NO auf Bildungsreise. Bernd Franzinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Franzinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738016772
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»Lustig, dieses Relikt aus glücklichen, unbeschwerten Kindertagen.«

      »Du würdest also deine Kindheit als glücklich bezeichnen?«

      »Ja, das kann ich guten Gewissens behaupten.« Er schnippt mit den Fingern. »Zum Thema ›ABC‹ fällt mir gerade noch etwas Lustiges ein: Kurz nach der Einschulung bin ich an Keuchhusten erkrankt und musste sechs oder acht Wochen zu Hause bleiben. Meine Mutter hat die Zeit genutzt und mit mir die Buchstaben des Alphabets gelernt. Ich war total happy, als ich wieder in die Schule durfte. Voller Stolz habe ich das ABC aufgesagt.«

      Gero klatscht sich auf die Oberschenkel. »Und dann eröffnet mir diese blöde Lehrerin doch tatsächlich, dass ich alles total falsch gelernt hätte. Die einzelnen Buchstaben würde man ganz anders aussprechen. Was glaubst du wohl, wie geschockt ich damals war.«

      »Diesen Schock scheinst du ja inzwischen gut verkraftet zu haben«, bemerkt NO unbeeindruckt. »So, und nun schließt du wieder deine Äuglein und konzentrierst dich intensiv auf deine Grundschulzeit.«

      Gero gehorcht.

      »Welches Bild siehst du auf deiner inneren Leinwand?«

      »Mein altes Schreibheft. Ich glaub es einfach nicht«, freut sich Gero. »Stundenlang mussten wir Buchstaben da reinmalen. Immer und immer wieder diese Dächer.«

      »Dächer?«

      »Pass mal auf«, sagt Gero. Mit der Schuhspitze zeichnet er mehrere Reihen des Buchstabens ›U‹ direkt untereinander in den weichen Sand. »Sieht das nicht aus wie ein Hausdach?«

      »Na ja, mit viel Fantasie«, erwidert NO und kichert blechern. »So habt ihr also schreiben gelernt.«

      »Und lesen und rechnen. Damals gab es ja nichts anderes als diese völlig bescheuerte Nürnberger-Trichter-Didaktik, die aus Frontalunterricht und stumpfsinnigem Üben und Auswendiglernen bestand. Heute dagegen betrachtet die moderne, schülerzentrierte und handlungsorientierte Unterrichtsdidaktik den lehrerzentrierten Frontalunterricht als ein antiquiertes Auslaufmodell, das …«

      »Wenn alles pennt und einer spricht, dann nennt man das Frontalunterricht«, wirft NO ein.

      »Du hast es erfasst«, lobt Gero. »Nein, nein, heute finden wir gottlob in den Gesamtschulen kaum mehr Frontalunterricht vor, sondern Team-Teaching-Modelle und fächerübergreifenden Gruppenunterricht, der immer stärker vom Einsatz moderner Medien geprägt wird. Die Integrierten Gesamtschulen sind die Speerspitzen dieser revolutionären Entwicklung.«

      »Aber bei dir scheint diese altmodische Nürnberger-Trichter-Didaktik doch ganz gut funktioniert zu haben, sonst hättest du es wegen deines bildungsfernen Elternhauses wohl nicht so weit gebracht, oder?«

      »Das kann man schwer vergleichen. In meiner Schulzeit kannte man ja nichts anderes als diesen lehrerzentrierten Unterricht. Deshalb mussten wir alle damit zurechtkommen, ob wir das nun wollten oder nicht.«

      Gero hebt die Schultern. »Na ja, wir haben uns wohl oder übel mit der Kathederpädagogik und dieser schwachsinnigen Paukerei arrangiert.«

      »Die einen mehr, die anderen weniger.«

      »So ist es.«

      »Du mehr, dein Bruder weniger.«

      »Leider. Bei dem war«, Gero tippt mit einem Finger an seine Stirn, »da oben eben geistige Ebbe.«

      »Tja, wenn Ebbe ist, macht es keinen Sinn, Wasser ins Meer zu pumpen«, bemerkt NO altklug. »Bitte erzähl noch mehr aus deiner Schulzeit«, bettelt er und zwinkert herzerweichend mit seinen großen Kulleraugen.

