„Herr Sell möchte Sie sprechen. Gehen Sie bitte gleich zu ihm.“
Herr Sell war das für den Bereich Organisation zuständige Vorstandsmitglied. Ein Stratege, entscheidungsfreudig und durchsetzungsfähig, mit analytischer Begabung. Dr. Vogt, der mit seiner intellektuellen Ader eher bedächtig und gründlich agierte, hatte Felix angedeutet, dass er Hochachtung und Respekt vor diesem tatkräftigen Boss hatte. Er hatte schon vielfach die Weichen im Unternehmen erfolgreich gestellt.
Zaghaft klopfte Felix an. Das „Herein“ kam von Fräulein Sindermann, der Sekretärin von Direktor Sell. Fräulein Sindermann im schwarzen Kleid mit Faltenrock und mit weißem Stehkrägelchen, Herrin über zwei Telefonapparate, lachte in die Muschel und schrieb etwas auf einen Stenoblock. Mit dem Kopf bedeutete sie Felix, sich auf einen der zierlichen schwarzen Besuchersessel mit den simplen Metallfüßen zu platzieren.
Je bedeutender der Mann, desto größer das Vorzimmer, dachte Felix, während er im tiefschwarzen, weichen Teppich einsank und sich auf die Sesselvorderkante an einen elegant geschwungenen Nierentisch setzte. Eine gediegene, vornehme Atmosphäre, die Neumodisches mit Altbewährtem verband. Er schätzte, dass das Vorzimmer doppelt so groß war wie Dr. Vogts Büro und dreimal so groß wie das von Abteilungsleiter Bauer aus der Hollerith-Abteilung. An den Wänden standen Bücherregale mit verschieden farbigen Aktenordnern. Eine silberne Gießkanne zierte den Blumenständer. Links neben einem hohen Doppelfenster saß eine jüngere Frau und tippte auf einer Schreibmaschine. Ein Bote klopfte an, transportierte auf einem fahrbaren Untersatz Aktenstapel zu dem Schreibmaschinen-Fräulein am Fenster, die Felix bald als Frau Binder kennen lernen sollte. Fräulein Sindermann, nun ganz gemessen und ernst, legte den Hörer auf. Das schwarze Telefon meldete sich. „Ein Gespräch für Herrn Direktor. Herr Admont ist da“, sagte Fräulein Sindermann noch, nachdem sie den Namen des Anrufers durchgegeben hatte. „Es kann nur noch Stunden dauern“, tröstete sie Felix. ,.Wenn er das Gespräch beendet hat, sind Sie dran“. Felix lächelte beklommen und schielte auf die Titelseite der FAZ, die vor ihm auf dem Tisch lag. Adenauer hatte irgendeinen Streit mit dem Koalitionspartner FDP, Thomas Dehler, der hitzköpfige FDP-Vorsitzende, hatte ihn brüskiert. Adenauer forderte jetzt seinen Kopf. Felix hat nie erfahren, wie Dehler darauf reagierte, denn nun musste er zu Sell.
„Guten Morgen, Herr Direktor Sell.“
„Lassen Sie gefälligst den Direktor weg! Einen Direktor gibt es in jedem Flohzirkus. Und damit wollen wir uns doch nicht vergleichen. Sie sind also Herr Admont. Ich freue mich wirklich, Sie kennen zu lernen. Habe schon sehr viel von Ihnen gehört. Vor allem Brauchbares, nur keine Angst.“
„Bezieht sich das auch auf meinen Bericht über die Hollerith Abteilung?“
„Ja, da haben wir nicht schlecht gestaunt. Dr. Vogt hat ihn mir zur Kenntnisnahme zugeleitet. Wie sind Sie denn auf den kühnen Gedanken gekommen, dass die Arbeit ausgelagert werden sollte?“
„Ich habe ja ausgeführt, wie kompliziert die Problemlage und auch schließlich der Lösungsvorschlag war. Ich habe es mir nicht leicht gemacht.“
„Das merkt man. Ihre Ansätze und Gedanken sind originell. Und schlüssig. Allerdings muss ich natürlich die Sache noch einmal prüfen und durchrechnen, ob sie wirklich durchführbar ist. Schließlich hatten Sie ja auch nicht Zugang zu allen Geschäftsunterlagen und Prognosen.“
„Das wäre eine lohnende Aufgabe. Ich konnte natürlich nur die Informationen einbeziehen, die mir auch zugänglich waren.“
„Sagen Sie, Sie sind jetzt im 2. Lehrjahr. Wissen Sie schon, wie Sie sich nach der Ausbildung orientieren wollen? Sie sind doch im Hause schon ein bisschen rumgekommen?“
„Ich weiß noch nicht so ganz genau, was ich machen werde. Aber strategische Aufgaben, Planung, Organisation, das macht mir Spaß. Ich kann das natürlich nur begrenzt beurteilen, denn die Aufgaben waren ja noch nicht so umfangreich.“
„Sicher, Sie müssen noch viel lernen. Aller Anfang ist schwer. Und Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Aber ich könnte vielleicht irgendwann einen tüchtigen Mitarbeiter gebrauchen. Organisationsentwicklung, wie wir sie betreiben, das setzt ja strategisches Denken voraus. Hätten Sie Interesse an der Materie?“
