Der späte Besucher. Wolfgang Brylla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Brylla
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742759900
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die Vergangenheit, sondern folgte den Sternen, bis die Eiseskälte ihn ins Haus zurücktrieb.

      Die Nacht war voller seltsamer Träume, die sich in ihren Handlungen zu wiederholen schienen. Ein helles Wesen erschien aus der Dunkelheit. Es breitete die Arme aus und streckte sie ihm entgegen. Angezogen von der Gestalt wollte er deren Hände ergreifen, doch da lösten sich diese in Nichts auf und er stürzte in eine tiefe Dunkelheit. Während er fiel, hörte er ein Lachen. Es war ein böses Lachen. Wieder war da das Wesen, schien ihn auffangen zu wollen, aber er stürzte hindurch und wieder erscholl dieses Lachen. Mehrfach erwachte er, jedes Mal schweißnass, und immer wieder fiel er in diesen furchtbaren Traum. Irgendwann stand er plötzlich vor einer goldenen Tür. Das helle Wesen deutete auf die Tür und hoffnungsvoll öffnete er sie, ging hindurch und - war wieder im Nichts. Er spürte eisige Kälte und Einsamkeit. Er war allein. In der Ferne erklang das bekannte, schreckliche Lachen.

      Ein gnädiger Wecker erlöste ihn von seinen Qualen. Duschen, Kaffee und Frühstück brachten ihn wieder in die reale Welt.

      Auch an diesem Tag versprach der Seminarleiter, dass die Annahme des Kindes in ihnen und die Vergebung an die Ahnen die Befreiung von allem inneren Leid bringen würde. Albert war durch die vorangegangene Nacht in einem halb schläfrigen Zustand. Erstaunlicherweise drangen die Worte nun anders an ihn heran und er fühlte das eine oder andere Mal ein angenehm wohliges Gefühl, während er der Musik lauschte. Der Seminarleiter forderte sie auf, mit dem Kind in ihnen Kontakt aufzunehmen. Er begann innerlich, heimlich, mit seinem kleinen Albert zu sprechen. Es entstand ein schönes Gefühl durch diesen Kontakt, neu und doch altbekannt.

      In der Mittagspause hatte er nur kurz bei den anderen gesessen, ein wenig von dem opulenten Buffet genommen, um bald aufzustehen und zum See hinunter zu gehen. Er wollte alleine sein. Zwar fühlte er sich nicht mehr so unwohl bei den anderen, auch wenn Helmut versuchte, sich wie eine Klette an ihn zu heften. Ohne ihn vor den Kopf zu stoßen, gelang es Albert jedoch, ihn immer wieder loszuwerden. „Der muss das doch mal merken, dass er mich nervt“, dachte er sich. Doch der andere merkte es nicht, weil er in seinem Film war und Albert nur sein Protagonist. Jetzt stand er am Seeufer und hatte das Gefühl, ganz nah bei sich zu sein. Das war ungewohnt. Was konnte er jetzt tun? Lachen, weinen, sich den Kopf zerbrechen? Oder sollte er den Seminarleiter fragen? Ein heftiger Schneefall ließ seine Gedanken in die Gegenwart zurückkehren. Auch war es Zeit, zurückzugehen, denn die Nachmittagsveranstaltung begann in wenigen Minuten und er wollte vorher noch eine Tasse Kaffee trinken. Der Nachmittag verlief wie der Vormittag. Beim Abendessen gelang es Albert, einen Platz am Tisch der Frau zu finden, doch die hatte sich inzwischen mit anderen Teilnehmern angefreundet und schien ihn gar nicht zu beachten. „Wieder mal zu spät“, dachte Albert und bemerkte deshalb nicht ihre kurzen Blicke, die darauf warteten, dass er sich um sie bemühte. Doch Albert tat das, was er immer tat. Er zog sich zurück in sein Schneckenhaus, aß schweigend und stand mit einem höflichen Abschiedsnicken, der Allgemeinheit zugewandt, vom Tisch auf. Er verzichtete auf die Abendveranstaltung, zu der er auch gestern nicht gegangen war, von der aber alle, die dort gewesen waren, geschwärmt hatten. Den ganzen Tag und dann auch noch den Abend mit so vielen Menschen in Gemeinschaft zu erleben, das war zu viel für ihn.

      Auch in dieser Nacht träumte Albert wieder intensiv. Diesmal stand er am Ufer des Nils. Hinter ihm lag der Weg, auf dem in den Zeiten der ägyptischen Pharaonen am Neujahrstag die Statuen der Götter Amun, Mut und Chon in einer heiligen Prozession auf tragbaren Barken zu dem Karnak-Tempel gebracht wurden. Von Ferne hörte er Singen und Stimmengemurmel, konnte jedoch nichts sehen. Die Stimmen verklangen langsam, während ein kleiner Junge in einem schmutzigen, ehemals weißen Burnus erschien. Der Junge lehnte an einer der Säulen des Tempels. Auf einmal war er ganz nah und schnitzte an einem Stück Holz. Er schien ihn nicht zu bemerken, war ganz versunken in sein Schnitzwerk. Albert stand vor dem Kleinen und schaute ihm zu. Er fühlte sich sehr vertraut in diesem Moment. Nach einer langen Zeit erhob sich der Junge und kam auf ihn zu. Langsam hob er die rechte Hand und streckte sie ihm entgegen. Zwischen seinem Daumen und Zeigefinger hielt er einen kleinen Skarabäus.

