Zeitenwende. André Graf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André Graf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634362
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Teilchen, die existieren, Elemen­tarteilchen eben. Tom fährt also los, um möglichst rasch zu dir zu gelangen. Nach seiner Ankunft fragst du ihn, welchen Weg er denn heute genommen hat. Tom, der dich nie anlügen würde, erklärt, dass er alle möglichen We­ge gleichzeitig genommen habt: die Straße am Fluss ent­lang und die Stadtautobahn und die Straße durch das Zen­trum und den Weg über San Francisco, Houston, Mia­mi, Washington und New York und ... Obwohl du ihm kaum glauben kannst, gehst du mit ihm ins Kino und danach in die Pizzeria. Wieder ruft Toms Mutter an, während ihr ge­rade am Pizzaessen seid. Auch du kannst nicht lügen und erklärst seiner Mutter daher wahrheitsgemäß, dass du nicht sagen kannst, wo sich Tom gerade aufhält. Die Mut­ter hat eigentlich nichts anderes erwartet und bittet dich, ihm doch etwas auszurichten, falls du ihm an diesem Abend zufällig noch begegnen solltest. Nachdem du ihr mitgeteilt hast, dass die Wahrscheinlichkeit dafür bei sechzig Prozent liegt, verabschiedet sie sich von dir.«

      »Was willst du damit sagen?«, hatte Joanne gefragt, die nun etwas nachdenklich geworden war.

      »Physikalisch gesehen habe ich damit zwei Be­haup­tun­gen der Quantenmechanik aufgestellt, von denen die meis­ten Physiker glauben, dass sie wahr sind«, hatte Cut­ter erklärt. »Erstens, wir können nicht sagen, wo sich ein Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade aufhält, wir können nur eine Aufenthaltswahrscheinlichkeit definie­ren. Zweitens, wenn ein Elementarteilchen von Punkt A zu Punkt B geht, so nimmt es nicht nur einen Weg, sondern es nimmt alle erdenklichen Wege gleichzeitig.«

      Joanne richtete sich auf und blickte ihren Vater mit leicht besorgter Miene an. »Das meinst du nicht ernst, oder?«

      »Ich hab dir doch gesagt, dass die Welt im Kleinen verrückt ist!« Jetzt war es an ihrem Vater, eine Prise Spott in seine Stimme zu legen. »Aber gehen wir weiter. Ihr seid nun wieder normale Menschen, keine Elementarteilchen mehr, doch lebt ihr in einer Welt, in der es Fahrzeuge gibt, die sich beinahe mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen kön­nen. Tom ruft dich wie gehabt von seinem Handy aus an, bevor er abfährt. Aber er kommt nicht bei dir an, und du hörst nichts mehr von ihm, bis es zehn Jahre später eines Abends an der Türe klingelt. Vor dir steht Tom, der sich seit seinem Verschwinden kaum verändert hat. Du schimpfst mit ihm, fragst, wo er die letzten zehn Jahre gewesen ist, aber Tom zuckt nur ratlos mit den Schultern; er ist so rasch wie möglich zu dir gekommen. Ein Uhren­vergleich zeigt euch, dass ihr beide Recht habt: Auf Toms Uhr lest ihr das Datum 26. Juni 2010 und die Uhrzeit 17 Uhr 37 ab. Deine Uhr zeigt jedoch ebenso unzweifelhaft das Datum 26. Juni 2020 und die Uhrzeit 20 Uhr 12 an. Und doch ist keine der beiden Uhren defekt. Da du nun siebenundzwanzig Jahre alt bist und Tom immer noch acht­zehn ist, verzichtest du darauf, den Abend mit ihm zu verbringen.«

      »Du meinst, auch das ist möglich?«, fragte Joanne vor­sichtig.

      »Ja«, bestätigte er, »die Spezielle Relativitätstheorie be­sagt, dass für einen Menschen, der sich mit sehr hoher Geschwindigkeit fortbewegt – hoch nicht in menschlichen Begriffen, sondern verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit, die dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde beträgt – die Zeit langsamer vergeht als für jemanden, der stillsteht. Damit du keine falsche Vorstellung bekommst, muss ich allerdings noch zwei Dinge ergänzen. Erstens: Für Tom, der sich sehr rasch fortbewegt, wie auch für dich, die du scheinbar still stehst, vergeht die Zeit subjektiv betrachtet gleich schnell. Tom hat tatsächlich das Gefühl, nur fünf­und­zwanzig Minuten unterwegs gewesen zu sein – und er hat dabei auch wirklich nur fünfundzwanzig Minuten seines Lebens ›verbraucht‹ – und du hast tatsächlich zehn Jahre deines Lebens gelebt. Erst wenn du dich selbst mit Tom vergleichst, stellst du fest, dass er scheinbar weniger stark gealtert ist als du. Und zweitens: Wenn ich gesagt habe, dass du stillstehst, so ist das natürlich nicht korrekt. Keiner von uns steht still, doch maßgebend ist eben nicht primär unsere eigene Geschwindigkeit, sondern nur jene, die wir relativ zueinander haben.«

