TRAANBECKS AUSNAHMEZUSTAND. Christian Schwetz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Schwetz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738004830
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erreicht? Henk, hallo“ drang es von hinten in Henks Bewusstsein. Ja, er hatte TRA erreicht. Er war eins mit den Zeichen und Symbolen, es machte ihn glücklich, wieder mit den Daten, die er vor Tagen erst auf diese intime Weise kennen gelernt hatte, vereint zu sein. Er wusste, er sollte Miriam ein Zeichen geben, er hatte es vorgehabt, hatte seine Hand heben wollen, oder eine Nachricht in ein neues Dokument schreiben, oder einfach sagen „ja, ja, ich bin im TRA, es ist so schön, du solltest das auch erleben“. Aber es gab so viel zu sehen, soviel zu spüren. So viele Worte, die in so vielen Zellen seines Körpers ihre Entsprechung hatten. Und in seinem Gehirn diese Reste von „ich“, Teil des Ganzen, nicht mehr oder weniger wert. Warum sollte er das unterbrechen, nur um Miriam, die das ohnehin nie verstehen konnte mitzuteilen, dass er noch nicht in der Lage war, ihr zu vermitteln wie sich das anfühlte?

      „Henk, hörst du mich? Hast du TRA erreicht? Henk, hallo“. Miriam sah, dass Henks Zuckungen stärker, großflächiger wurden. Als ob er gegen enganliegende, stramme Fesseln aus unsichtbarem Gummi oder Plastik ankämpfen würde, sich aber nicht daraus befreien könnte.

      „Henk, wenn du mich hörst, heb die rechte Hand, oder sag was. Bitte Henk. Ich will dich noch nicht schütteln, wenn du wirklich im TRA bist. Versuchen wir, ob du zu mir durchkommst, wenn du mich hörst. Hörst du mich Henk? Bitte, gib mir ein Zeichen, wenn du mich hörst.“

      „Henk, wenn du mich hörst,…“

      Ja, ja, ich höre dich ja. Ich will aber nicht auf dich hören. Das ist mir alles noch zu viel. Die Daten auf dem Computer, und jetzt auch noch die Daten, die du sendest. Das sind doch auch nur aus einzelnen Tönen zusammengesetzte Zeichen. Ich weiß, wie du sie im Mund formst, und ich weiß, welche Fülle von Tönen dir zur Verfügung stehen, um diese Botschaft an mich zu senden.

      „Heb die rechte Hand, oder sag was.“

      Ja, was denn nun? Du wählst aus einer fast unbeschränkten Zahl möglicher Signale ein paar aus, um mir eine bestimmte Botschaft zu senden, und trotzdem wird deine Botschaft so ungenau. Was soll ich denn nun machen? Ich könnte die Hand heben. Die Rechte sagst du. Das ist zumindest konkret. Es ist nicht die Linke, und du willst ein einfaches Heben, kein Winken, kein Klopfen. Du bemühst dich, es mir leicht zu machen und mir die Entscheidung abzunehmen. Warum widerrufst du diese einfache Anweisung dann, um ein paar Silben von mir zu fordern. „Sag was“ – das ist ja völlig unbestimmt. Ich kann doch derzeit nicht klar denken, wie sollte ich also entscheiden können, welche Worte aus der unendlichen Vielzahl an Möglichkeiten ich...

      „Bitte Henk. Ich will dich noch nicht schütteln, wenn du wirklich im TRA bist.“

      Nein, bitte nicht, es war schwer genug, diesen Zustand wieder zu erreichen. Ein idiotischer Name, aber immerhin. Traanbecks Radikaler Ausnahmezustand, das sagt auch nicht weniger aus, als die meisten anderen Bezeichnungen, die uns vorher eingefallen sind. Es ist ja tatsächlich ein radikaler Ausnahmezustand. Und zwar meiner. Ich, Henk Traanbeck, hänge hier fest, zwischen all diesen Bildern in meinem Kopf. Die Beschreibung der toskanischen Landschaft etwa, die ich in einem Email von Geraldine vom 28. Juni letzten Jahres lese und weiß und verstehe, ist nicht weniger präsent wie das Bild, welche Muskeln ich auf welche Weise spannen und entspannen müsste, um deinem Wunsch, den Arm zu heben zu entsprechen.

      „Versuchen wir, ob du zu mir durchkommst, wenn du mich hörst.“

      Ja, ich höre dich ja, ich danke dir, dass du mich auf eine höhere oder tiefere Ebene geholt hast, wo ich nicht nur überwältigt von der Informationsfülle bin, sondern auch einen eigenen Willen habe. Oder die Ansätze zu eigenem Willen. Es ist ja irgendwo mein ’ich’, das darüber nachdenkt, ob ich deiner Bitte „Gib mir ein Zeichen, wenn du mich hörst.“ nachkommen soll. Ich will ja, wir haben es so besprochen, und das weiß ich auf die gleiche Weise, wie ich weiß, was in der vierten Strophe meines Liebesgedichtes an Renate steht. Aber ich kann nur eine höhere Ebene dieses TRA erreichen, wenn ich auch in diesem Zustand zu eigenen Gedanken und Handlungen fähig bin.

