Der späte Besucher. Wolfgang Brylla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Brylla
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742759900
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waren. Vor allem zwei Paare am Nachbartisch ordnete er dem Seminar zu. Sie entsprachen in ihrem Aussehen und der Art, wie sie miteinander sprachen, seiner Vorstellung von Menschen, die das Esoterische lieben und gerne zu solchen Seminaren reisen. Er nannte sie „Esos" oder „Ökos". Es war ungerecht, so über Menschen zu urteilen, die er nicht kannte. Das wusste er, aber so war er nun einmal und er fühlte sich nicht gut damit. „Das fängt ja gut an. Wie halte ich es drei Tage mit denen aus? Wenn's gar nicht geht, fahre ich halt wieder", dachte er und war erleichtert über den Notausgang, den er sich da anbot.

      Entgegen seinen Befürchtungen war der folgende Tag gar nicht so schlimm. Die meisten Frauen und Männer, die er beim Frühstücksbuffet traf, waren äußerlich ganz normal. Er fragte sich, warum die wohl hier waren. „Na ja, ich bin ja auch da", dachte er. Aber es beruhigte ihn, dass es auch „Normale" hier gab, mit denen er „normal" reden konnte. Natürlich gab es auch einige dieser „Esos", aber sie waren nicht einmal in der Mehrzahl.

      Er führte nette Gespräche mit den anderen an seinem Tisch, die, wie es sich herausstellte, auch zum ersten Mal bei einem solchen Seminar waren und neugierig auf das warteten, was sich ihnen bieten würde. Gemeinsam gingen sie nach dem Frühstück zu dem Saal, der als Seminarraum ausgewiesen war.

      An die hundert Menschen fanden in dem großen Raum Platz. Einige saßen schon auf den blau gepolsterten Stühlen, andere standen an Tischen, die an der Wand aufgestellt waren und auf denen Bücher und CD's lagen. Viele Plätze waren noch nicht besetzt, so dass Albert noch die Qual der Wahl hatte, was ihn immer sehr forderte. Sollte er hinten bleiben oder einen Platz in den mittleren Reihen suchen. Auf gar keinen Fall würde er sich nach vorne setzen. Da würde jeder mitbekommen, wenn er eher ging und deshalb würde er bis zum Schluss sitzen bleiben müssen. Diesem Zwang würde er sich auf gar keinen Fall unterordnen. In einer der vorderen Reihen machte Albert die Frau mit der roten Mütze aus. Er erkannte sie auch ohne die rote Mütze an ihren lockigen Haaren und dem Lächeln, das sie ihm schenkte, als sie ihn erkannte. Sie sah wirklich gut aus. Leider waren fast alle Plätze in ihrer Nähe besetzt. Außerdem saß sie schon verdammt weit vorne. Von hinten winkte ihm ein Mann zu und Albert erkannte den Gast, den er gestern am Aufzug getroffen hatte. Er erinnerte sich, dass dieser sich als Helmut vorgestellt hatte. Er zeigte auf einen freien Stuhl neben sich. Erleichtert winkte Albert der Frau zurück und schlängelte sich durch die hinteren Reihen, bis er den Platz neben dem Mann erreichte. Freudig begrüßte ihn der andere. Er schien kein Kommunikationsheld zu sein und war offensichtlich froh, jemanden zu kennen. Auch Albert war froh, einen Ansprechpartner zu haben und nicht wie ein einsamer Mensch in diesem Saal zu erscheinen. Er setzte sich auf den angebotenen Stuhl und streckte bequem die Beine vor sich aus. Sie redeten ein wenig über dies und das, wobei der andere immer wieder von seiner Frau erzählte, die schon dreimal solch ein Seminar besucht hätte und sich so verändert hätte. Jetzt sei es an ihm etwas zu tun, sonst würden sich ihre Persönlichkeiten allzu weit in verschiedene Richtungen entwickeln. Er habe schon einige Bücher zu diesem Thema gelesen und auch der Seminarleiter hätte ja schon sehr gute Bücher verfasst, die er alle kenne. Schließlich wollte er vorher wissen, auf was er sich da einlässt, auch wenn es ein Geschenk seiner Frau sei, welches er ohnehin nicht hätte ablehnen können, ohne eine Trennung zu riskieren. Albert merkte, wie sehr ihn dieser Mann langweilte und er bereute, sich keinen Platz neben der Frau gesucht zu haben. Aber er blieb sitzen, nickte und dachte, „du armer Wicht, glaubst du das eigentlich selber, was du mir da erzählst. Wie sehr hat deine Alte dich unterm Absatz.“ Glücklicherweise wurde die Musik, die bisher im Hintergrund gelaufen war, lauter, so dass der Mann aufhörte, zu reden. Albert kam endlich dazu, sich in Ruhe umzublicken. Die dicken, weißen Kerzen, die an den Seiten neben einer kleinen Bühne standen, hatte er schon wahrgenommen, als er hereingekommen war. Jetzt sah er auch die Blumenarrangements aus weißen Rosen drum herum, die in ihm eine angenehme, fast sakrale Stimmung auslösten.

      Das Adagio, gesungen von „Il Divo“, klang aus den großen Lautsprechern. Albert gefiel die Musik. Es gab Musik, die ihn in eine andere Welt versetzen konnte und diese gehörte dazu. Er fühlte Rührung und Sehnsucht und bemühte sich, so gelassen wie möglich zu wirken. Schließlich zeigte man nicht inmitten von Fremden seine Gefühle, da war er ein wahrer Meister des Verbergens.

