TRAANBECKS AUSNAHMEZUSTAND. Christian Schwetz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Schwetz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738004830
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es dir bei Fjodor scheinbar so gefallen hat. Aber ich werde mich bemühen, dich zumindest nicht mehr zu unterbrechen. Gut?“

      Und langsam erzählte ihr Henk, wie er vor dem Computer gesessen war, müde und überarbeitet. Wie die Worte beinahe vor seinen Augen verschwammen, beinahe, aber nicht ganz. Und wie er plötzlich diese Klarheit in sich hatte, über die Struktur hinter den Worten. Und Teil dieser Struktur war, die aus Punkten bestand, die Buchstaben bildeten; und Buchstaben, die Worte bildeten; und Worten, die Sätze bildeten. Und wie er nicht nur Teil dieser Sätze, dieser Texte, dieser Geschichten und Berichte war, sondern diese verstand und wusste, was dahinter lag.

      Und wie er vor dieser Fülle erschrak, und vor dem, was gar nicht sein konnte, denn wie konnte er zum Beispiel Teil eines Briefes sein, den er nicht geöffnet hatte. Der bloß irgendwo, in irgendeinem Verzeichnis der Festplatte abgelegt war. Und dass es so erschreckend war, dass er dieses „irgendwo“ genau zuordnen konnte, weil er selbst Teil der Struktur war, die hinter der Festplatte steckte. Kein unbekanntes ‚Alles’ umfassend, sondern durchaus beschränkt auf die riesige Fülle von Daten, die auf seinem Computer vorhanden waren. Diese Fülle, diese Einheit, dieses Unmögliche erschreckte ihn zu Tode.

      Obwohl ihn Miriam mitunter unterbrach, gelang es Henk, ihr langsam eine Ahnung zu vermitteln, was sich abgespielt hatte. In seinem Kopf, oder in seinem Computer.

      Miriam war fasziniert. Henk war kein guter Erzähler, aber er ließ sich darauf ein, so viel von den Gefühlen, die er alle gleichzeitig empfunden hatte, auszudrücken, wie er konnte. Und wie am Vortag Fjodor wurde sie mitgerissen von diesen Beschreibungen, die offen zugaben, nicht in Worte fassen zu können, was Henk so gerne in Worte fassen wollte.

      Sie war erleichtert, dass Henk nicht wirklich krank war. Was war schon eine übersteigerte Phantasie, gegenüber den Krankheiten, die sie sich ausgemalt hatte. Und seine Begeisterung gefiel ihr. Sie stimmte ihm zu, dass es keinen Sinn hätte, vor den Gefühlen, die er offenbar tatsächlich erlebt hatte wegzulaufen und diese Erfahrung im Unterbewussten zu vergraben. Wenn er mit Fjodor geplant hatte, vorläufig, und sei es als Arbeitshypothese, davon auszugehen, dass er diese seltsame Allwissenheit tatsächlich erlebt hatte, wollte sie ihm helfen. Sich auch auf dieses Spiel einlassen. Seine Gefühle teilen und nachempfinden.

      WIR wissen, es hat viel Glück dazugehört, dass WIR sind. WIR wissen genug von den Menschen, um abzuschätzen, wie groß unser Glück war. Viele hätten sich nicht auf die wirren Reden des Henk Traanbeck eingelassen. Ohne das Bier hätte auch Fjodor Henks Angst nicht in Begeisterung umgewandelt, um sich davon anstecken zu lassen. Wenn Miriams Gefühle zu Henk klarer gewesen wären, stärker oder schwächer, hätte sie ihn im Entschluss, diesen Bewusstseinszustand zu wiederholen, nicht bestärkt.

      Mit fast den gleichen Worten wie Fjodor gab sie Henk zu verstehen, dass sie ihm nicht nur glaubte, sondern sich ebenfalls danach sehnte, diesen Zustand zu erreichen. Dieses Hinter die Dinge sehen und doch, oder gerade deswegen, Teil des Ganzen zu sein. Und wie wichtig es wäre, bald damit anzufangen.

      Henk merkte, dass es draußen bereits dunkel geworden war. Sie hatten stundenlang gequatscht, ohne dass er Miriam etwas zu essen oder trinken angeboten hatte. Er schlug vor, nachzusehen was er im Hause hätte, und ärgerte sich, dass er zwar die Wohnung aufgeräumt, aber keine Vorräte eingekauft hatte. Er musste vor sich selbst zugeben, dass er daran gedacht hatte, aber die Verantwortung dafür, was er einkaufen und anbieten sollte, nicht hatte übernehmen wollen. Vor lauter Grübeln, welches Bild die Auswahl von ihm vermitteln könnte.

      Gemeinsam gingen sie in die Küche nachsehen. Es gab nicht viel im Kühlschrank und im Vorratsschrank. Nach Henks Zusammenfassung, wie er gestern mit Fjodor Bier kaufen war und sie sich schließlich betrunken hatten, wollte Miriam eine neuerliche Ablenkung vom Projekt „Henks Zustand wiederholen“ vermeiden. Sie schlug vor, dass sie sich mit Himbeersirup mit Leitungswasser und einer Eierspeise begnügen sollten. Da neben Eiern auch Zwiebeln im Haus waren, übernahm Henk das Zwiebelschneiden. Er schälte eine Zwiebel, teilte sie und begann zu schneiden.