      Mühsam kämpfte sich Henks Hand nach oben, und hunderte von Gedanken gingen ihm durch den Kopf, die WIR nicht alle im Detail wiedergeben wollen. Miriam sah, wie Henks Hand kämpfte, wie gegen starke, unmenschlich starke Widerstände. Oder wie durch einen Brei aus mehr als dickflüssiger Konsistenz.

      Henk hörte Miriam, und er konnte es ihr signalisieren, und das war eine neue Art von Glücksgefühl. Für ihn.

      Für sie. Er war im TRA, sie hatte es zusammen mit ihm erreicht, war Zeuge. Später konnte er ihr mehr erzählen, vielleicht schon in ein paar Minuten. Vielleicht konnte er früher oder später im TRA schreiben oder sprechen. Aber jetzt gab er ihr ein Zeichen, weil sie ihn darum gebeten hatte. Sie war zu ihm durchgedrungen und er zu ihr.

      Henk konnte den Ausnahmezustand nicht halten. Ein Teil von diesem „Alles“ sein, und trotzdem der Pilot, der nicht nur diese Fülle von Informationen verarbeiten, seinen eigenen Körper davon losgelöst kontrollieren, sondern auch noch mit Passagieren wie Miriam kommunizieren und Entscheidungen treffen sollte, die für Alle das beste waren – das ging noch nicht.

      WIR können nicht nachvollziehen, was dieser Konflikt zwischen Ich und Teil bedeutet, und was daran schwer sein soll. WIR sein und Teil sein, das ist das Selbe. WIR kennen den sprachlichen Unterschied zwischen „das Gleiche“ und „das Selbe“. WIR zu sein ist Teil zu sein. Das sind WIR selbst, auch wenn es nicht immer gleich ist, da die Bedingungen und die Teile immer anders sind.

      Henk jedenfalls verließ den TRA. Er erinnerte sich an eine Übung. Ob sie aus dem Autogenem Training, oder einem anderen der esoterisch–bewusstseinsbildenden Kurse, die er in den letzten Jahren besucht hatte entnommen war, wusste er nicht, es war egal. Er schloss die Augen, zählte von Drei bis Null rückwärts und riss bei Null die Augen auf. Begleitet von einem stoßartigen Ausatmen der Luft. Da er im Moment von allem, was mit seinem Computer als Auslöser oder Verstärker des TRA zu tun hatte, nichts wissen wollte, suchte er nach dem Öffnen der Augen Blickkontakt mit Miriam.

      Für Miriam war dieser Blickkontakt mit seltsamen Gefühlen verbunden. Eben noch hatte sie Henks starren Blick auf den Bildschirm gesehen, und diese Freude gespürt, als er endlich die Hand gehoben hatte. Er war im TRA gewesen, und sie war Zeuge davon. Und nun dieser verwirrte Blick, sie konnte es nicht besser beschreiben, es war nicht Panik, es war eine Verwirrtheit, Fremdheit. Und – wie beim Scharfstellen einer Linse – merkte sie in seinen Augen, wie er sie erkannte und freudig lächelte. Sie mochte Henk, auch wenn sie nicht sagen konnte wie und warum. Deshalb hatte sie sich schließlich auch Sorgen um ihn gemacht. Aber diese Freude in seinen Augen, als er sie sah, - das verursachte ihr ein warmes Strahlen im Brustkorb, einen Kloß im Hals, feuchte Augen. Und sie bildete sich ein, körperlich zu spüren, wie ihr Herz dieses warme Gefühl zusammen mit dem Blut durch ihren ganzen Körper pumpte.

      WIR wissen, dass Henk nicht auf diese Weise über Miriam gedacht hat. Seine strahlenden Augen waren die Reaktion darauf, dass er nicht mehr im TRA war, sondern wieder in der Realität, wie er sie gewohnt war. Und dass er den Ausnahmezustand erreichen konnte, wann und wie er wollte, und damit umgehen, und ihn wieder verlassen, ganz nach Belieben. Den Tisch oder das Bett hätte er auf die gleiche Weise angestrahlt, da sein Strahlen nur aus ihm kam und nicht von Miriam ausgelöst wurde.

      Sie einigten sich rasch, dass es sinnvoller wäre, wenn Miriam versuchen würde, den Ausnahmezustand selbst zu erreichen, als wenn er wieder einmal in Worte fassen müsste, was er nicht konnte und wollte. Er stand auf, und Miriam nahm auf dem Sessel vor seinem Bildschirm Platz. Während er sich streckte und dann Kniebeugen machte, sollte sie so konzentriert wie möglich auf den Bildschirm starren.

      „Sei ganz leer, und ganz offen für alles was kommt“ sagte er. Und obwohl sich Miriam bemühte, leer und offen zu sein, kam da nichts. Henk sprach ihr Mut zu, sie solle nicht zu ungeduldig sein, und ging in die Küche, sich einen Saft machen. Gierig trank er das Glas aus, und noch eines und noch ein Drittes. Er kam zu Miriam zurück, die sich weiterhin bemühte, auch wenn Henk ihr nicht genauer sagen konnte, wie diese Bemühungen konkret aussehen sollten. Miriam wurde ungeduldig, und merkte, dass die Aussichten offen und leer zu sein, immer geringer wurden, da sie nur noch an Scheitern denken konnte. Sie ärgerte sich, dass ihre Gedanken in „Ich soll doch nicht denken. Wenn