die sich allerdings als ziemlich schwer verdaulich erweisen. Und schließlich sind viele „Light“-Versionen auf dem Markt, die die Gedanken des I Ging auf das Niveau trendiger Fastfood-Spiritualität verkürzen.

      Ich lege Ihnen hier eine Version vor, die vor allem psychologisch orientiert ist. Ich spreche zwar kein Wort Chinesisch, doch durch eine gründliche Sichtung der Literatur und vor allem die spirituelle Vertiefung in den Sinn der Hexagramme ist ein ernsthaftes neues Werk entstanden. „Mein“ I Ging wächst und verändert sich täglich, auch wenn die Erkenntnisse dieses aktuellen Moments jetzt in Buchform fixiert werden. Was hier vor Ihnen liegt, entspricht meinem persönlichen Verständnis zu diesem ganz bestimmten Moment und hat keinen Anspruch auf Ewigkeit.

      I Ging und Wissenschaft

      Als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gehört das I Ging in die Branche der Geisteswissenschaftler, vor allem der Sinologen. Dort wird es im Allgemeinen sehr akademisch erforscht, ohne große Rücksicht auf seinen spirituellen Gehalt. Sollten Sie gar einem konventionellen Vertreter der Naturwissenschaften etwas vom I Ging erzählen, hört dieser meist nur solange aufmerksam zu, bis er registriert, dass das I Ging ein Orakelbuch ist. - Natürlich: Orakel widersprechen dem etablierten materialistisch-rationalen Weltbild und finden deshalb in naturwissenschaftlichen Kreisen allenfalls lächelnde Verachtung.

      Rein auf Logik gepolte Menschen bestehen darauf, dass der Zufall sinnlos und chaotisch sei. Dabei sind die allerneuesten wissenschaftlichen Modelle gar nicht mehr so weit von der Möglichkeit entfernt, dass im „Zufall“ tatsächlich Bedeutung steckt. So hat die Chaosforschung herausgefunden, dass im Universum Ordnung eher die Ausnahme ist, während der Zufall erstaunliche Gesetzmäßigkeiten aufweist…

      Doch wandern wir ein Stück in der Zeit zurück. Einer der ersten westlichen Wissenschaftler, die sich mit der Denkweise Chinas befassten, war der deutsche Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 -1716). Zu seiner Zeit galt er als der Entdecker des mathematischen Binärsystems. Als ihm eine Tafel mit den Hexagrammen des I Ging in die Hände fiel, musste er verblüfft feststellen, dass dessen Grundbausteine genau mit seinem binären System übereinstimmten (Yin = 0 / Yang = 1)1. Diese uralte mathematische Methode ist heute aktueller denn je, da sie an der Basis der digitalen Datenverarbeitung steht. Kein Wunder, dass manche das I Ging scherzhaft als den ältesten Computer der Welt bezeichnen.

      Der Aufschwung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert propagierte die Welt als Maschine. Heute haben die Theorien von Einstein und Heisenberg das alte mechanistische Paradigma abgelöst und zeigen die Welt aus einem veränderten Blickwinkel. Die moderne Quantenphysik ist im Grunde eine Bestätigung der Kosmologie des I Ging. Hier wie dort gilt: Es gibt keine stabilen oder absoluten Größen. Alles ist gerade dabei, etwas anderes zu werden. Alles kommuniziert miteinander. Gegensätze sind eins. Es gibt keine festen Grenzen zwischen Dingen oder Ereignissen...

      Werner Heisenberg erkannte im so genannten „Beobachterprinzip“, dass Subjekt und Objekt untrennbar miteinander verbunden sind. Albert Einstein stellte fest, dass Materie und Energie quasi austauschbar sind, dass Zeit und Raum engstens zusammenhängen… All das hört sich geradezu mystisch an. Und tatsächlich gelangt man, wenn man die Erkenntnisse