Der späte Besucher. Wolfgang Brylla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Brylla
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742759900
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nicht hatte sehen wollen. Nun war er hier und ihm wurde bewusst, wie einsam er war. Ja, das war die Kehrseite seines unabhängigen Lebens. Aber wie hieß es so schön: „Du hast keine Chance, also nutze sie.“

      Der Abend ging, die Nacht verlief nahezu traumlos. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Beim Frühstück unterhielt er sich mit seinem Tischnachbarn über belanglose Dinge. Es tat ihm gut, zu reden, und der Mann war irgendwie sympathisch unaufdringlich. Auch der Mann von der Rezeption verhielt sich absolut neutral, professionell zuvorkommend und distanziert. So war es für Albert das Beste, vor allem am Morgen, denn er gehörte zu den Menschen, die man allgemein in die Schublade Morgenmuffel einsortierte und dazu bekannte er sich auch ganz offen. „Achtung, ich bin ein Morgenmuffel, Vorsicht beim Näherkommen", stand in unsichtbaren Worten auf seiner Stirn geschrieben. So begann der Tag ganz nach seinen Vorstellungen und er fragte sich natürlich wieder zweifelnd, ob das so bleiben würde. Das war seine ganz normale Reaktion auf ein gutes Gefühl oder ein schönes Erlebnis. Diese Art zu denken gehörte zu ihm wie der Alkohol oder die Flucht. „Ich merke schon, dass dieser Tag richtig gut beginnt", dachte er belustigt über seine Grübeleien und schüttelte den Kopf. Sein Gegenüber schaute ihn an und erwartete nun offensichtlich, dass er etwas sagen würde. Doch er ließ es bei dem Kopfschütteln und sagte kein weiteres Wort. Auch der andere sprach nichts und so saßen sie schweigend, bis der Kaffee ausgetrunken war.

      Kapitel 4

      Es war der 31. Dezember. Albert hätte nicht sagen können, warum er der Meinung war, dass dieser Tag ein besonderer werden würde. Eigentlich glaubte er es in diesem Moment auch nicht bewusst, sondern meinte erst später, es gespürt zu haben. Er unternahm einen wundervollen Spaziergang entlang des Seeufers. Die Sonne schien wieder strahlend vom blauen Himmel. Es war ein Winterbilderbuchwetter, eiskalt und klar. Er musste die Augen zusammenkneifen, um sehen zu können. Er hatte keine Sonnenbrille auf die Reise mitgenommen, was er nun bereute. Der Schnee hatte bis zum Wasser, welches kontrastreich das Blau des Himmels angenommen hatte und träge ans Ufer waberte, die Landschaft ringsherum in ein weißes Kleid gehüllt. Alte herrschaftliche Villen säumten seinen Weg, die den Reichtum ihrer Besitzer aus vergangenen Zeiten ahnen ließen. Albert stellte sich vor, in einer dieser Villen mit Park zu gelebt zu haben. Wie er dort wilde Feste gefeiert und viele Frauen gehabt hätte. Die Leute hätten über ihn geredet und in den Klatschspalten wäre er ein häufiger Gast gewesen. Eine junge Frau mit sehr kurzem Rock lenkte seine Aufmerksamkeit von den alten Gemäuern auf die Lust der Zeit. Er blickte ihr nach, was sich an sich nicht gehörte, wie er dachte, aber sie war zu schön und sexy, um es nicht zu tun.

      Bald erreichte er Lindau, ein altes Städtchen auf einer Halbinsel, in dem er zwar nicht hätte leben wollen, da es ihm zu provinziell erschien, welches ihn aber wegen seiner alten Häuser und Gassen und der idealen Lage am See begeisterte. Er schlenderte durch die Maximilianstraße, die zugleich Fußgängerzone und Hauptstraße der Inselstadt war. Gut erhaltene Bürger- und Handwerkerhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit ihren Laubengängen, Brotlauben, den geschnitzten Fenstersäulen, Erkern und den teilweise überputzten Fachwerkfassaden fanden sein fachliches Interesse. Die Straßen waren in dieser Jahreszeit wenig belebt. Er sah ein paar Holzbuden auf dem Bismarkplatz vor dem alten Rathaus. Das Rathaus war 1422 gotisch erbaut und 1576 mit einem Treppengiebel in Renaissance-Stil erweitert worden. Ihn faszinierte die kitschige Ausprägung dieses Gebäudes. Die Fassade war zudem von einer großen, überdachten, ursprünglich hölzernen Freitreppe geschmückt, die in einen Erker mündete. Noch kitschiger sprangen ihm die üppig historisierenden Malereien an der Südfront entgegen, mit denen im 19. Jahrhundert landestypisch die Fassade geschmückt worden war und welche die Lindauer Geschichte darstellten. Direkt daneben befand sich das Neue Rathaus. An einem der vom Weihnachtsmarkt übrig gebliebenen Stände kaufte er sich eine heiße Bratwurst und einen Glühwein.

