Zeitenwende. André Graf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André Graf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634362
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aus dem Ärmel schütteln konnte. Sie hör­te ihm konzentriert zu, als er zu erklären begann.

      »Wir befinden uns in zwei unterschiedlichen Räumen, die nebeneinanderliegen. Die Grenze ist durchlässig für Licht, jedoch nicht für Materie. Ich kann dich also sehen, aber nicht berühren, weil meine Hand die Grenze zwischen den Räumen nicht durchdringen kann. Sie bleibt ge­wis­ser­maßen in einem Zwischenraum stecken. Das ist noch nie vorgekommen, oder zumindest noch nie dokumentiert wor­den, aber unmöglich ist es nicht. Fragt sich nur, wie du es geschafft hast, die Grenze zu überwinden und in einen an­deren Raum zu gelangen.«

      Joanne wurde schwindelig. Ihr Vater hatte mit diesen we­nigen, schlichten Worten eine Ungeheuerlichkeit aus­gesprochen, so gelassen, als ob er ihr die Reiseroute des Nach­mittags geschildert hätte. Immerhin wusste sie nun, dass sie nicht wahnsinnig geworden war, sondern dass die Welt um sie herum begonnen hatte, verrückt zu spielen. Die­ser Gedanke beruhigte sie zuerst ein wenig, doch als sie kurz darüber nachgedacht hatte, kam sie zu dem Schluss, dass dies doch die schlimmere der beiden Vari­anten war.

      »Und der Sog hinter Prometheus, wie passt der ins Bild?«, wollte sie wissen. Joanne glaubte – sehr bald wür­de sie diesen Glauben ablegen –, mit jedem Mehr an Wis­sen die Situation ein klein bisschen besser in den Griff be­kommen zu können.

      »Du kannst mir tausend Fragen stellen, meine Ant­worten wären meist nichts als reine Spekulationen.« Cutter leg­te eine kurze Pause ein, während der er die Fach­begriffe in eine allgemeinverständliche Sprache über­setzte. »Die Wissenschaftler haben früher vermutet, dass es zu Ris­sen in der Raumzeit kommen könnte. Diese Lehr­mei­nung ist jedoch schon längst revidiert worden. So etwas dürfte eigentlich nicht vorkommen. Aber wer weiß, wir ha­ben schon so oft unsere Meinung geändert, warum nicht einmal mehr?«

      »Raumzeit?«, fragte Joanne. Natürlich hatte sie als Tochter eines Physikers schon von diesem Begriff gehört, den Einstein vor Jahrzehnten geprägt hatte, doch schien er ihr in diesem Zusammenhang keinen Sinn zu machen.

      Cutter überlegte einen kurzen Moment, bevor er zu er­klären begann: »Jedes Objekt, also auch jeder Mensch, nimmt Raum und Zeit auf eine ganz eigene Art war. Früher haben wir geglaubt, Raum und Zeit seien so etwas wie Kon­stanten, die für jedes Objekt identisch sind. Mit der Re­lativitätstheorie ist das etwas schwieriger geworden. Wenn nun also jeder Mensch Raum und Zeit individuell wahr­nimmt, so stellt sich die Frage, wie denn Raum und Zeit wirklich gestaltet sind. Gibt es überhaupt den Raum und die Zeit, oder werden Raum und Zeit gewissermaßen erst durch den Beobachter geschaffen? Die Antwort ist klar: Es gibt Raum und Zeit, sie sind nicht relativ! Das ist übrigens auch der Grund, warum Einstein den Begriff ›Relativi­täts­theorie‹ eigentlich abgelehnt hat. Jedes Objekt – also auch jeder Mensch – nimmt die Zeit aus einem bestimmten Blick­winkel wahr, sieht also eine andere Perspektive der gleichen Realität. Um diese Realität, Raum und Zeit eben, beschreiben zu können, genügen die herkömmlichen Me­thoden nicht mehr. Die Physiker mussten einen neuen Be­griff einführen, jenen der Raumzeit eben, mit dem die reale Welt ein-eindeutig beschrieben werden kann, völlig unab­hän­gig von der Position, die ein Beobachter gerade ein­nimmt.«

      Cutter blickte seine Tochter prüfend an, um sich zu ver­gewissern, dass sie verstanden hatte. Einige Falten auf ihrer Stirn zeigten ihm, dass sie noch dabei war, das Ge­hör­te zu verarbeiten.