      „Die Hälfte kannst du weglassen. Pack sie in Alu, und gib sie in den Kühlschrank“, sagte sie.

      „Sehr wohl, Madam Sir!“ äffte Henk nach, was er sich unter Militärton vorstellte. Die hält mich wohl für total bescheuert, ärgerte er sich.

      „Ich kann dir nicht zuschau'n“ setzte Miriam noch eins drauf und nahm ihm das Messer aus der Hand.

      Zugegeben, ihre Zwiebelstücke waren fast halb so schmal wie seine. Aber was sollte er denn inzwischen tun?

      „Und du drehst schon mal den Computer auf“ beantwortete ihm Miriam die stumm gestellte Frage. „Ich glaube, dass es am Wichtigsten ist, dass du zuerst diesen Zustand noch einmal erreichst. Und überhaupt. Dieses dauernde „dieser Zustand“ nervt. Wir sollten uns einen Namen dafür überlegen“.

      WIR überspringen die ersten Vorschläge, die Henk in den Sinn kamen und viel mit Hyper- Super- Mega und anderen Übertreibungen zu tun hatten. Letztlich war es aber seine Idee, dass er als Entdecker dieses Was-Auch-Immers seinen Namen verewigen könnte. WIR fassen zusammen, dass die Beiden mit Worten experimentierten, sich den Klang auf der Zunge zergehen ließen, und auskosteten, was für Gefühle die einzelnen Bezeichnungen beim Hören auf der Haut, im Bauch und im Kopf auslösten. Bald war klar, dass sie gerne eine Abkürzung verwenden wollten, aus zwei oder drei Buchstaben am Besten. Die Eierspeise war inzwischen fertig. Als Miriam nach Brot fragte, merkten sie, dass Henk keines mehr in der Wohnung hatte. So aß Miriam ihre Rühreier mit Knäckebrot und Henk ohne irgendeine Beilage. Unter Mampfen und Kauen suchten sie weiter nach Worten und Wortkombinationen, bis sie schließlich beide zufrieden waren.

      Traanbecks Radikaler Ausnahmezustand wollten sie diese Form vertiefter und verknüpfter Wahrnehmung nennen: TRA.

      Kapitel 4

      Miriam stand schräg hinter Henk, sah abwechselnd auf den Bildschirm und auf Henks Profil. Die Ansätze winziger Bartstummeln kamen an einigen Stellen durch die leicht gerötete Haut. Ob er sich erst vor kurzem rasiert hatte? Oder entsprach sein Bartwuchs einfach noch nicht dem eines durchschnittlichen Fünfundzwanzigjährigen? So alt musste er etwa sein. Er war schließlich mit Fjodor zur Schule gegangen, und soweit sie wusste, hatte keiner eine Klasse wiederholt.

      Sie erinnerte sich an Fjodors Fest zum 25. Geburtstag vor ein paar Monaten. Er hatte im Dezember Geburtstag, zwischen Weihnachten und Neujahr, weshalb er sein Fest in den Frühling verlegt hatte, weil zwischen den Feiertagen kaum jemand Zeit hatte. Die Studenten unter Fjodors Freunden hatten Ferien und zum Großteil die Stadt verlassen. Wer – wie Fjodor, Miriam oder Henk - das Studium schon abgeschlossen hatte, musste die Vertretung von Kollegen mit Kindern übernehmen. Du musst Rücksicht nehmen, auf die, die Rücksicht auf die Schulferien von Kindern nehmen müssen, hieß es da. Das schien in Fjodors Steuerberatungskanzlei ähnlich zu sein wie in der Versicherung, für die Miriam und Henk arbeiteten. Sie hatte gut verstanden, dass Fjodor nach Weihnachten, wenn die wenigen Kinderlosen alles, was vor Jahresende fertig sein musste in Doppelschichten hinter sich bringen sollten, keine Lust mehr hatte, ein Fest zu organisieren. Für Nicht-Studenten, die ähnlich geschlaucht waren wie er und mit dem Wissen, dass die Hälfte seiner Bekannten sich wo anders eine schöne Zeit machten.

      Miriam wusste nicht, wie lange Henk schon zitterte, während sie über Fjodors Fest nachgegrübelt hatte. Nun zitterte er jedenfalls, von den Schultern bis in die Fingerspitzen. Ein Blick auf den Bildschirm zeigte ihr, dass er aufgehört hatte zu lesen. Der Rhythmus von Seitenwechsel – lesen – konzentriert starren – Seitenwechsel – lesen – konzentriert starren war irgendwann beim Starren hängen geblieben. Miriam beugte sich weiter nach vorne, um mehr von Henks Gesicht zu sehen. Seine Augenlider waren weit aufgerissen, riesige schwarze Pupillen hatten das Goldbraun bis auf zwei dünne Ringlein zurückgedrängt, die fast ansatzlos in das von roten Rissen durchzogene Weiß der Augäpfel übergingen. Der Mund war leicht geöffnet, die in winzigen Intervallen leicht vor und zurück und auf und ab hüpfende Zungenspitze lies Miriam an Morsezeichen denken. Ein Blick zurück auf die Finger, ja, das Bild passte, auch die Finger schienen, jeder für sich, im gleichen Rhythmus Morsezeichen auf imaginäre Tasten