Der späte Besucher. Wolfgang Brylla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Brylla
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742759900
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Er hatte Krämpfe und sein Darm befand sich auf höchster Aktivitätsstufe. Noch nie hatte er eine solche Veranstaltung mitgemacht. Im Gegenteil, er hatte sich bisher immer abfällig über diese armen Menschen geäußert, die so was nötig hatten. Nicht, dass er sie verachtet hätte. Er war ja tolerant. Da war z.B. die sehr attraktive junge Kollegin gewesen, die regelmäßig zum Familienstellen fuhr oder der alte Bauzeichner, der nach einem Herzinfarkt zu meditieren angefangen hatte. Aber die waren inzwischen nicht mehr in der Firma. Nein, er verachtete sie nicht. Er empfand es nur als Schwäche und war stolz darauf, dass er so etwas nicht nötig hatte. Er erbrachte stets seine Leistung, hatte beruflichen Erfolg und die Unzufriedenheit trank er sich aus dem Kopf. So funktionierte sein Leben seit vielen Jahren, ohne dass er gewahr wurde, dass irgendetwas dabei war, aus dem Ruder zu laufen. „Das Glückssaufen", wie er es nannte, wenn er mit einem Zug eine Flasche Bier leerte und die betäubende Wirkung in sich aufsteigen spürte, funktionierte immer seltener, während die Gefühle von Angst und Traurigkeit immer häufiger und länger bei ihm verweilten. „Noch habe ich aber alles im Griff", sagte er mit zweifelhafter Überzeugung. „Also warum diese Fahrt durch den Schnee?"

      Das mulmige Gefühl quälte noch seinen Bauch, als er seinen Wagen auf den Parkplatz des Tagungshotels steuerte, welches in einer ehemaligen Kurklinik untergebracht war. Die Fahrt hatte ihn durch dichtes Schneetreiben geführt, was seine höchste Aufmerksamkeit erfordert hatte, so dass er kaum an das Seminar zu denken brauchte. Doch jetzt, als sein Wagen zum Stillstand kam, fühlte er sich wie ein verängstigtes Kind. Da er sich solch eine Angst nicht zugestehen konnte, deutete er das als Widerstand gegen das Seminar und die Menschen dort. Er schaute zum Eingang und überlegte, doch noch umzudrehen. Irgendwo ein Hotel suchen, an der Bar etwas trinken, schlafen und am nächsten Tag zurück fahren, das wäre die erleichternde Alternative. Hinter ihm fuhr ein weiteres Fahrzeug auf den verschneiten Parkplatz. Eine Frau und ein Mann stiegen lachend aus dem Wagen. Wie alberne Kinder bewarfen sie sich mit Schnee, bevor sie den Kofferraum öffneten und zwei Koffer herausholten. Er beobachtete die beiden und fand sie übertrieben fröhlich. „Mach, dass du hier wegkommst," sagte eine Stimme in ihm. „Wenn die hier alle so drauf sind, weißt du ja schon, was das für ein Mist wird.“ Also aufbrechen, umkehren und fliehen? „Welch ein Unsinn, jetzt wieder zu fahren,“ machte er sich Mut und versuchte, sich alle schwierigen Situationen ins Gedächtnis zu rufen, die er bisher bestanden hatte. Da gab es viele, aber jetzt wollten ihm keine einfallen. Noch ein Wagen rollte auf den Parkplatz und hielt neben dem seinen. Es war ein kleiner Fiesta, aus dem schon bald eine Frau mit roter Pudelmütze und langen lockigen Haaren ausstieg. Sie sah ihn im Auto sitzen und lächelte kurz. Ihre Augen strahlten, als sie zu ihm hineinschaute. Sie griff über die Rückenlehne des Beifahrersitzes und holte eine kleine Reisetasche von der Rückbank. „Wahrscheinlich tut es die Kofferraumtüre bei der alten Kiste nicht mehr,“ dachte er und schaute der Frau hinterher, wie sie, die Tasche in der Hand, durch den Schnee in Richtung des Tagungshauses stapfte. Ohne das warme Gefühl in seiner Brust bewusst wahrzunehmen, sagte sich Albert: „Also los. So schlimm wird es schon nicht werden", und stieg aus dem inzwischen kalten Auto aus. Er musste sich anstrengen, seine Reisetasche aus dem Kofferraum zu hiefen, denn die zwei Sixpacks Altbier, die er vorsorglich dort verstaut hatte, verliehen dem Gepäck zusammen mit den übrigen Sachen ein ordentliches Gewicht.

