Zeitenwende. André Graf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André Graf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634362
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mehr Schmerzen, als sie ohnehin schon hatte. Sie hatte nicht die geringste Lust, lange Erklärungen abzugeben und damit das Martyrium des Gesprächs zu verlängern.

      So bedankte sich der Anrufer leicht verwirrt und un­terbrach die Verbindung. Er dachte kurz nach und wählte dann die Nummer seines Vorgesetzten, um ihn über die Schwie­rigkeiten, mit denen er konfrontiert war, zu infor­mie­ren. Wohl hatte er vor wenigen Minuten eine Nachricht auf Cutters Handy hinterlassen, doch wann würde der Kunde die­se Nachricht abhören? Bis dahin würde er vergeblich auf seine Limousine warten und sich dann bestimmt sehr verärgert bei ihnen beschweren. Cutter war ein VIP-Gast. Sein Vorgesetzter würde gar nicht erfreut sein, wenn er ge­rade mit diesem Kunden Ärger bekam. Doch was sollte er tun? Der Wagen war kurzfristig ausgefallen. Es würde min­destens eine Stunde dauern, bis der Ersatzwagen im Hotel eintraf. Sollte der Chef doch selbst versuchen, diesen Cut­ter zu erreichen.

      Sandra blickte in die Lobby. »Cutter!«, fuhr es ihr durch den Kopf, als sie den Mann und seine Tochter neben ihren Koffern auf einem der Sofas sitzen sah. »Der Kerl hat Herrn Cutter gesucht!«

      Sie wollte zu Cutter gehen, um ihn über den Anruf zu in­formieren, wurde jedoch von zwei Franzosen auf­ge­halten, die sich wort- und gestenreich nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof erkundigten. Als sie den beiden den Weg auf ihrem Stadtplan eingezeichnet hatte, hatte sie Cut­ter und den Anruf schon längst wieder vergessen. Der nächste Gast wartete bereits ungeduldig am Empfangs­tresen, und ihr Chef warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, weil sie nicht auf ihrem Posten war.

      Und Joanne schlief. Sie waren erst gestern von Montreal nach Deutschland geflogen. Ihre innere Uhr ging noch nach kanadischer Zeit. Der Jetlag hatte sie fest im Griff. Wäre sie wach gewesen, so hätte sie ihren Vater vielleicht vor dem Mann gewarnt, der eben zielstrebig auf ihn zuging. Ob er ihre Warnung beachtet hätte? Vermutlich schon. Immer öfter hörte er auf ihre Eingebungen, auch wenn er sich manchmal noch dagegen sträubte, obwohl er oft genug Zeuge von Ereignissen geworden war, die ihn ver­anlasst hatten, nicht von vornherein auszuschließen, dass seine Tochter tatsächlich in vielen Lebenslagen über Fähigkeiten verfügte, die mit den bekannten physikalischen Gesetzen nicht erklärt werden konnten. Er musste dafür nicht einmal an eine Reise nach Mexiko denken, die sie vor einigen Jahren zusammen unternommen hatten.

      Doch Joanne schlief, und der Mann kam unaufhaltsam durch die beinahe leere Lobby auf ihren Vater zu.

      Waren es also nur drei Zufälle, die das Leben dieser beiden Menschen aus seiner geordneten Bahn drängten? Jonathan Cutter hätte auf diese Frage eine passende Ant­wort gewusst: Er hätte sie verneint, hätte sich vielleicht an eine Diskussion erinnert, die er Jahrzehnte zuvor in einem Kreis junger Studenten im Beisein des gestrengen Pro­fes­sors O’Hara geführt hatte und in der er dem Zufall jegliche Bedeutung abgesprochen hatte.

      *

      Ben, der muskelbepackte, hünenhafte Mathematikstudent aus Nebraska, sah aus, als ob er sich jeden Moment auf Cutter stürzen wollte.

      »Du bist so was von halsstarrig!«, brüllte er mit fun­keln­den Augen. »Nicht einmal theoretisch wird es dir möglich sein, die Zukunft aufgrund der Eigenschaften der Materie und der Naturgesetze vorherzusagen. Einer der Gründe da­für ist sehr simpel und stammt von den Vertretern deiner Gattung, den Physikern. Wie du vielleicht weißt« – Ben leg­te genüsslich eine rhetorische Pause ein – »gibt es im Weltall sogenannte Schwarze Löcher, die alles in sich auf­saugen, was in ihre Nähe kommt, und aus denen nichts wie­der herausgelangen kann. Da also dem Gesamtsystem laufend Masse und Energie entzogen wird, ist es ab­so­lut unmöglich vorherzusagen, wie sich das Gesamtsystem zu einem bestimmten Zeitpunkt X verhalten wird.« Ben grinste Cutter breit an und tippte ihm gegen die Stirn. »Das solltest du eigentlich wissen, großer Physiker. Ich hoffe zumindest, du hast schon etwas von Schwarzen Löchern gehört, Meis­ter. Ich fürchte fast, auch dein Hirn ist so etwas wie ein Schwarzes Loch: Vieles geht rein, aber nichts Gescheites kommt mehr raus.«

      Ben hatte die Lacher auf seiner Seite. Die anderen Stu­denten im Kreis – die meisten von ihnen studierten Philo­so­phie oder andere geisteswissenschaftliche Fächer – ge­nos­sen die Auseinandersetzung zwischen dem Mathe­mati­ker und dem Physiker. Sie waren immer wieder überrascht, wie grundlegend verschieden die Denkweisen dieser bei­den verwandten Disziplinen zu sein schienen.