      „It's for you", hörte er den Kleinen sagen. „I have no money", antwortete Albert, der, wie er jetzt bemerkte, nur ein weißes Hemd, welches ihm bis zu den Knien reichte, trug. „It's for you", wiederholte der Kleine nun eindringlicher und legte den Käfer auf einen Stein neben seinen rechten Fuß. Neben dem Stein bemerkte Albert eine Königskobra, die zusammengeringelt in der Sonne döste. Ohne die geringste Angst sah Albert die Schlange an und bemerkte, wie heiß es war. Als er seinen Blick von dem Reptil zu dem Ort lenkte, an dem der Kleine gestanden hatte, war dieser verschwunden. War er nur eine Fata Morgana gewesen? Doch der Skarabäus lag noch dort. Langsam beugte sich Albert nieder, ohne die schlafende Schlange zu stören und nahm das steinerne Insekt in seine Hand. Die Figur lag kühl und angenehm in seiner Hand. Während seine Finger über den glatten Rücken des Käfers strichen, wurde sein Blick in die Ferne gezogen. Dort sah er wieder den Jungen. Weit entfernt stand der Kleine neben der letzten Säule des Tempels, lächelnd und winkend. „For you", hörte Albert die Knabenstimme von weitem rufen und lachen. Dann verschwand der Junge endgültig in der Weite des grellen Lichtes.

      Ob er noch mehr geträumt hatte, wusste Albert nicht. Er erwachte noch vor dem Läuten des Weckers. Erstaunt erwartete er, einen Skarabäus in seiner Hand zu finden. Doch die Hand war leer.

      Kapitel 3

      "Mitten im Winter habe ich schließlich gelernt,

      dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt."

      Albert Camus

      Albert packte seinen Koffer, denn er wollte allein sein. Als die anderen aufgestanden waren, um in den Seminarraum zu gehen, holte er sich einen Kaffee und ein Brötchen vom Buffet. Er saß im Wintergarten, der zum Frühstücksraum gehörte und schaute in die Wintersonne, die von einem blauen Himmel strahlte. In der Nacht hatte es weiter geschneit und über den Wiesen lag eine dicke Schicht weißen Schnees. An einen Baum gelehnt schien er den Jungen aus dem Traum zu erkennen. Natürlich war es nur eine Täuschung. Aber was für ein seltsam surrealistischer Traum war das gewesen, der ihn bis hierhin in sein Bewusstsein verfolgte. Das Gefühl, welches er bei den Tempeln von Karnak gehabt hatte, war frei von jeder Angst gewesen. Es war, als könne ihm nichts etwas anhaben, nicht einmal die Giftschlange am Boden. Es war, als hätte der Junge - oder war es der Skarabäus – eine große Zauberkraft, die ihn vor allen Gefahren bewahren konnte.

      Nachdem er den Kaffee getrunken und das Brötchen gegessen hatte, zahlte er an der Rezeption sein Zimmer und ging zum Auto. Die junge Frau am Empfang hatte ihn erstaunt angesehen, als er die Rechnung verlangte, aber nichts gefragt. Das war gut so, auch wenn er sich, bereits in Gedanken, so als müsse er sich rechtfertigen, eine Begründung für seine vorzeitige Abreise ausgedacht hatte. Erleichtert, aber nicht überzeugt, das Richtige zu tun, trat er ins Freie.

      Albert wusste, dass er noch nicht nach Hause fahren wollte. Er hatte hin und her überlegt und schließlich einen Entschluss gefasst. Nicht weit von hier lag der Bodensee und erfand, dass es eine gute Idee wäre, dort in das Neue Jahr hinüber zu feiern. Nicht ohne Wehmut steuerte er sein Auto vom Parkplatz. „Schade", sagte er laut. „Schade", wiederholte er und dachte an die Frau und an all die anderen Menschen, die jetzt in dem Raum bei weißen Kerzen und schöner Musik zusammensaßen und darauf warteten, was der Seminarleiter heute für sie bereithielt. „Noch kann ich zurück", schoss es ihm durch den Kopf, während sein Fuß auf das Gaspedal trat und das Auto auf der schneeglatten Fahrbahn ins Schleudern brachte. „Konzentriere dich und fahr los", sagte er sich. Hinter ihm verlor sich das große Haus im wieder einsetzenden Schneegestöber.

      Immer dichter fielen die Flocken und behinderten die Sicht. Sie rasten auf sein Gesichtsfeld zu und erzeugten eine Art Trancezustand, aus dem er sich mehrfach wecken musste. Die Scheibenwischer leisteten Schwerstarbeit und nur langsam kam er seinem Ziel näher. Er war vor Jahren einmal in Lindau gewesen und das Städtchen auf der Halbinsel im Bodensee hatte ihm gut gefallen. Daher hatte er, einer Eingebung folgend, beschlossen, dort den Jahreswechsel zu verbringen. Nach doppelter Fahrtzeit erreichte er schließlich einen Vorort von Lindau. Ein Schild mit der Aufschrift „Grandhotel Georg" wies in Richtung Seeufer. Er folgte der Ausschilderung, ohne nachzudenken. Sie