Liebe findet immer einen Weg. Monica Maria Mieck – Herausgeber Jürgen Ruszkowski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monica Maria Mieck – Herausgeber Jürgen Ruszkowski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847687207
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      Der Schneeballstrauch

      Ich weiß es noch, als wenn es erst vorgestern geschehen wäre, so hat sich dieses kleine Erlebnis damals in meine junge Kinderseele eingedrückt. Es war im Jahre 1947, und ich war neun Jahre alt. Zusammen mit meiner Mutter und meinen vier Geschwistern hatte ich erst zwei Jahre zuvor unsere ostdeutsche Heimat verlassen müssen. Wir wohnten alle zusammen in einem einzigen Zimmer, welches jedoch ziemlich groß war. Abends legten wir uns müde und oftmals auch hungrig auf unsere Strohsäcke. Manchmal konnte ich bei schlechtem Wetter nicht zur Schule gehen, weil ich keine Schuhe hatte. In den Sommermonaten lief ich fast immer barfuß. Und wenn die Hecken frisch geschnitten waren, hatte ich mir Dornen in meine nackten Füße getreten. Taschengeld hatten wir Kinder natürlich auch niemals bekommen. Also, es war an einem sonnigen Tag im Monat Mai, als zwei meiner Brüder und ich auf eine kleine Wanderung gingen. Unser Weg führte uns an schmucken Einfamilienhäusern vorbei, die wunderschöne Vorgärten hatten; für meine Kinderaugen sahen sie wie paradiesische Eingangshallen aus. Es blühten viele bunte Blumen in diesen Gärten. Aber in einem Vorgarten zog ein ganz besonderer großer Strauch unser aller Augenmerk auf sich, wie ein Magnet. Dicke runde weiße Schneebälle hingen in großer Zahl an den Zweigen. Der Strauch war fast so groß wie ein Baum. Ich hatte einen so bezaubernd blühenden „Schneeballbaum“ vorher noch niemals gesehen. Lustig, ja lu­stig schauten mich diese verführerischen weißen Bälle an. Sie erinnerten mich auch an die langen und kalten Winter in unserer ostdeutschen Hei­mat. Schneeballschlachten hatte ich im Winter schon oft erlebt. Aber blühende Schneebälle im Frühling, das war etwas ganz Neues für mich. Von diesem Strauch ging etwas Bezauberndes aus, wie in einem Märchen.

      Auf unserer Wanderung führte uns der Weg in einen Wald hinein, und wir Geschwister unterhielten uns sehr angeregt über unsere verschiedenen Lehrer. Überhaupt ging uns niemals der Gesprächsstoff aus. Ich weiß nun nicht mehr, wer von uns zuerst den Einfall hatte, auf dem Rückweg an dem Haus zu klingeln, in dessen Vorgarten der weiße Schneeballstrauch stand. Am kommenden Sonntag war nämlich Muttertag, und auch wir wollten unserer Mutter so gerne etwas schenken. Wir beschlossen genau, wie wir vorgehen wollten. Einer der Brüder wollte klingeln, und ich sollte die Bitte vortragen. Gemeinsam übten wir den Bittstellersatz regelrecht ein.

      Wir hatten auch Angst, eventuell abgewiesen zu werden. Darum musste unsere Bitte das Herz des Gartenbesitzers treffen. So übte ich auf dem Weg zu dem „Paradiesgarten“ immer wieder die beste Formulierung, die uns eingefallen war. Natürlich hatten wir das Haus mit dem außergewöhnlichen Vorgarten gleich wiedergefunden, und an der Haustür war auch schnell der Klingelknopf gedrückt. Eine Frau mit einem freundlichen Gesicht öffnete die Tür. Mein Herz schlug mir plötzlich bis in den Hals hinein, aber die Freundlichkeit in dem Gesicht der Frau ließ mich dann doch den Satz hervorbringen: „Wir möchten unserer Mutter so gerne zum Muttertag auch etwas schenken, und wir dachten, wir möchten Sie bitten, ob Sie uns ein paar Zweige von den wunderhübschen Schneebällen dafür geben könnten.“ Die Frau sagte gleich: „Ja, ich schneide euch gerne Zweige ab, damit ihr eurer Mutter auch am Sonntag eine Freude machen könnt. Ich hole nur noch schnell ein Messer aus der Küche.“ Während die freundliche Frau das Messer holte, stießen wir Geschwister uns gegenseitig an, erleichtert, dass unsere Bitte Erfolg gehabt hatte. Mit einem großen Strauß verzauberter Schnee­bälle, den der älteste Bruder trug, gingen wir durch die Straßen nach Hause, so glücklich, wie nur Schneekönige sein können.

      Eine Rose verschenkt,

      zwei Umarmungen bekommen.

      Wenig gegeben,

      reichlich genommen.