      Die Lacher waren jedoch nicht gegen Cutter gerichtet; sie waren Ausdruck einer beinahe kindlichen Freude an har­ten intellektuellen Auseinandersetzungen.

      Professor O’Hara, der diesen Zirkel leitete, hatte sie da­zu angespornt. »Wie die jungen Löwen spielerisch den Kampf und die Jagd lernen, wenn sie miteinander herum­tollen, so sollt ihr hier die harte wissen­schaftliche Dis­kus­sion einüben, damit ihr gewappnet seid, wenn ihr euch eines Tages allein gegen eure dummen, jedoch ebenso skrupel- wie rücksichtslosen und einflussreichen Feinde im wissenschaftlichen Dschungel verteidigen müsst.«

      Cutter hatte also keinen Anlass, bei seinem Gegen­an­griff besonders rücksichtsvoll zu sein. »Mein lieber Ben«, begann er deshalb sarkastisch, »vor einigen Monaten erst hast du mich daran gehindert, Professor O’Hara zu er­schie­ßen. Ich habe dir diese Dummheit noch nicht ver­zie­hen, und schon begehst du die nächste.«

      Jetzt hatte Cutter die Lacher auf seiner Seite. Keiner der Anwesenden hatte Cutters Attentat auf ihren Professor vergessen.

      »Es war tatsächlich der kluge Hawking«, fuhr Cutter fort, nachdem das Gelächter verstummt war, »der die The­o­rie aufgestellt hat, dass nichts aus einem Schwarzen Loch entweichen kann. Keine Materie, keine Energie. Nichts. Es scheint jedoch leider noch nicht in die Welt der Mathematiker vorgedrungen zu sein, dass Hawking in­zwi­schen diesen Aspekt seiner Theorie über die Schwar­zen Löcher widerrufen hat.«

      Cutter genoss den Moment des Triumphes und über­leg­te gleichzeitig, wie er den Zuhörern, die weder Physiker noch Mathematiker waren, dieses Phänomen erklären sollte.

      »Stellt euch vor, ihr macht im Garten eine Grillparty. Ihr zündet die Holzkohle im Grill an und bratet eure Steaks. Nachdem ihr fertig gegessen habt, betrachtet ihr den Grill aus einer Distanz von einigen Metern. Ihr bekommt dabei den Eindruck, dass die Holzkohle erkaltet ist. Geht ihr je­doch näher zum Grill hin und haltet die Hand ganz nahe über die Holzkohle, so spürt ihr die Wärme, die sie noch immer ausstrahlt. Sie glimmt beinahe unsichtbar.«

      Cutter hielt einen Moment inne, bevor er auf den ent­schei­denden Punkt zu sprechen kam. »Genauso müsst ihr euch ein Schwar­zes Loch vorstellen. Zuerst haben wir Phy­siker ge­glaubt – genauso wie Ben, unser Mathematikgenie, es noch heute tut –, dass nichts aus einem Schwarzen Loch entweichen kann. Doch wir wissen nun, dass das nicht stimmt. Wie eure Holzkohle, so glimmen auch die Schwar­zen Löcher und emittieren dabei Materie und Ener­gie.«

      Nach einer erneuten kurzen Pause fuhr er fort: »Ihr seht also, meine Theorie ist durch Bens Einwand nicht entkräftet. Ich wiederhole: Wenn es einem Menschen – mit einem unbegrenzt leistungsfähigen Computer und der Kennt­nis über die Beschaffenheit der Naturgesetze aus­gestattet – möglich gewesen wäre, nur wenige Sekunde nach dem Urknall alle Teilchen zu katalogisieren, die es da­mals gab, so könnte er exakt die Zukunft vorhersagen. Er hätte also bereits damals, vor rund 14 Milliarden Jahren, gewusst, dass wir heute hier zusammensitzen und dass un­ser lieber Ben eine absolut idiotische Behauptung auf­stellen würde.«

      Cutter wurde von lautem Gelächter unterbrochen.

      »Stopp!«, rief Ben in die Runde und brachte mit diesem einen energischen Wort die Lacher zum Schweigen. Ben glaubte, dass Cutter mit diesen Ausführungen den ent­schei­denden Fehler gemacht hatte. Er fuhr deshalb tri­um­phierend fort: »Ihr müsst wissen, dass Jonathan ein glü­hen­der Vertreter einer Denkrichtung ist, die sich immer mehr Kritikern gegenübersieht: der Quantenmechanik. Als solcher hat er allerdings ein gewaltiges Problem, denn schließ­lich besagen gerade deren Gesetze, dass der Zufall regiert. Ja, die Väter der Quantenmechanik haben ge­wis­ser­maßen den Zufall zum Gott erklärt. Sie haben Wis­sen­schaftler, die die Vorhersagbarkeit von Ereignissen pos­tuliert haben, scharf angegriffen. Newton wurde ebenso gnadenlos attackiert wie Einstein; beide hatten eine etwas mechanistische