Blutspur in Locronan. Jean-Pierre Kermanchec. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jean-Pierre Kermanchec
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742785985
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muss man die Aufgabe in jüngere Hände geben.“

      „Ach, das Alter spielt hier keine Rolle. Körperlich und geistig hätte ich die Leitung noch einige Jahre ausüben können. Aber unsere Statuten sagen, dass man mit 60 Jahren die Leitung an einen Nachfolger übergeben muss.“

      „Hat Sie das traurig gemacht?“

      „Was heißt schon traurig, ich bin zwar nicht erfreut, aber wenn die Statuten es so vorschreiben, dann beugt man sich denen eben.“

      „Dafür haben Sie jetzt mehr Zeit, ihr Leben zu genießen und zu wandern. Sagen Sie, gehen Sie regelmäßig diesen Weg?“

      „Ja, sehr oft. Ich gehe jeden Tag ungefähr sechs Kilometer. Sehr oft führt mich mein Weg hier vorbei.“

      „Haben Sie den Toten gefunden, als Sie sich auf den Weg gemacht haben oder auf dem Rückweg?“

      „Ich bin auf dem Rückweg gewesen, als ich ihn gefunden habe.“

      „Wie lange gehen Sie üblicherweise?“

      „Monsieur le Commissaire, für den ganzen Weg, also für die sechs Kilometer, benötige ich eine Stunde und dreißig Minuten.“

      „Können Sie mir sagen, wie lange Sie von hier aus gegangen sind, bis Sie diesen Punkt wieder erreicht haben?“

      „Das kann ich Ihnen genau sagen. Für die ganze Strecke benötige ich eine Stunde und dreißig Minuten. Bis zu diesem Punkt somit eine halbe Stunde. Ich war also nach einer weiteren halben Stunde wieder an diesem Punkt. Also genau um 10 Uhr 30.“

      „Das ist eine sehr präzise Auskunft.“

      „Monsieur le Commissaire, ich bin Lehrer gewesen, unter anderem für Mathematik. Da werde ich doch noch so eine einfache Rechnung hinbekommen.“

      „Da haben Sie natürlich Recht, aber ich mache auch ganz andere Erfahrungen.“

      „Kann ich mir sehr gut vorstellen, nicht alle meine Schüler haben das jeweilige Klassenziel erreicht.“

      Ewen lachte bei dieser Bemerkung. Wie Recht der Mann hatte.

      „Sie tragen einen Rucksack, das ist eher ungewöhnlich für einen Spaziergang?“

      „Nicht wenn man älter ist, Monsieur le Commissaire. Ich muss immer etwas zu trinken mit mir führen. Mein Arzt hat mir gesagt, dass ich ansonsten in der Sonne austrockne.“

      Ewen nickte und bedankte sich bei Elouan Pennoù und ging wieder zu Paul zurück.

      „Wenn die Aussage unseres Zeugen stimmt, ist Didier Kerduc zwischen 10 und 10 Uhr 15 ermordet worden. Um 10 Uhr 30 ist Pennoù bereits wieder an dieser Stelle gewesen, und um 10 Uhr hat Kerduc noch nicht hier gelegen.“

      „Das gibt uns einen ziemlich genauen Todeszeitpunkt“, meinte Paul und notierte sich die Uhrzeit sofort in sein schwarzes Büchlein. Dann überließen sie die weitere Bearbeitung des Tatortes den Kollegen von der Spurensicherung und fuhren zum Wohnhaus des Toten.

      Es lag nur etwas mehr als zwei Kilometer vom Tatort entfernt, und so hatten sie das Haus des Mannes schnell erreicht. Der Tote hatte seine Hausschlüssel bei sich getragen, so dass sie jetzt die Haustüre öffnen und das kleine, beinahe mittelalterliche Haus betreten konnten. Ein aus Granit gebautes Haus mit kleinen Fenstern und blauen Fensterläden. Die Eichentür, mit dem schwarzen Löwenkopf als Klopfer, öffnete sich erstaunlich leicht, ohne einen Quietschton von sich zu geben.

      Sie betraten den Flur, von dem aus eine Treppe ins Obergeschoss führte. Ewen und Paul sahen sich zuerst die unteren Räumlichkeiten an. In der vielleicht fünf Quadratmeter großen Küche standen neben einer Spüle, einem Gasherd und einem Kühlschrank noch zwei Schränkchen, ein Tisch und zwei Stühle. Alles war ordentlich aufgeräumt. Hier lag kein Portemonnaie herum.

      Das Wohnzimmer, das die Fenster nach hinten hatte, gab den Blick auf einen gepflegten Garten frei. Der bretonische Schrank an der Wand links neben der Tür fiel Ewen sofort auf. Seine Eltern hatten in ihrem Haus auch einen solchen Schrank stehen. Heute finden sich recht gut erhaltene Stücke noch bei den diversen Trocs et Puces und bei den Verkaufsstellen von Emmaüs. Ewen besaß so ein wuchtiges und mit zahlreichen Schnitzereien versehenes Möbelstück nicht. Er öffnete die einzelnen Türen des Schranks und zog die Schubladen auf.

