Der späte Besucher. Wolfgang Brylla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Brylla
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742759900
Скачать книгу
versuchen will ich ihn.

      Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

      und ich kreise Jahrtausende lang;

      und ich weiß noch nicht:

      bin ich ein Falke, ein Sturm

      oder ein großer Gesang.

      Rainer Maria Rilke

      Kapitel 1

      "Auch die beunruhigendste Gegenwart

      wird bald Vergangenheit sein.

      Das ist immerhin tröstlich."

      Thornton Wilder

      Es war kalt geworden in der Stadt. Ein Tiefdruckgebiet verteilte dunkelgraue Wolken über den aschfarbenen Himmel. Schwarze Krähen saßen und spähten von blattlosen Ästen, ob irgendwo eine Beute zu ergattern sei. Ein Mann ging mit schleppenden Schritten, sich im hochgeschlagenen Mantelkragen verkriechend, durch den Volksgarten, der bei diesem Wetter wie ausgestorben war. Die Wiesen, auf denen im Sommer leicht bekleidete Menschen die Sonnenstrahlen genossen, waren bedeckt von einer gräulichen Patina aus Nebel und Sprühregen.

      „Das ist genau die richtige Umgebung für mich", dachte der Mann. Mühsam und mit außergewöhnlicher Langsamkeit setzte er Fuß vor Fuß, so als würde kein kalter Wind in sein Gesicht fegen. Er schien die Kälte nicht einmal zu bemerken, so sehr war er in seine Gedanken vertieft. Der Mann hieß Albert Lang und wusste in diesem Moment nicht, was er hier tat. Wie ein schwebender Roboter lief er über die matschigen Wege. Erst die helle Leuchtreklame eines Kiosks am Ende des Parks riss ihn aus seinen Gedanken. Langsam näherte er sich der Bude, die einsam in dieser verlassenen Gegend ihre Existenzberechtigung durch ein "Geöffnet-Schild" verteidigte. Der Verkäufer, ein kleiner Mann mit dunklen Haaren, lächelte mit anerzogener Unpersönlichkeit, als Albert eine Flasche Altbier bestellte. Wieselflink glitt er zum Bierkasten, holte eine Flasche Gatz heraus und stellte diese auf die schmale Theke. Albert nickte dankend, zahlte und wandte sich wieder dem immer dunkler werdenden Park zu. Im Gehen öffnete er mit seinem Feuerzeug die Flasche und trank. Er brauchte nur wenige Schlucke, um sie zu leeren. Sein Blick war dumpf auf den dunklen Weg gerichtet. Die entspannende Wirkung des Bieres tat ihm gut. Jetzt nahm er sich wieder wahr. Was war los mit ihm? Am Vormittag hatte er eine Auszeichnung für einen außergewöhnlichen Entwurf erhalten. Die Kollegen hatten ihm gratuliert. Einen Moment lang war er sogar stolz gewesen. Doch dann war sie wieder da gewesen, die Gleichgültigkeit, die ihn seit Tagen und Wochen beherrschte. Wenn er genau überlegte, kannte er dieses Gefühl, seit er auf dieser Welt war. Manchmal erschien es ihm als Angst, dann als Wut oder wie heute als Gleichgültigkeit. Immer hatte es seinen Ausgangspunkt im Magen, als Kloß, als Faust oder als Feuer. Im Beruf hatte er mehr oder weniger großen Erfolg. Auch bei den Frauen kam er gut an, wenn seine Beziehungen auch selten länger als ein paar Monate anhielten. Sogar die eine oder andere große Liebe war dabei gewesen, aber auch die waren schnell vorübergegangen, wie alles, was er erlebte.

      Albert bemerkte, dass er eine leere Flasche in seinen Händen hielt, und ging zurück zum Kiosk, an dem der Besitzer gerade hektisch damit beschäftigt war, die Bude im stürmischen Regen von außen mit hölzernen Verschlägen zu verriegeln. Albert überredete ihn, noch einmal in sein Häuschen zu gehen und ihm vorsorglich zwei Flaschen Bier und ein Päckchen Jägermeister, in dem drei Minifläschchen steckten, zu verkaufen. Der Verkäufer bedankte sich wieder höflich im asiatischen Stil. Kopfschüttelnd sah er dem Mann nach, dem der Regen nichts auszumachen schien.

      Albert schleppte sich zurück in den inzwischen finsteren Park, bis er zu einem Unterstand kam, wo zwei Tische mit im Boden verankerten Sitzgelegenheiten standen, an denen tagsüber alte Männer Karten spielten oder Penner ihren billigen Tetrapack-Rotwein tranken. Er hatte nicht vor, in diesem Zwischenzustand in seine teure Singlewohnung zurückzugehen. Entweder er kehrte gar nicht mehr zurück oder voll betrunken. Niemand erwartete ihn dort. Diese Wohnung hätte eine fünfköpfige Familie bequem aufnehmen können. Sie war Luxus pur oder die Vergeltung für seine Kindheit, wo er ohne eigenes Zimmer aufwachsen musste.

