Am nächsten Tag stand Berlin auf dem Programm. Es war Donovans ausdrücklicher Wunsch, die ehemalige Hauptstadt zu besuchen. Da seit der Luftbrücke der Amerikaner in den Jahren 1948/49 die berühmte Berliner Luft und die Berliner Schnauze jedem US-Burger ein Begriff waren, wollte sich auch Donavan die Ausstrahlung der Stadt nicht entgehen lassen. Sie flogen von Frankfurt nach Berlin-Tempelhof, in „eine Stadt, die wird, aber noch nicht ist“, wie es Felix empfand. Eine historische Mitte gab es in Westberlin nicht mehr, zur City mutierte Charlottenburg und der Bezirk Tiergarten. Sie spazierten auf dem Weltstadt-Boulevard Ku´damm, tranken in einer Kreuzberger Eckkneipe „Molle und Korn“ und besichtigten das Monument der Teilung der Stadt, die Berliner Mauer. Sie wohnten im Hotel Kempinski, eroberten die Stadt mit U-Bahn und Doppeldecker. Die Berliner Luft erwies sich als schmutzig, die Berliner Schnauze servierte ein Junge in einem Speiselokal an der Havel. „Ick liebe dir, ick liebe dich. Wie´s richtig is, ick weeß es nich.“ Hier konnte Donovan auch seine kulinarischen Vorurteile überprüfen, in dem er sich Eisbein, Sauerkraut und Weizenbier einverleibte.
Letzte Station der Rundreise war Heidelberg, ein Muss für jeden Amerikaner, der Deutschland besucht. Auf das Schlossfoto konnte also nicht verzichtet werden. Die wohlgepflegte Ruine imponierte dann auch Donovan. Sie schlurften in Riesenlatschen durch den Königssaal, bewunderten das Heidelberger Fass und das Apothekenmuseum.
Abends im »Hirschen« bei Spätzle und Geschnetzeltem diskutierten sie über die Methoden der Unternehmensleitung. Donovan war erstaunt über die langen Entscheidungswege und undurchsichtigen Hierarchien in deutschen Unternehmen.
„Das dauert doch viel zu lange und ist nicht effizient. Bei uns steht die Tür zum Büro des Chefs immer offen. Jeder kann mit ihm reden. Natürlich kommt man aber nur, wenn man ein wirkliches Problem hat.“
Felix versuchte sich an einer Typologie des deutschen Managers, so wie er sie in seiner Bank beobachtete. ,,Da gibt es den Stillen, der ist selbst für die engeren Mitarbeiter kaum auffindbar. Sein Zepter ist das Telefon, so hinterlässt er keine Spuren. Er scheut sich davor, offen Verantwortung zu übernehmen. Ganz anders der Gernegroß, der irgendwie zu kurz gekommen ist. Er muss sich profilieren und versucht allem und jedem seinen Stempel aufzudrücken. Tag für Tag spornt er sich zu rhetorischen Höchstleistungen an. Selten sind die Charismatischen, die verändern und motivieren. Aber nur eine intelligente Umwelt erkennt ihren Wert, die Zahl der Neider ist zu groß.“ Donovan konnte Felix zustimmen, diese Managertypen kannte er auch aus den Führungsetagen in Amerika. Aber der Job sei auch kompliziert. „Der Job eines Managers besteht schließlich darin, andere Leute dazu zu bringen, das zu tun, was er will. Es hat keinen Sinn, die Dinge zu beschönigen. Der gemeinsame rote Faden zwischen einem Manager, einem General oder einem Präsidenten der Vereinigten Staaten ist der, Menschen für ihre Ziele einsetzen zu können.“ Am nächsten Tag flog Donovan nach New York. ,,Es war eine wundervolle Zeit, in jeder Beziehung“, bedankte sich Donovan. Felix hatte das Gefühl, einen Grundstein für eine Früchte tragende Freundschaft gelegt zu haben.
Aber nicht nur die Festigung der persönlichen Beziehung war ihm wichtig. Felix spürte, dass in der Entwicklung der Computer ein Potenzial für die Zukunft lag, dass hier ein Schlüssel für eine Entwicklung steckte, die alle Bereiche des Bankwesens und möglicherweise das ganze Leben revolutionieren würde. Er wollte von Anfang an mit dabei sein. Er war fasziniert und schon jetzt mit Leib und Seele dieser Entwicklung verfallen. Felix war jetzt am Ende seiner Lehrzeit. Innerlich hatte er diesen Abschnitt längst abgeschlossen, sich weiteren Aufgaben und Zielen geöffnet.
