Wortwörtlich bedeutet I Ging: „Buch (Ging) vom Werden und Vergehen (I)“ oder, so hat es sich eingebürgert: „Buch der Wandlungen“. In diesem kurzen Titel steckt schon die zentrale Idee der chinesischen Philosophie: dass alles in Bewegung und nichts von Dauer ist, oder wie es Heraklit formulierte: dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, weil „alles fließt“.
Im I Ging verdichtet sich das Weltbild der alten Chinesen, ein Modell des Kosmos aus vorpatriarchaler Zeit, als die Menschen sich noch im Einklang mit dem Ganzen fühlten. Dieses spirituelle Meisterwerk mit universellem Gültigkeitsanspruch stammt nicht aus der Hand eines einzigen Autors, es wurde von Generationen von Schamanen und Weisen zusammengetragen, die im innigen Kontakt mit der kosmischen Wirklichkeit standen. In diesem Buch bilden die sichtbare Wirklichkeit und die unsichtbare, geistige Welt noch eine Einheit, ganz so wie es das esoterische Gesetz des Hermes Trismegistos ausdrückt: „Wie oben, so unten“ (oder auch: „Wie innen, so außen“ – und umgekehrt). Dieses Buch offenbart also ein durch und durch ganzheitliches Weltverständnis, in dem auch die Zeit symbolische Qualitäten aufweist.
Ja, und dieses steinalte Buch aus dem fernen Osten will auch für uns, hier und heute, gültig sein. Es hat den Anspruch, die Gesamtheit aller kosmischen Gesetzmäßigkeiten und ihrer Auswirkungen in einem Code von 64 Strichmustern zu umschreiben. Damit bietet es sich uns als wertvoller Ratgeber für die Entscheidungen unseres Alltags an.
Viele Menschen sind überrascht und betroffen, wenn sie sich zum ersten Mal an das I Ging wenden – denn es kommt ihnen entgegen wie ein lebendiges, bewusstes Wesen mit größter Einfühlungskraft. Es vermittelt uns das starke Gefühl, von einer unsichtbaren Präsenz gesehen zu werden, was sich zunächst geradezu unheimlich anfühlen kann. Doch mit der Zeit kann es zu einem intimen Freund werden, zu einem persönlichen Coach, ja, zu einem spirituellen Lehrer.
Mir hat das I Ging schon oft den Kopf gewaschen, wenn mein Ego sich aufgeplustert hatte, und mich in anderen Situationen wieder liebevoll aufgemuntert und an meine Ressourcen erinnert. Jenseits unserer alltäglichen Moralvorstellungen verfolgt es eine eigene Zielrichtung, die ausschließlich auf unser spirituelles Wachstum hinzielt. Nach vielen Jahren der Erfahrung mit dem I Ging kann ich sagen: Ich weiß, dass es funktioniert. Für das Warum fehlen mir beweiskräftige Erklärungen, auch wenn ich natürlich meine persönlichen Lieblingshypothesen habe.
Dieses merkwürdige alte Buch hat schon viele Menschen in seinen Bann gezogen, auch hier bei uns im Westen. Carl Gustav Jung, der über die Archetypen der Welt forschte, experimentierte damit und kam zu dem Ergebnis, es zeige einen Ausblick auf den unsichtbaren Plan des Lebens. Dieser ungewöhnliche Forscher besaß den Mut, seinen spottenden Zeitgenossen zum Trotz zu bekennen, dass er den Aussagen des I Ging vertraue. Und er versuchte, über die Dynamik des kollektiven Unbewussten aufzuzeigen, warum seine Antworten stimmen. Hermann Hesse war vom I Ging ebenso tief beeindruckt. Er verarbeitete seine Begegnung mit dem Orakel im komplexesten seiner Bücher, dem Spätwerk „Das Glasperlenspiel“. Darüber hinaus standen auch große Wissenschaftler wie Werner Heisenberg und Künstler wie Bob Dylan fasziniert vor jener Weisheit, die alle wissenschaftlichen Beweise transzendiert.
Historischer Hintergrund
Vorgeschichte
Die Ursprünge des I Ging liegen in der Jungsteinzeit (ca. 3000 v. Chr.). Damals gab es noch keine geschriebene Sprache, so dass jegliches Wissen mündlich weitergegeben wurde. In unserem typisch modernen Hochmut neigen wir dazu, die Menschen von damals als „Primitive“ zu bezeichnen. Doch es ist gut möglich, dass sie uns auch Einiges voraushatten, da sie noch im ungestörten Einklang mit der Natur lebten – sowohl mit der Natürlichkeit ihres eigenen Wesens als auch mit ihrer Umwelt. Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat das als „participacion mystique“ bezeichnet, als mystische Teilhabe am Göttlichen. Heutzutage schauen wir fast ein wenig neidisch auf diese „edlen Wilden“, die wohl in einer Art paradiesischen Symbiose mit dem Kosmos lebten. Das idyllische Bild, das wir von ihnen malen, macht uns bewusst, wie fremd und verloren wir uns selbst in unserer Welt fühlen und in welchem Maße wir das Gespür für das harmonische Mitfließen im Großen Ganzen verloren haben.
