Zeitenwende. André Graf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André Graf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634362
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in der Lage, eine Kraft auf sie auszuüben, doch versuchte sie mit ihrer Hand der seinen zu folgen –, spürte sie zum ers­ten Mal dieses Gefühl. Es war das Gefühl, das ein Mensch empfindet, wenn jemand neben ihm geht. Es ist physisch nur schwer fassbar, und doch existiert dieses Empfinden. Es war, als ob sie in einem dunklen Raum eingeschlossen wäre und, obwohl sie nichts sehen konnte, doch fühlte, dass sich noch eine weitere Person im Raum aufhalten muss­te. Es war also doch nicht nur das Licht, das die Gren­ze zwischen den Räumen überwinden konnte; auch Gefühle konnten sie passieren. Es war diese Tatsache, die sie neue Hoffnung schöpfen ließ. Wenn es für Gefühle kei­ne Grenzen gab, so war auch die Liebe grenzenlos. Solan­ge dies der Fall war, würde sie nie alleine sein, und sie und ihr Vater würden sich gegenseitig das geben können, was das Wichtigste für sie beide war: ihre Liebe.

      Prometheus erwartete sie ungeduldig. Er schaute vor­wurfs­voll auf seine Uhr, ohne jedoch ein Wort zu sagen. Cutter wusste, dass sie eine gute Stunden später als abgemacht zum Wagen zurückkamen, doch er entschuldigte sich nicht für die Verspätung, sondern warf Prometheus nur einen nichts­sagenden Blick zu. Wortlos stieg er in die angenehm heruntergekühlte Limousine, als ob nichts geschehen wä­re. Kaum hatten sie die Türen hinter sich geschlossen, fuhr der Wagen los.

      Joanne blickte Prometheus einen kurzen Moment lang aufmerksam an. Er erwiderte ihren Blick und lächelte ihr herzlich zu. Joanne fühlte erneut, wie dieser Mann etwas Tiefes, Geheimnisvolles ausstrahlte. Sie konnte das Ge­fühl, das sie empfand, nicht einordnen, doch war daran nichts Böses oder Hassenswertes. Trotzdem ließ sie sich zu einer kindischen Reaktion hinreißen. Sie rutschte etwas nach links, holte mit dem Fuß aus und versetzte Pro­me­theus einen kräftigen Tritt ans Schienbein. Ihr Fuß stieß bis zu seinem Bein vor, aber sie verspürte keinen Schlag, und auch Prometheus ließ – von einem kaum sichtbaren He­ben der Augenbrauen abgesehen – keine Reaktion er­ken­nen.

      Die Dämmerung war bereits angebrochen, als die Limou­sine die Autobahn verließ, die Geschwindigkeit markant dros­selte und kurz danach von einer schmalen, kurven­rei­chen Straße in ein Waldstück abbog. Der dichte Wald, den sie durchquerten, wurde mit jedem Kilometer ur­tüm­licher. Anfänglich standen die Nadelbäume in Reih und Glied, dann wucherte immer mehr Unterholz zwischen den Bäu­men und schließlich ging der Wald in einen richtigen Ur­wald mit umgestürzten Bäumen, Baumstrünken und Baum­leichen über, die noch in die Luft ragten und von un­durch­dringlichem Dickicht überwuchert waren.

      Joanne blickte ihren Vater unsicher an. Der dichte Wald machte ihr Angst. Doch Cutter schüttelte beruhigend den Kopf. Ihm machte nicht der Wald Angst; es waren an­dere Kräfte am Werk, die weitaus bedrohlicher waren als dieser dunkle, drohende Wald. Und wenn diese Kräfte freigesetzt wurden, war es zweifellos besser, wenn dies weitab von der nächsten menschlichen Siedlung geschah, auch wenn Cutter besser als jeder andere Mensch wusste, dass im schlimmsten aller Fälle weder eine räumliche noch eine zeitliche Distanz den Menschen auf diesem Planeten Sicherheit bringen konnte.

      Kurze Zeit darauf machte der Urwald beinahe über­gangslos einer parkähnlichen Landschaft Platz, die von Laub­bäumen geprägt war. Nur wenige Meter später gaben die Bäume den Blick auf ein weitläufiges Gebäude frei, das Joanne unter anderen Umständen romantisch erschienen wäre. Das aus längst schon dunkel verwittertem Holz ge­baute dreistöckige Gebäude besaß Dutzende von kleinen Türmchen, um die sich Efeu rankte. Ebenso viele Erker ver­liehen der Fassade ein Aussehen, das an ein roman­tisches Märchenschloss erinnerte. Vor den meist kleinen Fensterchen waren Kästen mit wild wuchernden hellroten Blumen befestigt. Das Dach war mit dunkelroten Ziegeln belegt, die Dachzinnen bestanden aus grün oxidiertem Kup­fer.

      Vor dem überdachten Eingang, der an eine Laube in einer mittelalterlichen Stadt erinnerte, lag ein großer, leerer Platz, in dessen Kies die Limousine eine deutlich sichtbare Spur hinterließ, als sie in einer weiten Kurve auf den Ein­gang zusteuerte. Mit einem kurzen Blick stellte Cutter fest, dass es die einzige Spur auf dem ganzen Platz war.

      »Wir sind hier«, stellte Prometheus trocken fest und öff­nete die Türe.