Einige Tage nach Donovans Abreise und eine Woche vor der Abschlussprüfung auf der Höheren Handelsschule und der Industrie- und Handelskammer bestellte ihn Sell zu sich. „Donovan hat geschrieben. Er war ja begeistert von Ihrer Führung durchs Haus und den Ausflügen durchs Land. Gratuliere! Das haben Sie gut gemacht. Die Verbindung zu den Amerikanern ist für uns von großer Bedeutung.“
„Danke, das hat mir auch sehr viel Freude gemacht. Ich habe sehr viel gelernt. Die Entwicklung der Computer in den USA, das ist die Zukunft! Es waren sehr lehrreiche Tage auch für mich.“
„Apropos Zukunft. Sie sind ja jetzt am Ende der Ausbildung. Haben Sie Lampenfieber vor der Prüfung?“
„Nein, gar nicht. Ich bin eher beunruhigt, dass ich so gelassen bin. Aber ich habe mich gut vorbereitet. Ich denke, das wird kein Problem.“
„Nun, dann beginnt ja bald ein neuer Abschnitt. Was haben Sie in den Lehrjahren noch zusätzlich belegt?“
„Ich habe letzte Woche mein Diplom als Bilanzbuchhalter bekommen, in Französisch und Business-Englisch habe ich die Lehrgänge für Fortgeschrittene abgeschlossen.“
„Und für Fremdenführung und Einweisung amerikanischer Gäste kann ich Ihnen auch ein gutes Zeugnis ausstellen. Wie gesagt, Herr Admont, ich suche einen fähigen Assistenten, der mich entlastet und der mir zuarbeitet. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie der Richtige sind. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht?“
„Nachgedacht schon. Sie hatten ja schon früher einmal angedeutet, dass Sie eventuell einen Mitarbeiter gebrauchen könnten. Also, ja, Herr Sell. Ich würde mir das zutrauen. Natürlich muss ich mich einarbeiten, aber ich wäre an dieser Aufgabe sehr interessiert. Ich denke auch, dass ich sie bewältigen könnte.“
„Gut, dann machen Sie erst mal ihre Abschlussprüfung, dann besprechen wir die Einzelheiten.“
Felix Herz hüpfte. Sein Weg, der sich bei dem Gespräch im letzten Sommer schon andeutete, war jetzt klar. Sell war offensichtlich auch sehr an seiner Mitarbeit gelegen. Während des Gesprächs spielte er nervös mit seinen zwei Hornbrillen, die er abwechselnd aufsetzte. Und er wirkte erst wieder ruhig und souverän, als er Felix' Freude über seinen Vorschlag erkannte. Sein künftiger Chef war von ihm und seinen Fähigkeiten überzeugt. Seine Weichen waren gestellt. Wenn das kein Blitzstart war!
Er rief Mirja an, die schon auf ihrem Koffer saß, um das neue Engagement in Saarbrücken anzutreten. Eine Stunde blieb ihnen noch. Sie trafen sich in einem kleinen italienischen Restaurant, um das Ereignis zu diskutieren.
„Sell war sichtlich erleichtert, als er meine Zustimmung hatte. Und ich war wirklich überrascht, dass ihm so viel daran lag.“
„Aber es gab doch schon Signale, erinnere dich an das Gespräch im letzten Sommer, von dem du mir erzählt hast. Und an die Tatsache, dass du ausgewählt wurdest, so einen wichtigen Gast wie Donovan zu betreuen.“
„Stimmt, da muss ein Plan dahinter sein. Mir kam das auch merkwürdig vor, dass ausgerechnet ich für die totale Betreuung Donovans abgestellt wurde.“
„Ich erinnere mich, dass du mehrmals erzählt hast, dass Sell sich intensiv nach deinen Fortschritten in den Fremdsprachenkursen erkundigte. Das war doch auch so ein Zeichen. Das hat er sicherlich nicht bei jedem gemacht. Er wollte dich gezielt fordern. Und fördern.“
„Du hast wahrscheinlich recht. Mir sind die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Ereignissen nicht so klar gewesen. Sicher, die Entscheidung war von Sell von langer Hand vorbereitet. Das können keine Zufälle sein. Wahrscheinlich hat auch Vogt seine Hand im Spiel. Ich denke schon, dass er ein positives Urteil über mich abgegeben hat.“
„Prost, Herr Assistent. Sieht man Sie denn mal wieder in Saarbrücken? Vielleicht, wenn ich das Kätchen spiele oder das Gretchen?“
Felix spürte Mirjas Hoffnung, aber er hielt sich bedeckt. „Möchten tät ich schon gern, aber ob es mit den Können so weit her ist, das kann ich noch nicht sagen, my Lady. Warten wir ab, was kommt. Es war eine schön verrückte Zeit mit dir, Mirja.“
Ihr Abschiedskuss war sanft, ihre Finger streichelten leicht über seine Wangen. „Und pass auf, wenn du mal wieder am Erdbeereis naschst!“
Was ist Liebe? dachte Felix. Ein sehr tiefes Gefühl war das sicher nicht, was er für Mirja empfand. Aber es war doch mehr als ein Sommerflirt. Vielleicht ist Liebe schon, wenn eine Frau eine Frau ist, überlegte er kurz vor dem Einschlafen nach diesem ereignisreichen Tag.
Die