      An der Rezeption angekommen, hatte die Frau bereits eingecheckt. Er sah die rote Pudelmütze um eine Ecke verschwinden und blickte ihr nach, bis das Räuspern des Portiers ihn in die Wirklichkeit zurückrief. Hinter ihm warteten schon zwei weitere Teilnehmer. Albert sagte, dass er ein Zimmer reserviert hätte, wobei er viel zu leise sprach, so dass der Portier nachfragen musste. Als er schließlich seinen Zimmerschlüssel in der Hand hielt, bewegte er sich wie im Traum zum Speisesaal, so dass der Portier ihm hinterherrufen musste, dass er in die andere Richtung gehen und den Aufzug zur zweiten Etage nehmen sollte, wo sein Zimmer lag. Albert war das ungemein peinlich. Alle konnten sehen, wie durcheinander er war. Fehler zu machen, und das ganz öffentlich, war für ihn immer eine schmerzhafte Blamage. Er fürchtete, alle würden ihn anstarren, lachen oder abwerten. Am liebsten wäre er im Boden versunken oder einfach wieder nach draußen gegangen, ins Auto gestiegen und losgefahren. Dabei bemerkte er gar nicht, dass niemand auf ihn achtete. Stattdessen stand er vor der Aufzugtüre und wartete mit einem Mann zusammen, bis sich der Aufzug durch quietschende Geräusche bemerkbar machte. Der Mann lächelte ihm zu. Er mochte in Alberts Alter sein und sah auch nicht so ganz glücklich aus, wie Albert fand. Er lächelte unsicher zurück und sie bestiegen gemeinsam den Aufzug. „Auch zum ersten Mal hier?", fragte der Mann. Albert nickte und brummte ein „ja". „Meine Frau hat mir das Seminar zu Weihnachten geschenkt. Sie meint, es würde mir gut tun", sagte der Mann mit einem leichten Zweifel in der Stimme, und Albert fand das beruhigend. „Ich heiße übrigens Helmut. Bei solchen Seminaren duzt man sich ja wohl,“ setzte er unsicher hinzu, als er Alberts Gesichtsausdruck sah. Der andere war also auch nicht aus Überzeugung hier. „Tut man wohl,“ erwiderte Albert. „Ich heiße Albert. Mal sehen, was das hier bringt." So verabschiedete er sich und lächelte dem anderen zu. Nachdem beide die Nummern Ihrer Schlüsselanhänger studiert hatten, bewegten sie sich in unterschiedliche Richtungen auf dem langen Gang. „Bis morgen", rief der andere und winkte. Auch er schien froh, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Albert nickte noch einmal und suchte seine Zimmernummer.

      Der Raum war klein, gemütlich und mit hellen freundlichen Möbeln ausgestattet. Das war schon mal in Ordnung. Seine innere Anspannung löste sich langsam. Mit einem Bier, welches er dem einen Sixpack entnahm, half er seinen guten Gefühlen nach. Die Bilder an der Wand zeigten Darstellungen von Lichtwesen und weißen Wasserfällen, was er als eher kitschig oder vielmehr lächerlich empfand. „Kinderkram", dachte er. Immerhin waren die Bilder schöner als die schwarzhaarigen, leicht bekleideten Carmens oder die in grellen Farben dahingepinselten Landschaften, die man an den Wänden vieler Hotelzimmer vorfand.

      Albert war am Abend vor dem Seminar angereist, um sich ein Bild zu machen. Wovon wusste er nicht, aber er fühlte sich sicherer, wenn er sich in Ruhe auf alles einstellen konnte. Er machte sich gerne vorher ein Bild. „Warum mache ich das", fragte er sich? „Vielleicht, weil ich so die Möglichkeit habe, doch noch abzuhauen, ohne dass es auffällt. Wenn das Seminar schon begonnen hat, wäre es peinlich." „Nur nicht negativ auffallen", dachte er bitter. Wie viel Stress hatte es ihm schon bereitet, zu leben, ohne Stellung zu beziehen und aufzufallen? „Mein Leben besteht aus Absicherungen", dachte er und fühlte Brechreiz aufsteigen, bis sich die Spucke in seinem Mund zusammenzog. War er deshalb hier? „Ich bin halt so", sagte er wie zu seiner Entschuldigung. Aber vor wem entschuldigte er sich? Wieder fühlte er den Brechreiz, doch diesmal meinte er, darin eine gehörige Portion Wut zu erkennen.

      Obwohl er kaum Hunger verspürte, überredete er sich, etwas essen zu gehen. Der Hunger würde sonst kommen, wenn es nichts mehr gab und hier war er auf dem Land. Wenngleich er lieber in der schützenden Hülle seines Zimmers geblieben wäre, machte er sich schließlich, nachdem er noch schnell eine weitere Dose Bier geleert hatte, auf den Weg ins nahe gelegene Dorf. Der Weg hatte ihn durch den kalten Dezemberabend an einem kleinen See entlang geführt. Friedlich spiegelten sich die Laternen des Uferweges in dem ruhigen Gewässer. Der Schnee steigerte den Zauber dieses Ortes. Glitzernde Kristalle und tiefschwarzes Wasser bildeten einen bizarren Kontrast. Albert atmete die eiskalte Luft und sah durch den ausströmenden Atemnebel die Welt um sich herum wie in einem Traum. „Wie romantisch", dachte er und wurde traurig. Warum stand er hier alleine. Niemand war da, mit dem er diese Schönheit teilen konnte. Warum war keine Frau da, die er im Arm halten konnte. In den den Filmen, die er so kitschig fand und die doch Tränen in seine Augen treten ließen, was ihm peinlich war, wenn andere dabei waren, stand in solchen romantischen Situationen immer der Mann mit einer Frau im Arm, die ihren Kopf an seine Schulter legte und die er verliebt auf die Stirn küsste. „An was für einen Schwachsinn denkst du da? Das ist doch nicht das Leben, das sind Fantasien, die es in der Realität nicht gibt. Davon träumt jeder, deshalb werden diese Filme doch gedreht. Es ist unter deiner Würde, dir solch einen Mist vorzustellen.“ Er wusste, dass er unrecht hatte, aber das war unwichtig. Denn die Sehnsucht in seinem Herzen bereitete nur Schmerzen und die galt es, fernzuhalten.

      Im Gasthof bestellte er einen deftigen Braten und einen halben Liter Bier. Die meisten Gäste, die wie er in der Gaststube saßen, sahen nicht wie Einheimische aus. „Wie sehen Einheimische aus?", fragte er sich. Trugen sie Lederhosen und Dirndl? Er machte