„Ja, sicher. Natürlich. Das wäre eine große Chance. Das würde mich interessieren.“
„Das freut mich. Ich denke, da sollten wir zwei jetzt auch strategisch vorgehen. Neben dem Talent braucht man zur Organisationsentwicklung Basiswissen. Fremdsprachen, Bilanzsicherheit, das waren die ersten Bausteine. Darauf bauen wir dann auf. Organisationsstruktur, Unternehmensführung und volkswirtschaftliche Aspekte, das wären die nächsten Felder, wenn Sie die wirklich beackern wollen. Mein Leitspruch ist: handeln, nicht predigen. Wenn ein guter Geist in einer Organisation herrscht, so bedeutet das, dass die Kraft, die man aus ihr herausholt, größer ist als die Summe der hineingesteckten Anstrengungen und Aufwendungen. Das geschieht natürlich nicht auf mechanischem Weg, obwohl eine Struktur notwendig ist, ein gewisses Verfahren, um Kraft zu transportieren. Es geschieht über die Menschen, ihre geistige Kraft, ihren Willen zur Leistung. Und dem geht eine richtige Bewertung voraus. Bewertung muss sich auf Leistung gründen. Und da haben Sie ja schon was vorgelegt, Herr Admont. Also strengen Sie sich an. Machen Sie sich auf den Weg!“
Felix schwirrte der Kopf. Erst mal sortieren. Erst mal Ruhe. Das könnte die Chance sein, ein Weg in eine höhere Laufbahn, bei der er gestalten könnte. Und eine interessante Aufgabe. Sell verlangte sicher viel, aber er setzte auch Maßstäbe, an denen er wachsen konnte. Er wollte gefordert werden. Und nun hatte einer erkannt, dass man ihn fördern müsse.
An diesem Sommertag rannte Felix abends nicht zur Straßenbahn, um in aller Eile auf den Anschlusszug am Hauptbahnhof aufzuspringen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, zum Verdauen. Ein Sommer mit blauem Himmel lag heiß über Frankfurt. Menschen hetzten durch die Straßen, Feierabendstimmung. In den Geschäften Menschenschlangen, nicht, weil es zu wenig zu kaufen gab, sondern weil die Leute endlich wieder alles kaufen konnten. Und was da alles über den Ladentisch ging: Bananen und Buttercremetorten, Ananas und Apfelsinen, Eisbein und Eierlikör. Kurz vor Geschäftsschluss hasteten die Menschen durch die Straße. Frauen mit luftigen Kleidern schwebten vorbei. Manche heftete ihren Blick auf Felix, der sie mit seinen 190 Zentimeter weit überragte. Schöne Frauen, junge Frauen. Eine sinnliche Atmosphäre schien die Stadt aufgeladen zu haben. Felix setzte sich in ein Cafe an die Zeil, leistete sich den Luxus eines Fruchteisbechers mit frischen Erdbeeren und atmete tief durch.
Durch Frankfurts Straßen flanierten die seltsamsten Geschöpfe: Schlank ja grazil mit dunklen Wuschelköpfen und ärmellosen Kleidern. Reizende Blondinen mit aufregendem Augenaufschlag, Rothaarige mit engen Röcken. Wieso war ihm das noch nie aufgefallen? Eine Sinnestäuschung, weil er in Hochstimmung war? Ja und nein – erkannte er, langsam nüchtern werdend. Frauen standen nicht auf seinem Programm. Noch nicht. Die Frauen in der Bank erschienen ihm geschlechtslos, die Mädchen im Dorf hatten keinen Reiz. Sicher, er hatte eine Wirkung auf die dummen Gänse. Warum kicherten die immer, wenn er vorbei kam? Aber sie hatten nur Stroh im Kopf. Nichts war reizvoller als seine Zukunft in der Bank! Trotzdem tat es gut zu wissen, dass die Chancen bei den Frauen nicht schlecht waren. Und ein kleiner Flirt war sicher nicht zu verachten.
Wie peinlich. Schon kleckerte Erdbeer-Eissoße über sein weißes Hemd.
„Oh, Entschuldigung, das wollte ich nicht. Das tut mir schrecklich leid. Ist der Platz noch frei?“ Sie war blond, sie war grazil mit großen grünen Augen und Sommersprossen auf der Stupsnase. Soll ich Ihr Hemd in die Wäscherei bringen?“, fragt sie gespielt harmlos.
„Nein, das kann ich schon selbst besorgen. Aber mit diesem Hemd kann ich Sie nicht ins Kino begleiten!“
„Oh wie schade, wo wir doch verabredet waren. Dann holen wir das nach. Haben Sie Sonntag Zeit? Und es muss ja nicht immer Kino sein. Wie wäre es mit Theater? Ich habe noch Freikarten zu Molières Eingebildetem Kranken.“
„Da sag ich doch nicht nein. Ernsthaft? Zur Premiere? Das ist ein Angebot!“ „Ich mache immer ernsthafte Angebote.