TRAANBECKS AUSNAHMEZUSTAND. Christian Schwetz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Schwetz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738004830
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hatte Fjodor zugesagt. Das, was Henk ihm vor zwei Tagen von diesem seltsamen Bewusstseins-zustand erzählt hatte, war faszinierend gewesen. Völlig verrückt natürlich, aber faszinierend. Wahrscheinlich war es Blödsinn. Irgendeine Überreizung von Henks Nerven, die dazu geführt hatte, dass er sich diese Dinge einbildete. Aber wenn es doch wahr wäre, wenn nur eine Spur Wahrheit dabei war…

      Fjodor hatte die letzten beiden Tage immer wieder an Henks Geschichte gedacht. Er glaubte nicht wirklich an eine Verschmelzung mit den Daten, durch die alle gespeicherte Information einfach verfügbar und verständlich war. Es kam ihm vor, wie eine Lotto-Runde mit Mehrfachjackpot. Die Chance, zu gewinnen war minimal, aber gleichzeitig konnte er es sich nicht leisten, es gar nicht zu versuchen.

      Er träumte von den tollen Möglichkeiten, falls Henks Erlebnis wiederholbar sein sollte. In Rekordtempo die Steuerberaterprüfung schaffen, wenn er alle Daten im Computer kannte und verstand und begriff. Oder Börsenspekulationen. Wenn man wirklich alle vorhandenen Informationen so verknüpfen konnte, dass man selbst ein Teil davon wurde, war es ja nur notwendig, die entsprechende Fülle an Daten zu beschaffen, um diese nachher nutzen zu können.

      Ja, er wollte bei diesen Experimenten dabei sein. „Wenn er konnte und wollte“, so eine blöde Formulierung. Wenn man will, dann kann man auch. Dass er Anna gesagt hatte, er könne nicht kommen, da er keine Zeit hätte, war eine glatte Lüge. Er konnte nicht mit Anna den Abend verbringen und bei und mit ihr schlafen, weil er mit Henk in irgendwelche neuen Dimensionen des Bewusstseins vordringen wollte. Aber das konnte er Anna doch nicht sagen. Zumindest nicht mit diesen Worten. Darum hatte er gesagt, dass er keine Zeit hätte. Sich aus dieser Lüge wieder herauszureden war schwierig. Fjodor fand, dass es egal war, ob er das nun gleich, erst am Abend, oder irgendwann in den nächsten Tagen versuchen würde.

      Er dämpfte die Zigarette aus. Aus dem halbvollen Aschenbecher stieg weiter qualmender Rauch auf. Fjodor sah den Rauch, aber konnte ihn keinem Zigarettenstummel zuordnen. Er griff hin, wollte ausdrücken, nein, das war der falsche Stummel. Beim nächsten Versuch das gleiche Ergebnis. Er folgte der Spur des Rauches und fingerte die schlecht ausgedämpfte Zigarette hervor. Er drückte sie mit Kraft und wildem Drehen gegen den Boden des Aschenbechers, dass sie sich verbog, die Tabakreste zerbröselten, und vom Filter nur ein fast runder Stummel über blieb.

      Kapitel 6

      Miriam keuchte die Stiegen hinauf. Vielleicht hätte sie doch lieber auf den Aufzug warten sollen. Sie wollte nicht verschwitzt und außer Atem vor Henks Tür stehen. Aber sie wollte vor Fjodor ankommen, wenn möglich. Oder zumindest nicht lange nach ihm. Es war sowieso eine unmögliche Konstellation, wie sie fand. Sie gegen zwei Männer, die obendrein noch Schulfreunde waren. Henk war nicht das Problem. Gegen den konnte sie sich durchsetzten, den konnte sie, wenn es notwendig war, von ihrer Sicht der Dinge überzeugen. Das war in letzter Zeit im Büro immer öfter so gewesen, und auch gestern, hier in seiner Wohnung. Obwohl es ein Heimspiel für Henk hätte sein müssen, hatte sie das Gefühl gehabt, die Oberhand zu gewinnen. Spiel, Satz und Sieg.

      Zwischen dem zweiten und dem dritten Stock blieb Miriam stehen. Sie holte ihren Deospray aus der Handtasche, zog die Ärmel beiseite, und sprühte jeweils einen Schwall Bambus-Citron durch die Achsellöcher ihres T-Shirts. Sie wartete, bis ihr Atem normal und gleichmäßig wurde. Langsam stieg sie die restlichen Stufen hinauf, ging den Gang nach hinten, bis zu Henks Wohnungstür und...

      Nein, zuerst mal gucken, ob ich was höre, entschied sie und hielt das Ohr an die Tür. Nichts. Was nur hieß, dass Henk und Fjodor sich weder anschrieen, noch gemeinsam Lieder grölten. Sie wusste, dass Fjodor trotzdem schon da sein konnte. Was soll’s, dachte sie und läutete.