Dieses Gefühl von Abgetrenntheit scheint physiologisch mit der Weiterentwicklung der Sprache und des linkshemisphärischen, rationalen Denkens zusammenzuhängen, die unsere rechte, ganzheitliche Hirnhälfte ins Hintertreffen brachte. So stolz wir auch auf unseren hoch differenzierten Intellekt sind – durch ihn kam uns auch etwas Wesentliches abhanden: das Gefühl heimischer Geborgenheit in der Welt.
Im Zuge dieses evolutionär fortschreitenden Entfremdungsprozesses wurde schließlich besonders eingeweihten Menschen die Aufgabe übertragen, die Verbindung zum Göttlichen zu erneuern. So schlug die Geburtsstunde der Religion. Durch Trancen und ekstatische Zustände versuchten die archaischen Schamanen den Kontakt zu den versperrten Erfahrungswelten wiederherzustellen. In ihren außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen „sahen“ sie überzeitliche Zusammenhänge, die sowohl das Diesseits wie auch die Welt der „Götter“ betrafen. Diese seherische Funktion der Schamanen im alten China wurde mit der Zeit immer mehr an Orakelmethoden delegiert: Zunächst las man in der Musterung der Rückenpanzer der heiligen Schildkröte, später griff man zu Schafgarbenstengeln – dem traditionellen Werkzeug der I Ging-Befragung.
Taoismus
In jenen noch matriarchal geprägten Zeiten entstanden auch die Wurzeln des Taoismus, der in vielem auf die Kosmogonie des I Ging zurückgreift, sich aber auch unabhängig davon entwickelte, um dann wieder auf die Ausdeutung des I Ging zurückzuwirken.
Der Taoismus ist seit jeher eine völlig unpolitische, pragmatische Philosophie, die sich an der Beobachtung der Natur orientiert. Die frühen chinesischen Wissenschaftler studierten den Lauf der Sterne und die Abfolge der Jahreszeiten, damit sie die bedrohlichen Launen der Natur, wie Überschwemmungen oder Dürreperioden, besser verstanden und ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert waren. Sie machten bei ihren Beobachtungen die Entdeckung, dass Ereignisse, die zeitgleich auf ganz verschiedenen Ebenen (Wetter, Politik, Kunst, persönliche Beziehungen…) stattfanden, dieselbe Grundqualität aufwiesen. Daraus zogen sie den Schluss, dass Natur und Geist innig verwoben sind und dass alle Erscheinungen in der sichtbaren, materiellen Welt einem verborgenen Rhythmus unterliegen, der seine Wurzeln in der geistigen Welt hat. Das führte zu der Konsequenz, dass wohl derjenige im Leben am besten fährt, der im Einklang mit diesen kosmischen Rhythmen lebt, während jedes Zuwiderhandeln auf Kampf, Konflikt und Niederlage hinausläuft.
Der Taoismus setzt damit auf Werte wie Spontaneität, Natürlichkeit und Bescheidenheit, er schätzt die kleinen Dinge des Lebens. Humor, Muße und Freundlichkeit gelten ihm weit mehr als Erfolg, Wissen und Heldentaten. Sein zentrales Konzept ist das so genannte Wu wei, die Nichteinmischung in den Fluss der Dinge (davon wird später noch einmal die Rede sein…).
Der berühmteste Vertreter des Taoismus ist Laotse, der Autor des berühmten Taoteking - das Buch vom Tao -, der wohl im 6. Jahrhundert v. Chr. geboren wurde. Sein geniales Werk, das voller Paradoxien ist, nimmt etwas vorweg, was erst die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts wiederentdecken sollte: die Einheit der Gegensätze. Wenn wir heute das Taoteking lesen, kommen wir dem Weltbild der I Ging-Autoren nahe, weil beide so eng miteinander verwandt sind. Aus diesem Grund werde ich später, wenn ich Ihnen die 64 Hexagramme vorstelle, immer wieder aus diesem faszinierenden Klassiker zitieren.
Der gesellschaftliche Aufstieg des I Ging
Auch wenn die Legende erzählt, dass der sagenumwobene König Fu Xi vor ungefähr 5000 Jahren das I Ging verfasst hätte, liegt sein tatsächlicher Ursprung im Dunkeln. Orakelpraktiken wurden in China ja über Jahrtausende hinweg benützt. Erst mit der schriftlichen Fixierung unter König Wen (ca. 1150 v. Chr.) kommen wir in den Bereich soliderer Daten. Diese Epoche war davon geprägt, dass das ursprüngliche