Der große Gesellschaftsphilosoph Konfuzius, ein Zeitgenosse Laotses, hatte zunächst nur Hohn und Verachtung für die alten Orakelpraktiken übrig. Doch als er sich selbst mit dem I Ging befasste, trat ein Sinneswandel ein. Heute zählt Konfuzius zu den bedeutsamsten Interpreten des I Ging. Er verfasste gemeinsam mit seinen Schülern zehn Anhänge zur seiner Deutung. Der enorme Einfluss der konfuzianischen Philosophie auf die chinesische Gesellschaft reichte bis in die Neuzeit. Über 2000 Jahre hinweg bestimmte sie die gemeinsame Weltsicht der Chinesen, selbst noch nachdem 1911 schon die Republik ausgerufen wurde.
Das zentrale Konzept der von ihm vertretenen, konservativen Lebenshaltung war die Kindesliebe. In ihr sah er den Ursprung aller Tugenden und die Wurzel der Kultur. Konfuzius predigte einen gesunden Menschenverstand, der nach sozialer Ordnung, Gerechtigkeit, Moral, Bildung und allgemeiner Harmonie strebt. Er war gewissermaßen Chinas erster Volkserzieher und Soziologe. Für ihn war der Staat eine große Familie, mit dem Kaiser als Oberhaupt. In dieser Gesellschaft gab es eine klare Rangordnung, die den Status jeder Person festschrieb – wobei Frauen letztlich auf die Rolle von Dienstmädchen verwiesen wurden, denen man weder Freiheit noch Bildung zugestand. Als höchste weibliche Tugend galt die Treue, notfalls bis in den Tod.
Unter dem Konfuzianismus wurde das I Ging zur Staatsideologie. Nun musste jeder, der im Beamtenapparat Chinas etwas werden wollte, sich gründlich damit auskennen.
Ca. 200 v. Chr. wurde das I Ging dann in der heute bekannten Form zusammengestellt. Zur dieser Zeit war es auch längst nicht mehr den Regierungsstellen vorbehalten, sondern wurde in allen Volksschichten benützt, vom Straßenkehrer bis zum Mandarin - es wurde zur „Bibel der Chinesen“. Allerdings hatte es inzwischen auch eine lange Entwicklung durchlaufen, in deren Prozess es mehrfach interpretiert und gefiltert wurde – natürlich immer im Sinne der herrschenden Klasse. Es ist also kein Text aus einem Guss, sondern besteht aus einer Sammlung von Schriften, die sich über zwei Jahrtausende summierten und die den Stempel zahlloser Gelehrter und Machthaber tragen.
Erst im 16. Jahrhundert ereignete sich wieder eine bahnbrechende Veränderung im höchst traditionsorientierten China, die große Konsequenzen für die Verbreitung des I Ging hatte. In das damals politisch geschwächte Land kamen die ersten europäischen Missionare, die staunend vor seinen mächtigen kulturellen Wurzeln standen. Nun setzte ein reger geistiger Austausch mit Europa ein, der viele dortigen Geistesgrößen inspirieren sollte.
Der maßgebliche Übersetzer Richard Wilhelm (1873- 1930)
Unter den Missionaren, die im ausklingenden 19. Jahrhundert nach China kamen, war auch Richard Wilhelm. Sein Name ist inzwischen unauflöslich mit dem I Ging verbunden. In gewisser Weise könnte man ihm sogar das Verdienst zurechnen, dass er das Buch der Wandlungen in die moderne Zeit hinüberrettete.
Der junge evangelische Theologe ging 1899 mit seiner Frau in den Missionsdienst nach Tsingtau, einem Fischerdorf auf halber Strecke zwischen Peking und Shanghai. Für 21 Jahre sollte er in seiner neuen Wahlheimat China bleiben. Voller Idealismus machte sich Richard Wilhelm an das schwierige Studium der chinesischen Sprache, er gründete eine Schule, richtete ein Hospital ein. Da er sich ohne rassistische Vorurteile aufrichtig für das chinesische Volk engagierte, erwarb er sich mit der Zeit einen Ruf, der ihm die höchste Achtung der Einheimischen einbrachte. So öffneten sich ihm Türen, die anderen strikt verschlossen blieben: Er traf hohe chinesische Gelehrte und taoistische Priester, die ihm Einblick in die alten kulturellen Wurzeln Chinas gaben. Als selbst sehr gebildeter, philosophisch interessierter und spiritueller Mensch war er tief beeindruckt von diesem fremdartigen und doch einleuchtenden Gedankengut. Er ergriff diese einmalige Chance, bei den letzten Vertretern des chinesischen Geisteslebens in die Lehre zu gehen - kurz bevor Mao und die bald heraufziehende Kulturrevolution die alten Traditionen mit eisernen Besen hinwegfegen sollten.