      „Sein Portemonnaie habe ich gefunden“, rief er Paul zu, der sich in dem kleinen Flur umsah.

      „Ein Raubmord scheidet damit aus. Hast du etwas Brauchbares gefunden?“

      „Nein, Ewen, bis jetzt nichts.“

      Ewen sah sich weiter in dem Raum um, der aber nicht den Anschein machte, als ob er durchwühlt worden war. Auf einer Kommode lagen etliche Schriftstücke. Ewen sah sie sich näher an. Es handelte sich um Protokolle von den letzten Sitzungen der Association Ronan, und es ging um die Troménie. Ewen las das letzte Protokoll durch. Hauptthemen waren die geplanten Neuerungen und Erweiterungen der Pardons. Die Wallfahrt sollte den Touristen schmackhafter gemacht werden und die Anzahl der Besucher damit deutlich gesteigert werden. Er las von den Einwänden, die drei der Mitglieder vorgebracht hatten, wobei es im Wesentlichen darum ging, dass der kirchliche Aspekt durch die geplanten Änderungen verwässert würde, und der monetäre Aspekt einen zu großen Einfluss erhielte. Die Abstimmung ergab eine Zustimmungsquote von 80%, und so waren die angedachten Reformen angenommen worden.

      Ewen nahm die Protokolle an sich und sah sich weiter in dem Raum um. Anderes, das mit dem Tod von Kerduc in einen Zusammenhang gebracht werden konnte, war nicht zu finden.

      Auch in den Räumen auf der oberen Etage deutete nichts auf einen Einbruch hin. Ewen wusste nicht so recht, nach was er überhaupt suchen sollte. Er hatte gehofft, irgendetwas zu finden, das einen Hinweis für den Grund der Ermordung aufzeigen würde. Aber nichts dergleichen war zu finden, wenn er von dem Protokoll der Sitzungen absah.

      „Was meinst du, Paul, sollen wir Dustin bitten, das Haus gründlich zu untersuchen?“

      „Ich glaube nicht, dass er hier etwas finden wird, was uns weiterhilft“, meinte Paul.

      „Das sehe ich genauso. Aber sicherheitshalber werde ich ihn bitten, sich umzusehen. Lass uns ins Kommissariat fahren.“

      Ewen musste auf der ganzen Strecke über die Aussage des einzigen Zeugen nachdenken. Wobei der Ausdruck Zeuge schon etwas übertrieben war. Der Mann hatte die Leiche gefunden, aber gesehen hatte er dem Anschein nach nichts. Ewen beschäftigte die Aussage des Mannes trotzdem. Der Tote war zu seinem Nachfolger gewählt worden, wobei er nach eigenen Angaben die Nachfolge nur gezwungener Maßen an den Mann übergeben hatte. Mehrfach hatte er die Statuten des Vereins erwähnt. Konnte er etwas mit dem Tod des Mannes zu tun haben? Warum hatte er den Fund der Leiche gemeldet? Eine Handlung, die eher nicht auf eine Tatbeteiligung hinwies.

      Im Kommissariat begann das übliche Spiel auf Ewens Pinnwand. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dass er alle einzelnen Befunde, Bilder, Hinweise oder Motive auf seiner Pinnwand festhielt. Der Tote stand dabei stets im Mittelpunkt und alle anderen Details gruppierten sich drumherum. Bei dem letzten Fall, den er mit seinem Kollegen, Eric Mortain aus Saint-Lô in der Normandie, lösen durfte, hatte ihm eine solche Pinnwand gefehlt. Es war ja nicht möglich gewesen, im Haus seines Freundes, Georges Ehinger, bei dem er während seiner Urlaubstage mit Carla gewohnt hatte, eine Pinnwand aufzustellen. Für ihn war ein solches Vorgehen aber stets hilfreich.

      Noch waren an der Wand nicht viele Details eingetragen. Immerhin wussten sie wer der Tote war, welche Ämter er begleitet hatte, und sie kannten den ungefähren Todeszeitpunkt. Weitere Ergebnisse würden Dustin und der Pathologe, Yannick Detru, ihnen bestimmt in Kürze übermitteln.

      Ewen betrachtete seine Eintragungen. Neben dem Namen des Toten hatte er den Hinweis Leitung der Troménie geschrieben. Sie mussten sich mit der Association beschäftigen. Vielleicht hatte es in den letzten Tagen Streitigkeiten gegeben, vielleicht waren Drohungen ausgesprochen worden, oder es hatte Unstimmigkeiten gegeben, die zu einer Kurzschlusshandlung geführt hatten. Paul, der mit Ewen im Büro an der Pinnwand stand, notierte ebenfalls Einzelheiten, die er seinem Notizbuch