      Gero presst nachdenklich seinen Atem durch die Nase. »Wir saßen damals alle paarweise hintereinander in fest zusammengeschraubten Bänken. Das musst du dir einmal vorstellen, NO. Die haben uns kleine Kinder in diese hölzernen Folterinstrumente hineingepfercht. So etwas ist heutzutage Gott sei Dank undenkbar.«

      »Apropos denken. Ich denke, du bist schon vor ewigen Zeiten aus der Kirche ausgetreten, wieso bedankst du dich dann andauernd bei Gott?«

      Gero macht eine abwiegelnde Handbewegung. »Ach, das ist doch nur so eine Floskel.« Mit einem schalkhaften Lächeln dreht er den verbalen Spieß um: »Apropos Gott. Gibt es ihn nun, oder gibt es ihn nicht? Wenn du wirklich einen IQ von 500 hast und aus dem tiefen Weltall kommst, müsstest du mir diese Frage doch eigentlich beantworten können.«

      »Können schon, aber nicht wollen.«

      Gero legt die Handflächen aneinander und fleht den kleinen Außerirdischen an. »Bitte sag es mir.«

      »Deus est sphaera infinita, cuius centrum est ubique, circumferentia nusquam.«

      »He?«, ist alles, wozu Gero fähig ist.

      »Ja, hast du denn in der Schule nicht Latein gelernt?«, fragt NO verwundert.

      »Keine zehn Pferde hätten mich dazu gebracht, mir das Herrschaftswissen des reaktionären Bürgertums anzueignen.« Angewidert spuckt Gero auf die Erde.

      »Übersetzung gefällig?« Als Gero nicht reagiert, fährt NO fort: »Gott, das ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist.«

      NO macht eine entschuldigende Geste. »Leider ist dieser superschlaue Spruch nicht von mir. Er findet sich im Buch der 24 Philosophen. Aber wie ich dich kenne, hast du noch nie etwas von diesem Buch gehört. Stimmt doch, oder?«

      »Ja, und?«, giftet Gero zurück.

      »Du solltest dich dringend mit der Philosophie beschäftigen. Zumal einige deiner Zeitgenossen behaupten, dass die Erkenntnisse der antiken Philosophen im Hinblick auf Schulpädagogik und Kindererziehung nach wie vor gültig seien.«

      »Alles Unsinn! Philosophie ist nichts als Dummschwätzerei. Ich dagegen bin mit Haut und Haaren Pragmatiker!« Gero reckt eine Faust zum schwarzgrauen Himmelsgewölbe empor. »Es lebe der Pragmatismus. Ich …«

      »Stopp! Mir wird gerade ein Zitat eingespielt. Es stammt von Platon und ist somit über 2000 Jahre alt:

      Wenn Väter

      ihre Kinder gewähren lassen und

      sich vor ihnen geradezu fürchten,

      wenn Söhne

      ohne Erfahrung handeln wollen wie die Väter,

      sich nichts sagen lassen, um selbständig zu erscheinen,

      wenn Lehrer,

      statt ihre Schüler mit sicherer Hand auf den sicheren Weg

      zu führen, sich vor ihnen fürchten und staunen,

      dass ihre Schüler sie verachten,

      wenn die Alten

      sich aber unter die Jungen setzen und versuchen

      sich ihnen gefällig zu machen, indem sie Ungehörigkeiten

      übersehen oder gar an ihnen teilnehmen,

      damit sie nicht als vergreist oder autoritätsgierig erscheinen,

      wenn die auf diese Weise verführte Jugend

      aufsässig wird, sofern man ihr

      nur den mindesten Zwang auferlegen will,

      weil niemand sie lehrte, die Gesetze zu achten,

      ohne die keine Gemeinschaft leben kann,

      dann ist Vorsicht geboten.«

      Gero schürzt die Lippen. »Verstehe den Zusammenhang nicht.«

      »Ich auch nicht«, stimmt NO zu. »Mir ist manchmal schleierhaft, warum ich bestimmte Sätze und Zitate eingespielt bekomme«, ergänzt er.

      »Dann bist du also ferngesteuert?«

      »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«, sagt NO mit wippenden Antennen.

      Gero fixiert die körperfarbenen Fühler, die inzwischen wieder zum Stillstand gekommen