      Wenn die Seele singt

      Meine Erinnerungen an das Singen gehen sehr weit zurück, nämlich bis in meine frühe Kindheit. Ich muss wohl etwa vier Jahre alt gewesen sein, als meine Mutter in unserer Wohnung oftmals Lieder von Franz Schubert sang. Die Texte verstand ich natürlich noch nicht, aber der liebliche Gesang meiner Mutter verbreitete eine so fröhliche behagliche Atmosphäre, in der ich mich als kleines Mäd­chen schmetterlingsleicht fühlte. Und einmal in der Woche besuchte ich einen Kindertanzkreis, in dem alle Kinder gemeinsam zum Tanzen kleine Lieder sangen. Später war in der Schule das Singen eines meiner Lieblingsfächer. Vor allem war ich auch im Kinderkirchenchor eine begeisterte Sän­gerin. Mit meinen älteren Brüdern habe ich häufig abends, wenn wir schon in unseren Betten lagen, aber noch zu wach zum Schlafen waren, stundenlang zünftige Wander- und Volkslieder gesungen. Diese Stunden waren bunt und fröhlich, sie verbanden uns noch dichter miteinander. In der Weihnachtszeit wurde in unserer Familie beson­ders viel und gerne gesungen. Wir kannten auch fast alle Strophen von vielen Weihnachtsliedern auswendig.

      Einmal, als mein älterer Bruder in der Adventszeit nach Hause kam, saß ich im Dunkeln ganz dicht auf einem Stuhl am warmen Küchenherd und sang allein Weihnachtslieder. Ich weiß noch heute, dass er zu mir sagte: „Wie schön gemütlich ist es, wenn du singst.“

      Als junge Mutter habe ich dann das Singen wieder besonders gepflegt, als ich meine drei Kinder groß­gezogen habe. Ein Gutenachtlied beschloss immer den Tag, aber beim Baden und Wickeln „badete“ ich meine Kleinen förmlich auch in Liedern. Die schon etwas verstaubte selbst gebastelte Handpuppe, die noch heute auf dem Bücherbord ihren Platz hat, war einst ein Instrument voller lebendiger Musik mit Hilfe meiner Stimme. Vielleicht erlebt diese erinnerungsträchtige Puppe ja noch einmal eine klangvolle Zeit, wenn ich ein Enkelkind zu betreuen habe. Hinzu kommt, dass ich mir die vielen eintönigen Arbeiten im Haushalt durch allerlei Gesänge verschönt und damit erleichtert habe. Beim Blumengießen trällerte ich, mit der Gießkanne in der Hand, immer das kleine Lied: „Meine Blümchen haben Durst...“ Schon bald konnte der Älteste seinem neugeborenen Brüderchen ein Kinderliedchen singen und ihn damit manchmal so bei froher Stimmung halten, bis ich das Milchfläschchen fertig hatte.

      Inzwischen sind die Kinder längst erwachsen und alle fortgezogen. Doch das Singen habe ich deshalb zum Glück nicht verlernt. Jetzt fange ich den neuen Tag nach dem Frühstück immer mit zwei bis drei Liedern an. Das stärkt mich für das Tagewerk, lässt mich nachsinnen, wofür ich wohl zu danken Anlass habe. Und während der Autofahrten in den Urlaub oder zu kleineren Ausflugszielen unterwegs unterhalte ich meinen Mann und mich hingebungsvoll mit lustigen Wander- und Volksliedern, die ich immer noch textsicher schmettern kann.

      Jedoch seit über sieben Jahren habe ich eine neue, besonders schöne Erfahrung mit dem Singen ge­macht, die mich allwöchentlich immer wieder so beeindruckt, dass ich sie mitteilen möchte. Also ich fahre jede Woche für einen Nachmittag in ein Senioren- und Pflegeheim, um mich dort um die hoch betagten Menschen intensiv therapeutisch zu kümmern. Vorausschickend muss ich erwähnen, dass ich zu allen alten Menschen dort im Heim ein sehr herzliches Verhältnis aufgebaut habe und auch pflege. Nachdem ich jeden einzelnen begrüße und nach seinem Befinden frage, beginnen wir unsere gemeinsamen Aktivitäten mit leichter Gymnastik meistens nach Walzermusik von der Kassette. So lockern wir fast spielerisch unseren Körper und befreien die manchmal schon steifen Glieder aus ihren Ketten. Danach tragen wir alle bei einem fröhlichen Wörterspiel unsere geistigen Einfälle zusammen. Doch ein paar der lieben Alten aus unserem Kreise können, durch die Alzheimer-Krankheit bedingt, nicht mehr bei diesem geistigen Training mitmachen. Aber wenn ich dann zu Beginn des dritten Teils unseres Nachmittags ein bekanntes Lied anstimme und meine Augen dabei in die Runde schauen, erblicken sie zu meinem gro­ßen Erstaunen, dass tatsächlich während des Singens ein Wunder mit den Erkrankten geschehen sein muss, denn sie können plötzlich eine Strophe nach der anderen mitsingen. Ihr Langzeitgedächtnis funktioniert noch im wahrsten Sinne des Wortes wunderbar. Die Menschen, die mir nicht einmal mehr sagen können, was für ein Wochentag heute ist, singen eine halbe Stunde lang auswendig aus ihrem Gedächtnis die schönen Volkslieder, die sie gewiss früher einmal in der Schule gelernt haben. Und wenn ich dann in diese Gesichter schaue, sehe ich, wie das Verkrampfte dem Entspannten Platz macht, ja wie Leben und Glanz sich in