NO auf Bildungsreise. Bernd Franzinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Franzinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738016772
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macht ein mürrisches Gesicht. »Du immer mit deinen blöden Sprichwörtern und Redensarten.«

      »Na ja, wer hat, der hat. Außerdem sind die nicht von mir, sondern von euch Menschen«, kontert NO. »Zurück zu dir: Deine Umgebung hat dich also zu dem gemacht, was du jetzt bist – ist das richtig?«

      »Das kann man so sagen.«

      »Du hast es ja durchaus zu etwas gebracht. Lehrer ist schließlich ein Beruf, auf den man stolz sein kann. Und nun bist du auch noch Mitarbeiter am innovationspädagogischen Indoktrinationszentrum. Noch ein Grund mehr, stolz zu sein.«

      Lächelnd reckt Gero den Hals.

      »Vor allem, wenn man aus einem bildungsfernen Elternhaus stammt und Vater und Mutter nur einen Volksschulabschluss vorweisen können.«

      Gero hebt die Brauen. »Ich war der erste Abiturient in unserer Familie.« Er streckt den Zeigefinger in die Höhe. »Und der erste, der ein Studium abgeschlossen hat.«

      »Im Gegensatz zu deinem Bruder, der nur einen Hauptschulabschluss erreicht hat und seitdem von einem Aushilfsjob in den anderen taumelt.«

      Gero seufzt. »Tja, was soll man da machen? Er ist eben der geborene Versager.«

      NO presst die Fäustchen fest aneinander. »Das verstehe ich nun aber nicht.«

      »Was?«

      »Wie kann er ein geborener Versager sein, wenn die Einflüsse der Umgebung eines Kindes so entscheidend sind für dessen Entwicklung? Ihr beide seid doch in derselben Wohnung bei denselben Eltern und so weiter aufgewachsen – und hattet damit die gleichen Sozialisationsbedingungen.«

      Gero zieht grunzend die Nase hoch. »Ganz so …«

      »Kannst du das bitte noch mal machen.«

      »Was?«

      »Na, das Geräusch wie ein Wildschwein. Das hat sich so affengeil angehört.«

      »Nein«, knurrt Gero und vollendet seinen Satz: »Ganz so einfach ist das nicht, denn die Sozialisationsbedingungen sind bei Geschwistern nie ganz gleich.«

      »Aber doch sehr ähnlich.«

      »Ja, schon«, muss Gero mit zerknirschter Miene eingestehen.

      »Und wieso hat dein Bruder es dann nicht geschafft, einen höheren Bildungsabschluss als seine Eltern zu erreichen, während du sogar studiert und den klassischen Sozialaufsteiger-Beruf ›Lehrer‹ gewählt hast?«

      Da sein Nebenmann schweigt, fährt NO fort: »Übrigens belegen empirische Studien, dass gerade Lehrer, die wie du aus einem bildungsfernen Elternhaus stammen und den sozialen Aufstieg geschafft haben, stark dazu neigen, ihr eigenes Herkunftsmilieu zu verleugnen und zu stigmatisieren.«

      »Was du so alles behauptest.«

      »Mit fatalen Folgen, denn ausgerechnet diese Lehrer verhindern den sozialen Aufstieg derjenigen Schüler ihrer Klasse, die aus der Arbeiterschicht stammen – und die sie doch eigentlich besonders fördern sollten«, legt der kleine Knirps nach.

      »Quatsch.«

      »Am liebsten möchten sie diese Schüler überhaupt nicht unterrichten, weil sie mit deren gesellschaftlichem Background nichts mehr am Hut haben wollen. Ja, nicht selten verachten sie diese Schüler sogar wegen ihrer sozialen Herkunft.«

      »Jetzt redest du aber total wirres, unverständliches Zeug.«

      »Finde ich zwar nicht, aber gut: Zurück zu deinem Bruder. Wieso hast du es geschafft und er nicht?«

      »NO, du gehst mir gewaltig auf den Keks mit deiner ewigen Bohrerei.«

      »Bei dir muss man leider dicke Bretter bohren. Also, weich nicht aus, sondern beantworte lieber meine Frage! Wieso?«

      »Ach Gott, bist du eine Nervensäge«, schimpft Gero. »Gut, dann sage ich es eben in aller Deutlichkeit: Weil ich willensstärker und intelligenter bin als diese Pfeife.«

      »Und das hast du deiner Umwelt zu verdanken?«

      Sichtlich genervt schleudert Gero eine Hand in NOs Richtung. »Ach, lass mich doch in Ruhe.«