      Ihr Vater legte eine Pause ein. Joanne wusste nicht, dass er in diesem kurzen Moment überlegte, was er ihr noch sagen sollte und was er besser für sich behielt. Er entschied sich dafür, ihr eine letzte Nuss zum Knacken zu geben: »Noch etwas Seltsames existiert in diesem Mikro­kos­mos. Wir nehmen wie selbstverständlich hin, dass es vier Dimensionen gibt: die drei Dimensionen des Raumes (rechts – links, vorne – hinten und oben – unten) sowie die Dimension der Zeit. Im Mikrokosmos ist das nicht mehr so. Es gibt mindestens neun Dimensionen des Raumes und ei­ne der Zeit. Ich vermute, auch wenn ich damit ziemlich alleine stehe und es nicht abschließend beweisen kann, dass es sogar noch eine Dimension mehr gibt, mög­li­cher­weise sogar noch viele, und dass vielleicht eine dieser zusätzlichen Dimensionen nicht eine Dimension des Rau­mes, sondern eine der Zeit ist. Du fragst dich nun vielleicht, warum wir diese Dimensionen nicht wahrnehmen können. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie beunruhigend: Die zusätzlichen Dimensionen sind im submikroskopischen Be­reich aufgewickelt, während die vier uns bekannten Di­mensionen abgewickelt und folglich für uns begreifbar sind. Sich auf einer der zusätzlichen Dimension, auf einer sol­chen ›Schlaufe‹, zu bewegen, würde bedeuten, immer wie­der den gleichen Raum zu durchschreiten, es sei denn, es wäre dir möglich, auf die nächste Schlaufe zu springen, die auch Teil dieser gleichen, aufgewickelten Dimension ist.«

      Joanne verstand die letzten Worte ihres Vater nicht wirk­lich. Es schien ihr kaum möglich, sich einen solchen Zu­stand vorzustellen; man hätte ihn zeichnen müssen, doch selbst dann stünde man vor unüberwindlichen Schwie­rigkeiten. Wie sollte man eine fünfte oder sechste oder gar eine noch höhere Dimension auf einem zwei­di­men­sionalen Blatt Papier darstellen?

      *

      Damals war das für Joanne nur eine hübsche Geschichte gewesen, die sie vordergründig verstand, an die sie aber nicht wirklich glaubte. An diesem Abend erhielten die Aus­sagen ihres Vaters jedoch eine neue Bedeutung. Erstaun­licherweise beruhigte Joanne diese streng wissen­schaft­liche Sichtweise ihres Vaters. Sie versuchte sich in seine physikalische Welt zu versetzen. Im Laufe dieses erfolg­lo­sen Versuchs fiel sie in einen tiefen, traumlosen, erschöp­fungsähnlichen Schlaf.

      Während sie schlief, dachte Cutter genau über jenes Gespräch nach, das ihr eben selbst durch den Kopf ge­gangen war. Er hatte sich damals überlegt, ob er seiner Tochter auch etwas über Schrödingers Gedanken­experi­ment mit seiner Katze erzählen sollte, hatte dann jedoch darauf verzichtet, da Joanne ohnehin schon reichlich ver­wirrt gewesen war. Heute war er froh darüber. Es wäre für Joanne in der momentanen Situation sicher sehr be­un­ruhigend gewesen, von einer Katze zu wissen, die gleich­zeitig tot und doch lebendig ist. Zu diesem Zeitpunkt konn­te Cutter noch nicht ahnen, dass Joanne in den kom­menden Tagen viel schlimmeren Dingen als Schrödingers Katze begegnen würde, und es hätte ihn entsetzt, wenn er gewusst hätte, dass er in wenigen Tagen den Zustand eines ihm lieben Menschen mit jenem von Schrödingers Katze vergleichen würde.

      Etwas anderes beunruhigte ihn zutiefst. Und das war nicht Schrödingers Katze. Dieses Paradoxon glaubte er – wie auch die anderen Vertreter der theoretischen Physik – längst überwunden zu haben, auch wenn, wie eigentlich ge­rade er selbst am besten wissen sollte, einige letzte Zwei­fel daran bestehen blieben, ob das Rätsel der Katze wirklich abschließend gelöst war. Nein, er machte sich Sor­gen über sein eigenes Alter. Nicht dass Cutter besonders eitel gewesen wäre. Noch nie hatte er versucht, den Al­terungsprozess mit irgendwelchen künstlichen Mitteln zu ver­langsamen oder auch nur seine Auswirkungen zu über­tünchen. Doch stand er vor einem Problem, das unge­wohn­te Dimensionen angenommen hatte. Er fürchtete, dass er sein ganzes Wissen über Bord werfen musste, weil es ihn bei der Lösung des anstehenden Problems nur be­hinderte, und dass er gerade dazu aufgrund seines Alters nicht mehr in der Lage sein würde, weil seine große Er­fahrung ihn daran hinderte, frei zu denken.

      Die großen Leistungen der Physik – namentlich auf den Gebieten der Relativität, der Quanten und der Strings, aber auch der Kosmologie – waren von jungen Wissen­schaft­lern erbracht worden, die unbelastet von Dogmen die alten, bisher gültigen Regeln über Bord geworfen und nach neu­en, unkonventionellen Antworten gesucht hatten. Keiner von ihnen – der große Einstein nicht ausgenommen – war Jahrzehnte später in der Lage gewesen, einen weiteren ver­gleichbar mächtigen Gedankenschritt zu machen.

      Cutter selbst war über fünfzig Jahre alt. Sein