Zeitenwende. André Graf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André Graf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634362
Скачать книгу
anderes übrig, als die Grenze weiter zu erforschen, wenn sie die Situation nicht tatenlos ak­zep­tieren wollte.

      Sie brauchte einige Minuten, bis sie soweit war. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, atmete einige Male tief durch und hielt dann den Atem an. Langsam bewegte sie ihren Kopf auf die Grenze zu, kam ihrem Vater immer näher, bis ihre Stirn an der Schulter ihres Vaters angelangt war – und doch sendeten ihre Nerven keine Signale an ihr Gehirn, konnte sie den Körper ihres Vaters in keiner Weise füh­len.

      Einen Sekundenbruchteil bevor sie das Entsetzen über­mannte, riss sie ihren Kopf heftig zurück. Sie ließ sich in den weichen Sitz sinken, schloss die Augen und atmete tief durch. Sie überlegte fieberhaft, doch fielen ihr nur zwei Interpretationen ein für das, was sie eben erlebt hatte: Sie war entweder wahnsinnig geworden, oder etwas ganz Un­glaubliches war mit ihr, mit ihrem Vater, ja möglicherweise mit der ganzen Welt geschehen. Je länger sie darüber nach­dachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr die Vari­an­te, selbst wahnsinnig geworden zu sein; sie war wesent­lich einfacher zu verstehen. Die zweite Möglichkeit er­schien ihr unnatürlich, zutiefst erschreckend, ja unge­heu­er­lich. Allein der Gedanke daran erschien ihr ebenso abartig wie blasphemisch.

      »Wir sind gleich dort«, sagte Prometheus. »Es wird heute un­ser einziger Zwischenstopp sein. Danach fahren wir oh­ne Halt bis nach Österreich weiter, wo ich Sie für die Nacht in einem romantischen Hotel einquartieren werde.«

      Cutter war froh, dass er den Wagen verlassen konnte. Aus einem Grund, der weit über die bohrenden Fragen des Reiseführers hinausging, fühlte er sich in der Limousine nicht wohl, und irgendetwas schien mit Joanne nicht zu stim­men. Sie saß ungewohnt unbeteiligt neben ihm und hat­te auf der ganzen Fahrt noch keine Silbe gesprochen. Gewiss, er hatte sie dazu überredet, nach Europa zu fliegen. Joannes Liebe galt dem spanisch sprechenden Teil des amerikanischen Kontinents. Sie wäre lieber in die Berge Guatemalas gefahren als nach Europa, das in ihren Augen ein durch und durch langweiliger, dekadenter Konti­nent ohne Kraft und ohne Visionen war.

      »Du willst deine Ferien auf einem Kontinent verbringen, in dem die Menschen auf Schritt und Tritt einer großartigen Vergangenheit begegnen und doch jeden Gedanken daran verworfen, jede Rücksicht darauf längst aufgegeben ha­ben, genauso wie sie den Glauben an ihre Zukunft für ein paar ebenso unbedeutende wie kurzfristige wirtschaftliche Vorteile weggeworfen haben. Was willst du dort? Deine Wur­zeln suchen? Die sind längst mit Stumpf und Stiel aus­gerottet worden. Alles, was du finden wirst, wird eine große Leere sein, die du nach Kanada mitnehmen oder besser noch im leeren Europa zurücklassen kannst«, hatte Jo­anne gesagt und dabei jedes Wort mit eleganten Hand­bewegungen unterstrichen.

      Cutter hatte seine ganze Überzeugungskraft auf­ge­wandt: »Mein Großvater ist mit seiner Familie nach dem Zwei­ten Weltkrieg von Österreich nach Kanada aus­ge­wan­dert. Du willst doch sicher auch einmal sehen, wo die Wur­zeln unserer Familie liegen. Sie sind dort, du musst nur bereit sein, sie auch zu sehen. Und etwas verspreche ich dir: So langweilig und dekadent, wie du glaubst, ist Europa ganz gewiss nicht.«

      Joanne hatte wenig überzeugt nachgegeben, nachdem Cutter ihr versprochen hatte, dass die nächste gemein­sa­me Reise sie nach Mittelamerika führen würde. Doch dass sie deswegen nun schlechter Laune war und – mehr noch – diese Laune so offen zeigte, wunderte Cutter sehr, denn eigentlich passte ein solches Verhalten nicht zu ihrem Charakter. Gewiss hatte Joanne einen Dickschädel und war zwei­fellos nicht weniger starrsinnig als ihr Vater, doch wenn sie sich einmal – und sei es noch so widerwillig – zu etwas entschlossen hatte, so bewirkte dieselbe Eigen­schaft auch, dass sie die Sache durchzog, ohne lange mit dem Schicksal zu hadern.

      Auf ihr unüblich ruhiges, distanziertes Verhalten an­ge­spro­chen, grinste Joanne nur leicht gequält. »Der Jetlag«, log sie.

      Cutter kannte sie gut genug, um zu spüren, dass das nicht die ganze Wahrheit war, doch insistierte er nicht wei­ter. Wenn es für ihn von Bedeutung war, so würde ihm Jo­anne den Grund für ihr Verhalten aus freien Stücken mit­teilen, wenn sie die Zeit für gekommen hielt. So folgte er Prometheus, der nicht zu viel versprochen hatte, als er von diesem Ort in den höchsten Tönen geschwärmt hatte.