      »In der Ruhe liegt die Kraft«, meint NO trocken. »Komm, erzähl mir noch ein bisschen was über deine Kindheit und über deine Schulzeit. Vielleicht wirst du dann ja wieder etwas lockerer. Also los! Beginnen wir mit deinem ersten Schultag.«

      Gero wirft NO einen bösen Blick zu und schweigt demonstrativ. Doch nach einer Weile entspannen sich seine verkrampften Gesichtszüge, und ein Lächeln umspielt seinen Mund. »Mein erster Schultag war das totale Fiasko.«

      »Wieso?«

      »Wir wurden damals nach den Osterferien, also im April, eingeschult. Heutzutage beginnt das neue Schuljahr im späten August oder im September«, fügte er erläuternd hinzu.

      Gero lacht: »Nebenbei bemerkt: Wegen zweier Kurzschuljahre habe ich im Mai, also nach nur acht Jahren Gymnasium mein Abitur gemacht. Eine unfreiwillige G8-Turbo-Schulzeit, wenn man so will.«

      NO verzieht keine Miene, denn er weiß mit dieser Information nichts anzufangen. Deshalb paraphrasiert er: »Also nach den Osterferien war dein erster Schultag.«

      »Ja, und der ging wirklich total in die Hose. Für das Klassenfoto mussten wir uns mit unseren schweren Schultüten im Hof aufstellen – direkt unter einer blühenden Birke!« Gero blickt NO erwartungsvoll an. Doch der kleine Kerl versteht nicht, worauf er hinauswill.

      Deshalb schiebt Gero erläuternd nach: »An diesem Tag wurde mir zum ersten Mal schmerzlich bewusst, dass ich Allergiker bin und unter starkem Heuschnupfen leide. Die blöden Birkenpollen haben mir derart zugesetzt, dass ich einen schweren Asthmaanfall bekam und sogar ins Krankenhaus musste.« Er lächelt und schüttelt den Kopf. »Das war mein erster Schultag.«

      »Aber du warst doch nicht ewig krank.«

      »Nein, natürlich nicht. Gleich am nächsten Tag bin ich dann wieder in der Grundschule angetreten, diesmal allerdings ohne Schultüte.« Gedankenversunken reibt sich Gero den Handrücken.

      »Erzähl doch einfach mal munter drauflos, was dir gerade so einfällt«, fordert NO.

      Gero schaut ihn fragend an: »Wo soll ich denn da anfangen?«

      »Schließ die Augen und warte, bis ein Bild in deinem Kopfkino erscheint.«

      Gero tut, wie ihm geheißen. »Das gibt’s doch gar nicht, meine alte Fibel«, stößt er kurz darauf begeistert aus. »Die hatte ich ja ganz vergessen.«

      »Was ist eine Fibel?«

      »Ein Buch, mit dem man in der Schule lesen lernt.«

      »Beschreib mal ihr Aussehen.«

      »Die Fibel ist bunt, sehr bunt. Kein Wunder, denn sie heißt ›Meine bunte Welt‹. Der Buchdeckel erinnert an ein Gemälde der naiven Malerei. Drei Kinder sitzen auf einer Holzbank. Das sind Hans, Heiner und Elsa.«

      »Woher weißt du, wie die Kinder heißen?«

      »Weil sie mir das Lesen beigebracht haben. Die drei haben uns damals durch das gesamte erste Schuljahr begleitet«, erläutert Gero. »Jeder Satz, jede kleine Geschichte hat sich um diese drei Geschwister gedreht.« Er lacht. »Einer meiner Lehrerkollegen hat seine eigenen Kinder tatsächlich Hans, Heiner und Elsa getauft.«

      »Und sie selbstverständlich auch nicht an einer Gesamtschule, sondern an einem Gymnasium angemeldet«, kann sich NO nicht verkneifen. »Was ist noch auf dem Buchdeckel?«

      Man sieht Gero an, dass es in ihm brodelt. Doch er beherrscht sich und antwortet: »Hinter den Kindern stehen Bäume mit dunkelgrünen Blättern, auf denen Vögel und ein Eichhörnchen sitzen. Zwischen den Ästen lächelt eine orangegelbe Sonne auf die Kinder herab.«

      Gero räuspert sich und fährt anschließend fort: »Außerdem sehe ich eine Katze, einen Hasen, einen Igel und einen Hahn. Der buntgefiederte Gockel sitzt