      Der Seminarleiter betrat den Raum. Es war ein kleiner Mann um die Fünfzig, mit Bauchansatz und rasiertem Schädel, bekleidet mit Jeans und einem dunkelroten Hemd. Obwohl er klein war und unspektakulär gekleidet, ging von diesem Mann eine ganz besondere Ausstrahlung aus. Das erkannte Albert sofort und war deshalb auf der Hut. Solchen Menschen begegnete er mit ausgesprochener Vorsicht, denn es bestand die Gefahr, dass ihr Einfluss auf ihn zu stark sein könnte. Und das fürchtet Albert wie den Teufel, dass irgendjemand ihn vereinnahmen, ihm seine Freiheit rauben und so zum Sklaven seiner Wertvorstellungen machen könnte.

      Der Mann erzählte einige Geschichten und sprach von dem inneren Kind in jedem Menschen, von Vergebung, Anerkennung und Neuanfang. „Als Kinder glauben wir fast alles, was wir lernen, und so verlieren wir die Macht über unser eigenes Leben. Wenn wir unser Bewusstsein zurück erlangen, erkennen wir, dass wir irgendwann zugestimmt haben, all das zu glauben. Und so wie wir in all das Vergangene die Kraft unseres Glaubens investiert haben, sind wir auch die Einzigen, die sich diese Kraft wieder zurückholen können." Er sprach fröhlich und seine Stimme war warm. Albert hörte die Worte und wusste, dass der Mann recht hatte. Er sprach ihm aus dem Herzen oder wollte er nur in sein Herz eindringen? Albert blieb in kritischer Distanz, doch voller Hoffnung auf etwas, wovon er nicht wusste, was es war. Er hörte den Mann sagen, wie wichtig es sei, auch Vater und Mutter zu vergeben für das, was nicht gut gewesen war.

      Zuerst verspürte Albert kurz eine hoffnungsvolle Rührung, die jedoch sofort von einem Schwall von Wut und Ärger verdrängt wurde. Alles sträubte sich gegen die Vorstellung, diesen Menschen zu vergeben. Waren es nicht sie gewesen, die ihn zu dem seelischen Wrack gemacht hatten, der er jetzt war. Der Vater, der nie da gewesen war, wenn er ihn brauchte. Die Mutter, die ihn mit ihrer übergroßen Fürsorge und Angst erdrückte, um ihn nicht zu verlieren. So hatte er gelernt, dass die einzige Chance, zu überleben war, sich wegzuducken, sich klein zu machen und in sich selbst zurückzuziehen. All das erfahrene Leid sollte er ihnen vergeben. Er hatte seinen Frieden mit ihnen gemacht. Das ja. Der Vater war inzwischen verstorben und in den letzten von Altersdemenz geprägten Tagen hatten sie sich angenähert. War es das, was der Mann da vorne meinte? Sicher nicht, aber vielleicht doch ein wenig? Und auch die Mutter, die in einem Altenheim lebte, besuchte er regelmäßig. War das nicht genug?

      Eine Frau neben ihm begann zu weinen. Auch an anderen Stellen im Raum hörte er schluchzen. „Albern," dachte er und versuchte unbemerkt die Tränen, die aus seinen Augen zu kullern begannen, mit einer Hand wegzuwischen. Vorsichtig schaute er zu seinem Nachbarn und sah, dass es diesem ähnlich zu ergehen schien. „Wie peinlich das ist", dachte er. „Kollektives Heulen, das ist ansteckend wie eine Influenza." Die Schluchzgeräusche wurden noch stärker, als Leonard Cohen sein „Halleluja" über die sehr gute Anlage in den Raum schickte. Bei diesem Song musste er sogar heulen, wenn er ihn im Autoradio hörte. Die rauchige Stimme des Sängers drang aus den großen Boxen tief in den Raum und noch tiefer in sein Herz. Immer noch versuchte er vergeblich, gegen die Tränen anzukämpfen. Schließlich ließ er der Sache seinen Lauf und auch er begann zu schluchzen, geschüttelt von seinen ungeliebten Emotionen. Wenn die Dämme einmal gebrochen waren, gab es kein Halten und es war egal, was danach noch folgte.

      Am Ende dieses Tages verzog sich Albert früh auf sein Zimmer. Er lag auf dem Bett, betrachtete das Bild vis à vis, welches ein Lichtwesen darstellte, das ihm die Hand zu reichen schien. Wie lächerlich, diese kindliche Darstellung von etwas, was man gar nicht darstellen kann, fand er. Das erinnerte ihn an die Bildchen, die sie als Kinder in der Kirche geschenkt bekamen, immer wenn sie zur Kommunion gegangen waren. Er dachte mit Hass an diese Kirche und den verlogenen Pfaffen, der den Kleinen Angst machte, indem er ihnen mit Teufel, Hölle und Fegefeuer drohte. Albert hatte es geglaubt damals und abends in großer Angst im Bett gelegen, wenn er am Tag Dinge getan hatte, die der Pfaffe zu den sündigen Taten zählte. Niemand war da gewesen, der den Kleinen beschützt hätte. Auch seine Eltern glaubten dem Mann der Kirche oder widersprachen ihm zumindest nicht. Und denen sollte er nun vergeben? Das ging doch gar nicht. Wut stieg in ihm auf, wenn er daran dachte. Er ergriff seine Jacke und ging in die dunkle Nacht hinaus. Der Himmel war sternenklar und die Luft