Zeitenwende. André Graf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André Graf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634362
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wie der Helm eines Hunnenkriegers. Je nachdem, wie das Licht, das von den auf verschiedenen Ebenen angeordneten Lam­pen in die Empfangshalle fiel, ihr Gesicht beleuchtete, bekam es einen härteren, beinahe abweisenden Ausdruck oder es erhielt weiche, mütterliche Züge. Ihre dunklen Au­gen hatten etwas Geheimnisvolles an sich. Das rundliche Gesicht mit seinem hellen, reinen Teint war makellos schön. Augen, Nase, Mund und Wangen bildeten zu­sam­men eine perfekte Einheit. Die Frau trug keine Spur von Make-up. Cutter verstand warum. Jeder Tupfer hätte die Wirkung dieses perfekten Gesichts nur beeinträchtigt.

      Die Frau hatte Cutter in ihren Bann gezogen, lange be­vor er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte. Doch war es nicht nur ihr Gesicht, das Cutter vom ersten Moment an faszinierte. Eine Aura umgab sie, die Cutter magisch an­zog. Es war ihm nicht mehr möglich, den Blick von ihr zu wenden. Er musste all seine Konzentration darauf ver­wenden, die Frau nicht anzustarren.

      »Seltsam«, dachte Cutter und fühlte, wie eine leichte Röte in sein Gesicht stieg, »sie ist so gar nicht mein Typ.« Trotzdem hatte ihn ihre Anziehungskraft längst umgarnt. Nicht zuletzt verspürte er auch ein körperliches Verlangen, wie er es schon lange nicht mehr gekannt hatte.

      Sie schien nichts von seiner Reaktion bemerkt zu ha­ben, streckte ihm nur immer noch freundlich lächelnd einen Schlüssel entgegen und sagte dazu: »Zimmer 1, gleich hin­ter Ihnen.« Dann entschuldigte sie sich dafür, dass es heute nicht möglich sein würde, im Speisesaal zu essen, da er von einer großen Gesellschaft belegt war. Sie bot ih­nen an, einen kleinen Snack aufs Zimmer zu bringen.

      Joanne und Cutter nahmen dankend an. Keiner von bei­den war unglücklich darüber, den Abend nicht in einem lauten Speisesaal in Gesellschaft anderer Menschen ver­bringen zu müssen.

      Cutter wollte eben in ihr Zimmer gehen, als er be­merk­te, wie Prometheus eine Türe öffnete, die den Blick in ei­nen Raum freigab, in dem rund dreißig Menschen an Vie­rertischen saßen. Einige von ihnen trugen Ver­bände um den Kopf, andere hatten den Arm oder ein Bein ein­gegipst. Zwischen den Tischen waren einige alter­tüm­liche Krücken an die Wand gelehnt. Es schien sich um lau­ter Männer zu handeln, zumindest konnte Cutter auf den ers­ten Blick keine Frau ausmachen. Der Raum wirkte auf ihn wie ein Aufenthaltsraum in einem Militärlazarett des Zwei­ten Welt­kriegs, wie er sie in Kriegsfilmen gesehen hat­te. Aus eige­ner Erfahrung konnte er es nicht beurteilen, da er erst viele Jahre nach dem Krieg auf die Welt gekommen war.

      Die Männer spielten in Vierergruppen Karten. Trotzdem war es im Raum absolut still. Weder waren Laute der Freu­de oder des Ärgers zu vernehmen, noch wurde über das abgeschlossene Spiel diskutiert oder über den Fehler ei­nes Mitspielers geschimpft. Cutter wollte eben näher­treten, um die seltsame Gesellschaft genauer zu betrachten, als Pro­metheus die Türe von innen mit einem lauten Knall schloss.

      »Es muss sich um Kurgäste handeln, die aus irgend­einer Klinik hierhergeschickt worden sind, um sich von ih­ren Verletzungen zu erholen«, dachte Cutter und hatte die Männer schon wieder vergessen, als er der geschlossenen Türe den Rücken zukehrte.

      Cutter und seine Tochter folgten einem Angestellten, der zwei ihrer Koffer ergriffen hatte und sie zu ihrem Zim­mer führte, das gleich zu ihrer Linken lag.

      Die Suite be­stand aus zwei Räumen und einem Bad. Sie war einfach, aber gemütlich eingerichtet, wenn sie auch etwas dunkel wirkte. Das Mobiliar schien aus der zwei­ten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu stammen, befand sich jedoch in einem für ein ländliches Hotel eher unüb­lichen, hervorragenden Zu­stand. Über dem Bett hing ein riesiges Bild, das eine Land­schaft unter einem dunkel dro­hen­den Himmel zeigte. Die Bauersleute mit Kind und Ke­gel waren daran, das Heu vor dem nahenden Gewit­ter­regen in Sicherheit zu bringen. Hel­le Vorhänge kompen­sier­ten einen Teil der düsteren Stim­mung, die das Bild im Raum verbreitete. Im Gegensatz zu den beiden Zimmern war das Badezimmer freundlich, modern und mit allem Kom­fort ausgestattet.