      Vor einigen Jahren hatten Bauarbeiter hier im Osten des Bun­deslandes Bayern die Überreste einer mittelalterlichen Siedlung freigelegt. Die Archäologen waren derart be­geis­tert von den sensationellen Funden gewesen, dass sie be­wirkten hatten, dass die Autobahn um einige Hundert Me­ter weiter nach Norden verlegt wurde und so das Gebiet der ehemaligen Siedlung der Nachwelt erhalten blieb.

      Die Siedlung war zwischen dem 5. und 12. Jahrhundert bewohnt gewesen, war mehrmals niedergebrannt, schließ­lich von einer letzten Feuersbrunst zerstört und dann auf­ge­geben worden. Die Überreste des Städtchens waren im wasserdurchsetzten, moorigen Boden überraschend gut kon­serviert worden. Nach fünf Jahren intensiver Aus­gra­bungs­arbeiten hatten sich die Wissenschaftler ent­schie­den, die Siedlung zu rekonstruieren.

      So war eine mittelalterliche Kleinstadt entstanden, in der alle Aspekte des Alltags jener Zeit aufgezeigt wurden. Die verantwortlichen Wissenschaftler hatten bewusst dar­auf verzichtet, den Besuchern ein Spektakel à la Disney­land zu bieten. Sie stellten die Siedlung so dar, wie sie nach den Resultaten der Ausgrabungen und dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung einmal aus­ge­se­hen haben mochte. In den einzelnen Vierteln war die Stadt jeweils so dargestellt, wie sie in einer bestimmten Periode zwischen dem 5. und 12. Jahrhundert ausgesehen hatte. Ein Gang durch die Stadt war also gleichzeitig auch ein Gang durch die Zeit, ein Gang durch die Geschichte. So zeigte sich in den ersten Vierteln, die die frühe Zeit des Städtchens darstellten, ein recht trostloses Bild einer ärm­lichen Siedlung, während das letzte Viertel bereits recht schmucke, wenn auch einfach gebaute Häuser aufwies.

      Die Szenen wurden zusätzlich durch verschiedene De­monstrationen aufgelockert, bei denen mittelalterlich ge­klei­dete Mitarbeiter Handwerk und Brauchtum einer längst vergangenen Zeit neu aufleben ließen.

      Gerade diese Schnörkellosigkeit beeindruckte Cutter. Er folgte interessiert den Ausführungen eines Führers, den Prometheus für sie angeheuert hatte.

      Joanne ging mit etwas Abstand hinter den drei Män­nern her. Sie wollte nicht hören, was der Führer ihnen er­zählte. Sie hatte eine ungleich wichtigere Entdeckung ge­macht, von der sie gleichermaßen fasziniert wie entsetzt war: Prometheus zog wie ein Motorschiff auf dem ruhigen Wasser eines Sees eine Spur hinter sich her, die un­mit­tel­bar hinter ihm deutlich zu erkennen war, sich dann zu bei­den Seiten ausbreitete, mit zunehmender Entfernung all­mäh­lich schwächer wurde und schließlich völlig ver­schwand. Unter dieser Spur kamen wie eine Fata Morgana Bilder aus einer anderen Zeit zum Vorschein. Es war zwei­fellos die gleiche Siedlung, die sie durch diese Spur hin­durch sah, doch war sie noch elender als ihre Nachbauten. Die Straße bestand aus einer Schlammbahn, durch die in Sackleinen gekleidete Menschen mit nackten Füßen hastig stapften, während ein mit Schnee durchmischter kalter Re­gen auf sie niederprasselte. Die Häuser waren nicht mehr als Bretterbuden, die nur ungenügenden Schutz gegen die Witterung boten. Bei einzelnen Häusern drang dichter Rauch aus einer Öffnung im Dach und zwischen den Rit­zen in den Wänden hindurch, die nur unzureichend mit Moos abgedichtet waren.

      Joanne vergrößerte ihren Abstand zu den Männern etwas mehr, um einen breiteren Bereich von Prometheus’ Spur überblicken zu können. Dies hatte den Vorteil, dass sie einen besseren Überblick über die Szene erhielt, je­doch den Nachteil, dass die Bilder undeutlicher wurden, je weiter sie von Prometheus entfernt waren.

      Dann wurde von einer Sekunde zur nächsten das Bild völlig klar, als ob Joanne mitten in dieser Welt stehen wür­de. Schreiende Menschen rannten in Panik an ihr vorbei, als links und rechts von ihnen eine Hütte nach der anderen Feuer fing. Ein starker Wind trieb das Feuer unaufhaltsam von einer der eng beieinanderstehenden Hütten zur nächs­ten. Die wenigen Menschen, die eine Schlange gebildet hat­ten und mit Wasserkrügen versuchten, das Feuer zu stop­pen, standen auf verlorenem Posten. Bald mussten auch sie dem Feuer weichen. Nach wenigen Minuten stand Joanne allein inmitten von rauchenden Trümmern, und nur von ferne drang das Wehklagen der Menschen an ihr Ohr. Sie zwang sich, einige Schritte zur Seite zu machen. Da­durch bewegte sie sich aus der Spur