Bald reifte in ihm die Überzeugung, dass die Weisheit der chinesischen Klassiker auch im Westen bekannt gemacht werden müsse. Zunächst machte sich Wilhelm an die Übersetzung des Taoteking. Dieses Büchlein stellte trotz seines überschaubaren Umfangs bereits höchste Anforderungen an die Übersetzung, da die wenigen Schriftzeichen äußerst unterschiedlich zu deuten sind (bis heute kommen immer neue Interpretationen des Taoteking auf den Markt, die jeweils wieder eine neue Facette dieses Werks beleuchten).
Das umfangreiche und hoch komplexe I Ging war jedoch eine Herausforderung besonderen Formats. Es übte schon lange große Faszination auf Richard Wilhelm aus. Auch hier leistete er Pionierarbeit. Er machte sich das Werk einerseits umfassend vertraut, indem er es in seinen Alltag einbezog. Andererseits suchte er das Gespräch mit Gelehrten, die ihm die vielschichtigen esoterischen Hintergründe aufschlüsselten. Über zehn Jahre hinweg feilte er an der Übersetzung dieses Buches, das ihm heilig war, weil er darin einen vollständigen Spiegel des Kosmos erkannte. Diese tief schürfende Arbeit veränderte ihn auch als Mensch, sie verwandelte ihn allmählich vom Theologen zum Mystiker.
Als Wilhelm in den zwanziger Jahren in das nach dem ersten Weltkrieg völlig veränderte, depressive und materialistische Deutschland zurückkehrte, erwartete ihn ein Kulturschock. Nach so vielen Jahren im Reich der Mitte konnte er sich nicht mehr mit den Deutschen identifizieren und schwor sich, persönlich dafür zu sorgen, dass das kostbare kulturelle Erbe Chinas nicht verloren ging. 1924 wurde sein Hauptwerk, die Übersetzung des I Ging, zum ersten Mal veröffentlicht und stieß sogleich auf großes Interesse: Carl Gustav Jung, Albert Schweitzer, Hermann Hesse, Martin Buber, Karlfried Graf Dürckheim … – die Liste der Intellektuellen ist lang, die mit Wilhelm in Kontakt traten. Auch wenn der Autodidakt Wilhelm jetzt Karriere machte – als Kulturattaché, Hochschullehrer der Universität Peking und ordentlicher Professor für Sinologie in Frankfurt, konnte er sich doch mit der etablierten Wissenschaft in Deutschland und ihrem mechanistischen Weltbild nicht mehr anfreunden. Er blieb im Herzen der Seele Chinas treu. 1930 starb er an einer Tropenkrankheit.
Die Übersetzung
Als in den Zwanziger Jahren in Deutschland die weltweit erste Übersetzung des I Ging erschien, war das ein Meilenstein für unseren Zugang zur östlichen Spiritualität. Seit seiner Veröffentlichung wächst die Aufmerksamkeit, die das alte Buch der Wandlungen im Westen erfährt. Vor allem seit den Sechzigern wird es im Zeichen des New Age und der Selbstfindungsbewegung immer populärer. Gleichzeitig verliert es in seinem Herkunftsland, dessen Gesellschaft sich dem Materialismus verschrieben hat, dramatisch an Bedeutung.
Richard Wilhelm hatte als Autor eine Herkulesarbeit vollbracht, die sich nicht auf die reine Übersetzungsleistung reduzieren lässt. Ein Werk vom spirituellen und philosophischen Rang des I Ging muss zunächst einmal aus der Tiefe verstanden werden. Und das gelang Wilhelm in einer Weise, die sein Werk noch heute einzigartig macht. Er assimilierte die Weisheit vieler Jahrtausende und goss sie in die Form seiner Worte. Das Ergebnis ist nicht einfach eine Übersetzung, es ist nach wie vor „die“ Übersetzung des I Ging, an deren Horizont sich alle anderen messen müssen.
Obwohl sich Wilhelm nach Kräften um Genauigkeit bemühte und seine Übersetzung durch mehrfache Rückübersetzungen ins Chinesische absicherte, war auch er ein Kind seiner Zeit und damit auch ihrer Vorurteile und geistigen Beschränktheiten.
Problematische Filter
So wie das I Ging uns deutschen Lesern heute vorliegt, hat es viele verschiedene Filter durchlaufen, begonnen bei den ersten kulturellen Überformungen durch die Dschou-Dynastie und den Konfuzianismus. Vor allem die Geisteshaltung des Neokonfuzianismus kollidiert mit den wertungsfreien Urgedanken des Buchs der Wandlungen. Die zu Wilhelms Zeiten offizielle Interpretation behauptet, dass der ganze Kosmos hierarchisch gegliedert sei: oben der Himmel, unten die Erde; oben die Männer, unten die Frauen; oben die Herrscher, unten das Volk... Mit der Frau und den weiblichen Werten wird ganz allgemein das Yin herabgewürdigt und mit Attributen wie „böse“, „gemein“, „niedrig“