      Während er trank, stellte sich ein seltsames Gefühl ein. Es war, als wäre etwas Bekanntes in seinen Gesichtskreis gelangt. Er schaute sich verwundert um, sah jedoch niemanden. Was war das für ein Gefühl, altbekannt und seltsam fremd? Er trank den Becher leer und ließ ihn noch einmal mit Glühwein auffüllen. Zufällig schaute er, während er an dem heißen Getränk nippte, über den Platz hinweg auf die andere Seite. Dabei blieb sein Blick an einem der alten Häuser kleben, in denen unterschiedliche kleine Läden und Geschäfte in Miniaturschaufenstern ihre Produkte und Dienstleistungen bewarben. Hinter der Fensterscheibe eines der Häuser sah er ein Bild, welches er aus seinem Traum zu kennen meinte. Da wusste er, was dieses Gefühl hervorgerufen hatte. Es waren die Tempel von Karnak, dem heutigen Luxor. Daneben hing ein Bild der Nofretete und daneben der Sonnenuntergang über dem Tal der Könige. Vielleicht war es auch der Sonnenaufgang. Er dachte nicht weiter darüber nach, sondern nahm den halb vollen Glühweinbecher in seine Hand und ging mit zögerlichen Schritten auf das Schaufenster zu, so als könnte sich das Haus jederzeit in einen Tempel verwandeln und der Junge im schmutzig-weißen Kaftan aus der Türe treten. Für einen Moment fragte er sich, was denn nun Realität sei, das, was er im Traum erlebt hatte und nun sehr lebendig in ihm zutage trat oder das, was er jetzt hier sah. War er der Albert, der in Ägypten träumte, durch Lindau zu spazieren oder war er derjenige, welcher in Lindau träumte, in der ägyptischen Wüste sein junges Selbst zu treffen?

      Das Schaufenster gehörte zu einem Laden, in dem man alten Schmuck, Räucherstäbchen und dergleichen unnötigen Kram, wie er fand, kaufen konnte. Obwohl er keinen Bedarf an solchen Dingen hatte, betrat er den Laden. Der Geruch von Räucherwerk und das Klingeln einer Glockenkette über der Tür empfingen ihn wie einen Eindringling in eine Märchenwelt. Eine Frau vom Typ „Eso" saß hinter einem kleinen Schreibtisch und blätterte in einer Illustrierten. „Tag", sagte sie, ohne aufzuschauen. Albert erwiderte ihren Gruß nicht, sondern blickte sich verlegen um und fühlte sich unwohl dabei, in solch einem Laden zu stehen. Was würden seine Bekannten sagen, wenn sie ihn hier sähen? Und was würden sie erst sagen, wenn sie ihn auf dem Seminar gesehen hätten? Na, sie wussten es ja nicht, und das beruhigte ihn. Wahrscheinlich wäre es ihnen auch egal, denn er hatte ja keine richtig guten Bekannten mehr und Freunde schon gar nicht. Wie jedes Mal, wenn er sich irgendwo nicht wohl fühlte, wollte er die Flucht ergreifen, raus und weg und noch einmal von vorne anfangen. So wollte er sich gerade umdrehen, um den Laden zu verlassen, als sein Blick auf eine Vitrine fiel, in der verschiedene Schmuckstücke ausgestellt wurden. Und mitten zwischen Ringen, Ketten und Ohrringen sah er ihn. Er sah aus wie im Traum, so als hätte der kleine Araber ihn dort abgelegt. Es war ein Skarabäus, der dem aus seinem Traum zum Verwechseln ähnlich sah. Vor Staunen hielt er inne. Begeisterung stieg als leichtes Zittern in ihm bis in seine Fingerspitzen auf. „Hallo", rief er. Die Frau las weiter, ohne ihn zu beachten. „Das ist jetzt die Rache dafür, dass ich sie nicht beachtet habe", dachte Albert. „Darf ich sie einmal kurz stören", setzte er erneut an. „Ich würde gerne etwas kaufen." „Natürlich dürfen Sie mich stören, dafür sitze ich ja hier. Aber sie dürfen mich auch grüßen." Das hatte gesessen und Albert spürte, wie er rot wurde. „Die blöde Eso-Kuh, die hat auch noch nichts von Kundenfreundlichkeit gehört. Die hat es wohl nicht nötig, etwas zu verkaufen", dachte er und am liebsten hätte er umgehend das Geschäft verlassen. Aber er wollte den Skarabäus. Also riss er sich zusammen und wartete, bis die Frau zu ihm kam. Er zeigte auf den Jadekäfer und sie holte ihn heraus. Während sie den Käfer in eine kleine weiße Papiertüte tat, sagte sie beiläufig: „Glückskäfer, heiliger Käfer, wurde den Göttern zugeordnet, damals in Ägypten."

      Nachdem er gezahlt und das Wechselgeld entgegengenommen hatte, sagte er beim Hinausgehen: „Ich weiß. Hab' schon mal einen in Luxor gesehen." Mit diesen Worten verließ er den Laden und wunderte sich nicht einmal über das, was er gesagt hatte. Er war nie zuvor in Luxor gewesen.

      Albert lief noch ein wenig durch die Straßen des Inselstädtchens. Als Architekt interessierten ihn gewohnheitsgemäß die typischen Bauwerke jeder Stadt.

      Er kam an die älteste Kirche Lindaus, die Peterskirche, auch Fischerkirche genannt, die schon mehr als 1000 Jahre dort stand. Sie war Petrus, dem Patron der Fischer, die früher diesen Platz bevölkerten, geweiht. An der westlichen Langhauswand befanden sich frühgotische Rötelzeichnungen, die den Heiligen Christophorus darstellten. „All diese Heiligen“, dachte er. „Jeder ist für irgendetwas da. Wie einfach kann man sich das Leben machen.