      Er machte deshalb eine kleine Pause, bevor er mit sei­nen Erläuterungen fortfuhr: »Wie gesagt ha­ben die Über­legungen der Physiker gezeigt, dass es im­mer wieder zu Rissen in der Raumzeit kommt, doch besagt die gleiche Theorie, dass solche Risse unmittelbar nach ihrem Entste­hen wieder repariert werden. Es würde zu weit führen, dir den Mechanismus zu erklären; glaub mir ein­fach, dass die Materie – genau gesagt die kleinsten Teile, aus denen sich die Materie zusammensetzt – derart be­schaf­fen ist, dass dieses Phänomen im gleichen Moment be­hoben wird, in dem es auftritt. Doch vielleicht«, fügte Cut­ter nachdenklich hinzu, »ist diese Theorie ja auch falsch und die Risse wer­den nicht in jedem Fall geflickt. Dann würde es an einer sol­chen Grenze möglicherweise auch Turbulenzen geben und Raum wie Zeit würden in­stabil werden.«

      Cutter lächelte verlegen. »Soweit der et­was hilflose Ver­such deines Vaters, eine einfache Frage zu beant­wor­ten.«

      Joanne schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie hatte nicht die geringste Lust, über einen solchen Wahnsinn auch nur eine Sekunde länger nachzudenken, zumal solange sie selbst in diesem Riss der Raumzeit gefangen war. Sie hatte die Worte ihres Vaters verstanden, doch überstieg die von ihm skizzierte Möglichkeit ihr Vor­stellungs­ver­mö­gen. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, so musste sie zugeben, dass sie gar nicht verstehen wollte, dass sie sich schlichtweg weigerte, eine solche Ungeheuerlichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.

      Während Joannes Verwirrung weiter zunahm, hatte sich Cutters Panik etwas gelegt. Gewiss, das Phänomen, dem sie ausgesetzt waren, war im höchsten Maße un­ge­wöhnlich und beunruhigend, doch letztlich war es nur eine physikalische Aufgabenstellung, der er sich gegenübersah. Trotzdem war er tief im Innern beunruhigt und in höchstem Maße nervös. Ja, er spürte, wie erneut die kalte Angst in ihm aufstieg. Die aktuelle Situation erinnerte ihn zu stark an jene vor neun Jahren. Damals war sie außer Kontrolle geraten und er hatte das verloren, was ihm das Liebste ge­wesen war. Heute war Joanne in Gefahr. Die Geschichte durfte sich nicht wiederholen, er durfte Joanne nicht auch noch verlieren. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und daran war nicht die Hitze schuld. Es war die reine, urtümliche Panik, die drohte, erneut von ihm Besitz zu ergreifen.

      »Prometheus weiß das mit den Räumen, und es scheint ihn nicht überrascht zu haben.« Joannes Stimme riss Cutter aus seinen Gedanken und half ihm, den Anfall von Panik zu unterdrücken.

      »Wie meinst du das?«, fragte er unsicher.

      »Er hat mir in der Limousine zur Begrüßung die Hand gereicht. Ich sah ihm an, dass er wusste, ich würde ihn nicht fühlen können. Er hat mich mit einem Blick an­ge­schaut, den ich nicht beschreiben kann. Dieser Blick, glaub mir, der war nicht von dieser Welt. Er mag sympathisch auf uns wirken, aber bin ich mir nicht sicher, ob er so harmlos ist«, erklärte Joanne mit zitternder Stimme.

      »Mist!« war das einzige Wort, das Cutter hervor­brach­te. Wenn Prometheus Bescheid wusste, konnte es gut sein, dass er diese Diskontinuität auch verursacht hatte. Doch wie und warum? Es gab allerdings noch eine andere Möglichkeit, die Cutter mehr Sorge bereitete als ein Blick, der nicht von dieser Welt war. Er konnte sich zwar weigern, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, doch schien ihm das keine erfolgversprechende Strategie zu sein. Er musste sich mit einer äußerst unangenehmen Frage beschäftigen: Hatte ihn die Vergangenheit eingeholt? Trotz der hohen Temperaturen lief ein Frösteln durch seinen ganzen Kör­per. Er hatte lange gebraucht, um jene Ereignisse zu ver­arbeiten. Er hatte – zumindest oberflächlich betrachtet – schon vor Jahren seinen Frieden wieder gefunden, doch nun schien dies alles in Frage gestellt zu werden. »Lieber Prometheus, ich hoffe inbrünstig, dass du der Verursacher dieser seltsamen Situation bist«, stieß er zwischen zu­sam­mengepressten Lippen hervor, so dass nur er selbst es ver­stehen konnte.

      Er blickte Joanne an, die ebenfalls tief in Gedanken versunken war. Er versuchte zu lächeln und so viel Op­timismus in seine Stimme zu legen, wie ihm möglich war. »Hab keine Angst, wir werden das Kind schon schaukeln. Wir finden eine Lösung, und bald schon wirst du mich wie­der fühlen können.«

      Joanne blickte ihn ungläubig an. »Kannst du zwei Räu­me wieder zu einem machen?«

      Cutter versuchte mit einem selbstsicheren Grinsen sei­ne Unsicherheit zu überdecken. »Theoretisch ja, praktisch hat das noch kein Mensch geschafft, aber einmal ist immer das erste Mal.«

      »Ich fühle mich unwohl als Versuchskaninchen«, er­widerte Joanne. Sie hätte alles darum gegeben, wenn ihr Vater sie nun in die Arme genommen hätte. Sie empfand einen beinahe körperlichen Schmerz bei dem Gedanken dar­an, dass das nicht möglich sein sollte.

      Ihr Vater schien ihre Gedanken zu lesen. Er stand auf, ging um den Tisch herum, trat hinter sie und legte seine Hän­de auf ihre Schul­tern. Joanne blickte hinunter; sie konn­te seine Hände zwar