      Joanne warf einen Blick hinein, und ihre Augen be­gan­nen zu strahlen. »Ich bin zuerst dran«, sagte sie, nahm ei­nige Sachen aus ihrem Koffer und schloss sich im Bade­zimmer ein.

      »Ich geb dir eine halbe Stunde, nicht mehr!«, rief Cut­ter, der sich auch gerne den Schweiß vom Körper gespült hätte, noch hinter ihr her.

      Ein lautes Lachen zeigte ihm, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis er sein Bedürfnis stillen konnte.

      Auf ein Klopfen hin öffnete er die Türe.

      Die Wirtin stand mit einem Tablett vor ihm. »Darf ich?«, fragte sie, und als Cutter einen Schritt zur Seite trat und ei­ne einladende Handbewegung machte, kam sie herein und stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch, der unmittelbar neben dem Fenster stand.

      Cutter schloss unwillkürlich die Türe hinter der Wirtin und folgte ihr unsicher durch den Raum. Er spürte, dass mit der Frau ein bestimmtes Etwas eingetreten war, eine Au­ra, eine neue, unbekannte Atmosphäre, die den Raum erfüllte, Cutter faszinierte und ihn auf eine mystische Weise anzog.

      »Ich habe einen hervorragenden Weißwein aus der Ge­gend mitgebracht«, sagte Margot. »Darf ich Ihnen ein Glas einschenken?«

      »Gerne«, antwortete Cutter, »wenn Sie ein Glas mit mir trinken«. Er war von seiner Antwort selbst überrascht. Ers­tens trank er sehr selten Alkohol, höchstens ein Bier oder ein Glas Rotwein zum Essen, doch nie einen Aperitif, schon gar nicht am Ende eines heißen Tages. Und zwei­tens hatte er die Frau eigentlich nicht zum Bleiben auf­for­dern wollen.

      Margot schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, ent­kork­te routiniert die Flasche, goss zwei Gläser ein und reichte ihm eines. Sie prostete ihm zu. »Auf einen schönen Auf­ent­halt in Österreich!«, sagte sie.

      Cutter bedankte sich und nahm einen kleinen Schluck. Der Wein war ausgezeichnet. Zwei Minuten später hatte er sein Glas geleert und Margot schenkte nach. Sie hatten sich an den kleinen, runden Tisch gesetzt und unterhielten sich ungezwungen, während Cutter den belegten Broten zu­sprach.

      Margot erzählte von ihrem Hotel, von dem schweren Stand, den ein kleines Gasthaus gegen die multinationalen Hotelketten hatte, und den Problemen mit dem Personal. Sie jammerte und beschwerte sich jedoch nicht, was sie Cut­ter noch sympathischer machte. Sie stellte lediglich eine Realität dar, mit der sie konfrontiert war, und brachte ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, die Schwierigkeiten zu überwinden. Dann nahm das Gespräch eine von Cutter kaum bewusst wahrgenommene Wendung. Er begann von sich selbst zu erzählen, von seinem Leben, seinem Beruf, und er wunderte sich selbst, wie offen er zu der ihm frem­den Frau sprach. Er sprach sogar von Jennifer. Cutter konn­te sich nicht erinnern, dass er je mit einem fremden Menschen über seine tote Frau gesprochen hatte.

      Die Badezimmertüre öffnete sich und Joanne trat ins Zim­mer. Sie schien sich nicht über Margots Anwesenheit zu wundern; vermutlich hatte sie die Stimmen durch die Türe gehört. Sie trug nichts als ein überlanges T-Shirt, das ihr bis über die Knie reichte.

      »Eine hübsche Tochter haben Sie«, sagte Margot und zauberte mit ihren Worten ein Strahlen auf Joannes Ge­sicht.

      »Danke«, sagte Joanne und huschte an ihnen vorbei in ihr Zimmer.

      »Zeit zu gehen«, sagte Margot, erhob sich, schüttelte Cutter die Hand und verließ das Zimmer.

      Mit einem Blick auf die Uhr stellte Cutter fest, dass er weit über eine Stun­de mit Margot gesprochen hatte. Die Zeit war ihm wie im Fluge vergangen.

      Nachdem Cutter geduscht hatte, legte er sich auf das Dop­pelbett und streckte seine müden Glieder aus.

      Joanne be­trat das Zimmer. »Darf ich die Nacht bei dir schlafen?«, fragte sie mit flehendem Blick.

      Cutter hatte während des Gesprächs mit Margot Jo­annes miss­liche Situation fast vergessen. Ein Blick auf sei­ne völlig verunsicherte Tochter genügte, um sie sich wie­der ins Bewusstsein zu rufen. »Komm«, forderte er sie auf.

      Joanne ließ sich neben ihm auf das Bett sinken und legte ihren Kopf dorthin, wo die Schulter ihres Vaters war. Es war ein seltsames Gefühl, das sie empfand. Es war, als ob ihr Kopf in der Luft schweben würde, und doch wurde er von einer unsichtbaren,