      Fjodor lümmelte gemütlich auf Henks Sofa, die Beine angewinkelt, die Füße bohrten sich in den Stoffbezug.

      „Setz dich“, sagte Henk zu Miriam, „ich hol dir was zu trinken“ und ging Richtung Küche. „Was willst du denn?“

      „Egal, irgendwas“ bestellte Miriam.

      Vor Fjodor auf dem Couchtisch stand ein halbvolles Glas mit Cola. Ein zweites Glas, ebenfalls mit Cola, stand an der Querseite des Tisches, vor einem alten, rot lackierten Sessel.

      „Willst du auch Cola?“ kam Henks Stimme aus der Küche.

      Miriam wusste, dass es gesundheitliche und politische Gründe gab, Cola abzulehnen. Es schmeckte ihr trotzdem manchmal, und sie hatte nicht jeden Tag Lust, sich politisch korrekt zu verhalten. Es war eher ein Gefühl, sich von den beiden Männern abgrenzen zu müssen.

      „Nein, kein Cola bitte! Bring mir einfach ein Glas Leitungswasser.“

      Fjodor konnte den Blick Miriams nicht länger ignorieren.

      „Hallo Du“, grüßte er, und nickte ihr zu.

      „Hallo Fjodor. Schön, dass du auch kommen konntest.“ Dann schauten sie wieder aneinander vorbei. Die Blicke glitten durch den Raum, wie Laserstrahlen, die nicht nur jeden Kontakt mit der anderen Person, sondern auch mit deren Strahlenblick vermeiden wollten.

      Miriam stand noch, als Henk mit dem Glas Wasser zurück kam. Sie nahm es ihm aus der Hand, stellte es knapp neben sein Colaglas und schob seines weiter Richtung Sofa. Dann setzte sie sich auf den Stuhl.

      „Ähm, ok, na dann“ murmelte Henk, und lies sich neben Fjodor auf dem Sofa nieder.

      Henk hatte tagsüber einen Plan ausgearbeitet, den er nun holen ging. Miriam fiel vor allem die große, klare Schrift auf, die sie an ihre Volksschullehrerin erinnerte. Gerade weil sie sich früher oft anhören hatte müssen, ihre Schmiererei sei eine Jungen- oder Doktorenschrift, dachte sie bei Henks Handschrift an Mädchen, Kindergärtnerinnen und Volksschullehrerinnen.

      Das, was Henk aufgeschrieben hatte, fand sie sinnvoll und gut strukturiert. Zuerst wollte er sich noch einmal in den TRA-Zustand versetzen. Dann wollte er versuchen, mit Miriam und Fjodor zu kommunizieren. Erstes Ziel wäre, zu reden. Falls er das nicht schaffen sollte, wäre die nächste Option, ihnen am Bildschirm eine Nachricht zu schreiben. Als dritte und letzte Möglichkeit wollte er zumindest Handzeichen geben, wie am Vortag mit Miriam.

      „Und wenn du wieder in diese Trance fällst? Wollten wir nicht ausmachen, was ich zu dir sagen soll und das genauer planen?“ mischte sich Miriam in Henks Vortrag.

      „Klar, das kommt ja noch. Schau!“

      Er hielt ihr den Zettel hin, wo tatsächlich als nächstes großes Unterkapitel „KOMM falls weg“ stand.

      „Kommunikation, falls ich weggetreten bin“, kam Henk ihrer Frage zuvor.

      Miriam sah, dass Fjodor sein fast leeres Glas zum Mund führte, einen winzigen Schluck trank, es auf den Tisch stellen wollte, zurück zum Mund führte – bis er ihren Blick merkte, dem er auswich. Fjodor fühlte sich also im Moment wie das dritte Rad am Wagen. Gut so. Aber hieß das nicht fünftes Rad? Egal.

      Miriam wandte sich wieder dem Zettel zu, und las laut vor:

      „Erstens: Drei mal: sag etwas.

      Dann Drei mal: Sag: Ich bin im TRA

      Dann Drei mal: Sag: Hallo

      Zweitens: Drei mal: Geh ins Word und schreibe:

      Da bin ich.

      Dann...“

      „Und was ist, wenn er vorher schon etwas sagt?“ warf Fjodor ein. „Wenn er zum Beispiel sagt „Ich bin im TRA“, wäre es dann nicht sinnvoller, gleich da weiter zu machen? Und ihn dann zum Beispiel zu fragen, ob er frei reden, oder nur Fragen beantworten kann? Oder ob er uns nicht irgendwelche Daten aus diesen ...“

      „Ja, ja, das war doch sowieso klar“ verteidigte Henk sein Konzept. „Wenn ich schon am Anfang mit euch reden kann, dann erübrigt sich natürlich der Rest.“

      „Also wirklich, mir war das klar“ ergriff Miriam Henks Partei und sah Fjodor vorwurfsvoll an.

      „Wo war ich? Ach ja.

      Dann