      Völlig durchnässt und betrunken war es Albert gelungen, bis zum Rhein zu kommen, ohne zu wissen, wie er dort hingelangt war. Er hatte das Bier und den Schnaps vertilgt und fragte sich nun, was er hier suchte. „Freiheit?", dachte er. War es das Gefühl von Freiheit, welches ihm der alte Fluss immer wieder bescherte. Am Rhein hatte er schon als verletzter Jugendlicher gesessen und Gedichte geschrieben. Damals hatte er versucht, seine Ängste und Sehnsüchte in Gedichten auszudrücken, wie es viele junge Menschen tun. „Machen die das heute auch noch, bei dem ganzen Hype um Twitter und Facebook", fragte er sich?

      Dieser Strom floss durch diese Stadt und das gab ihm immer wieder Kraft. Es war seine Stadt Düsseldorf, in die Eltern als Flüchtlinge gekommen waren und die sie nie als ihre neue Heimat anerkannt hatten. Doch er war hier geboren und er war stolz auf seine Heimatstadt. Es war eine der wenigen Dinge in seinem Leben, welche ihn glücklich und zufrieden machten. Im Widerspruch dazu träumte er ständig, woanders hinzugehen. Er hatte es schon oft versucht, doch nach einer Reihe von Lebensversuchen an anderen Orten war er immer wieder hierhin zurückgekehrt.

      Am Fluss hatte er sich auf einem großen Stein niedergelassen und in das träge dahin fließende Wasser gestarrt. Was war nur so verkehrt in seinem Leben gelaufen, dass er hier saß, mit zwei Flaschen Bier und drei Jägermeistern im Bauch? Warum konnte er sich nicht mehr freuen? Was sollten diese Magenschmerzen, die ihn seit der Kindheit quälten und immer schlimmer wurden? Auch die schlaflosen Nächte nahmen zu. An seiner Arbeitsstätte, einem renommierten Architekturbüro, hatten sie es noch nicht bemerkt. Zumindest glaubte er das. Wenn er es recht bedachte, schauten die Kollegen zunehmend seltsam, wenn er mit ihnen beim Kaffee saß. Aber das war sicherlich nur Einbildung, na klar! Oder doch nicht? Konnte es ihnen verborgen bleiben, wie schlecht er sich oft fühlte?

      Irgendwann hatte ihn eine der Frauen verlassen, die er wirklich zu lieben geglaubt hatte. Sie war nicht im Streit gegangen oder weil sie einen anderen hatte. Er war ihr einfach mit seiner Art zu viel geworden. „Ich muss an mich denken. Deshalb gehe ich. Du bist ein netter Kerl, aber mit dir zusammen werde ich verrückt." Das oder etwas Ähnliches hatte sie gesagt und hinzugefügt: „Wenn ich du wäre, dann würde ich mir einen guten Therapeuten suchen. Ich meine das ehrlich, weil ich dich mag. Und weil es nie zu spät ist. Auch bei dir."

      Nach der ersten aus verletztem Stolz geborenen Wut und dem Schmerz des Verlassenwerdens hatte er sich nach professioneller Hilfe umgeschaut. Hoffnungsvoll und skeptisch zugleich hatte er fremden Menschen die Erlaubnis gegeben, in seiner Psyche und seiner Kindheit herumzustochern, auf der Suche nach Gründen für die Verzweiflung und die Angst, die ihn quälten. Aber keiner dieser Fachleute hatte ihn mit seinen Therapieversuchen wirklich weitergebracht. Es hatte auch gute Momente gegeben, auch Erfolge, wie sie vor allem von den Therapeuten empfunden wurden. Doch nur selten war das auch sein Eindruck. In erster Linie waren es Gerede, Ratschläge und in der Umsetzung erfolglose Anstrengungen. Immer wieder fiel er zurück in dieses unendlich tiefe, dunkle Loch aus Angst, Hilflosigkeit und Wut. Einmal war da ein sogenannter Coach gewesen, der hatte keine Ratschläge geben wollen. Er hatte behauptet, dass er seine Probleme selber lösen könne, dass alle Möglichkeiten in ihm lägen und er, der Coach, würde ihn dabei unterstützen, diese nutzbar zu machen. Das hatte ihn überrascht und mit Hoffnung erfüllt. „Alles liegt in mir", hatte er sich ungläubig gefragt? Damals hatte er noch nicht gewusst, wie recht er damit hatte. Auch diesen Coach suchte er nicht wieder auf.

      Während er der dunklen Strömung nachschaute, erinnerte er sich an ein Gedicht, welches er als Jugendlicher geschrieben hatte und in dem all seine Verzweiflung zum Ausdruck kam. Ganz deutlich blickte er in seiner Erinnerung zurück. Er sah, wie er am großen Fluss saß, das Heft auf seinen Knien, den Kummer im Herzen und die sehnsuchtsvolle Verzweiflung in seinem Blick. Er war noch jung, voller Lebensdrang und gleichzeitig hoffnungslos.

      Er sah, wie der Junge aufstand und mit von Tränen gefluteten Augen zum Wasser ging. Da, wo die kleinen Wellen auf den Kies spülten, blieb er stehen. Ein kurzer Gedanke, ob er weiter gehen sollte. Doch dazu war er noch nicht bereit, dafür fehlte ihm der letzte Tropfen Verzweiflung. Noch war das Fass nicht voll und die