      Cutter stieg aus, ging um die Limousine herum und öff­nete seiner Tochter die Türe. Sie schauten sich um.

      »Wunderschön«, sagte Cutter.

      »Unheimlich«, antwortete Joanne leise, so dass Pro­me­theus ihre Worte nicht verstehen konnte.

      Cutter legte die Hand auf Joannes Schulter, zog sie je­doch rasch wieder zurück, als er keine Berührung fühlen konnte. »Wie oft haben wir schon in diesen Einheitshotels ge­wohnt, die es in allen Städten dieser Welt gibt. Wenn wir morgens auf dem Weg zum Frühstück in die Lobby kamen, mussten wir zuerst überlegen, in welcher Stadt wir ei­gent­lich waren. Am Hotel selbst hätten wir es nicht erkennen können. Das hier ist dagegen einmalig. Ich glaube nicht, dass wir diesen Aufenthalt je wieder vergessen werden.« Er blinzelte seiner Tochter verschwörerisch zu.

      Mit seinem letzten Satz war Joanne einverstanden. Sie glaubte auch nicht, dass sie diesen Aufenthalt je ver­ges­sen würde, auch wenn sie sich in ihren schlimmsten Alp­träumen nicht hätte ausmalen können, wie schrecklich ihr Aufenthalt wirklich werden würde. Doch bei den übrigen Sät­zen ihres Vaters war sich Joanne nicht sicher, ob sie für sie oder nur für Prometheus’ Ohren bestimmt gewesen waren.

      Fritz ging mit den Koffern voraus, dicht gefolgt von Pro­me­theus; Cutter und seine Tochter kamen mit einigem Ab­stand nach. Prometheus drückte sich an Fritz vorbei, hielt die schwere, hölzerne Eingangstüre auf, winkte zuerst den Zwerg durch und ließ dann seinen beiden Gästen den Vor­tritt. Sie betraten einen riesigen, von diffusem Licht durch­fluteten Raum, der bis unter das Dach reichte und Cutter im ersten Moment an das Innere einer Kirche erinnerte. Unwillkürlich blickte er nach oben zum Dachstock, auf dem undeutlich Malereien zu erkennen waren, die das einfache Volk bei seinen täglichen Arbeiten zeigten. Ein Bauer mäh­te Gras, ein anderer drosch Stroh, eine Bäuerin rupfte ein Huhn. Diese und viele andere Szenen des bäuerlichen Lebens waren mit einfachen Strichen in bunten, wenn auch bereits leicht verblassten Farben auf quadratische Platten gemalt, die in Vierergruppen so angebracht waren, dass der Betrachter von jeder Stelle in der Empfangshalle einige der Bilder in seinem Blickfeld hatte.

      Cutters Blick wanderte nach unten, vorbei an drei Galerien mit zahlreichen Türen, hinter denen sich wohl Gäste­zim­mer befanden. Im Erdgeschoss führten zu seiner Linken jeweils fünf Stufen zu einer Holztüre hinauf. Die Nummern an den Türen ließen darauf schließen, dass es sich auch hier um Gästezimmer handelte. Rechts von ihm schien der Speisesaal zu liegen, dessen Türe jedoch geschlossen war. Dazwischen befand sich eine riesige Bar, auch sie ganz aus Holz, mit einem mächtigen Spiegel dahinter, der die gesamte obere Hälfte der Wand bedeckte. Darunter wa­ren Dutzende von Flaschen mit zumeist hoch­pro­zen­tigem Inhalt in einer langen Doppelreihe angeordnet.

      Der Zwerg blieb vor der Bar stehen und stellte die Koffer ab. Cutter warf einen Blick in den Spiegel. Deutlich spie­gelten sich seine Koffer darin. Auch Joanne konnte er sehen, die neben dem Zwerg stand, ihm freundlich zu­lächelte und sich mit ihm unterhielt – nur das Spiegelbild des Zwerges, der unschlüssig und sichtlich von Joanne an­getan neben den Koffern wartete, konnte er nicht er­ken­nen. Cutter blickte genauer hin, doch das Spiegelbild blieb gleich. Auch als sich der Zwerg nun höflich von Joanne ver­abschiedete und an ihr vorbei zum Ausgang ging, um den Wagen wegzufahren, veränderte sich das Spiegelbild nicht. Cutter warf Joanne einen fragenden Blick zu.

      Sie schien nichts bemerkt zu haben, sondern blickte nur fas­ziniert und mit einem milden, freundlichen Lächeln um ihre Mundwinkel dem Zwerg nach.

      Prometheus zog Cutters Aufmerksamkeit auf sich. Er war unmittelbar nach ihrer Ankunft in einem Zimmer ver­schwunden, aus dem er nun, gefolgt von einer Frau, wie­der heraustrat. Er ging auf Cutter und Joanne zu. »Darf ich Ihnen Margot Dreher vorstellen? Besitzerin und gute Seele dieses Gasthauses«, sagte er.

      Die Frau näherte sich ihren Gästen mit einem offenen, herzlichen Lächeln. »Willkommen im Gasthaus zum Gol­de­nen Adler! Sie können mich einfach Margot nennen«, be­grüß­te sie Cutter mit einem kräftigen Händedruck, wandte sich dann an Joanne und begrüßte auch sie herzlich.

      Margot