Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst Tegethoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742762917
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die ungestüme Lebenskraft der Zeit äußert sich im

       Schwank und in der derben Faschingsposse, man

       nimmt das Menschliche menschlich. Es ist das Jahrhundert

       des F r a n ç o i s R a b e l a i s . Sein

       »Gargantua« (1532) ist nichts anderes als eine gigantische

       Verzerrung des Märchens vom starken

       Hans, ein Märchentypus, der auf die Jugendgeschichte

       des germanischen Siegfried sowohl wie des finnischen

       Kullervo eingewirkt hatte, der aber in Frankreich

       durch die Tätigkeit der Spielleute, die im Rainouart

       des Karlszyklus ein Vorbild des Rabelaisschen Helden

       schufen, und nicht ohne Einwirkung des keltischen

       Hanges zur Groteske jene Form erreichte, die

       das Märchen noch heute im Volksmund festhält: eine

       Vergröberung und Verspottung des altgermanischen

       Riesentypus.

       Neben Rabelais verschwinden die Autoren von

       S c h w a n k s a m m l u n g e n , die dem von den Fabliaux

       und der italienischen Novelle gewiesenen

       Wege folgten. 1521 wurden die Gesta Romanorum

       unter dem Titel »Violier des histoires romaines«

       durch Jehan de la Garde in Paris gedruckt. 1535 eröffnete

       Philipp von Vigneuilles mit seinem noch ungedruckten

       »Recueil« den Reigen der Nachahmer

       Boccaccios, Poggios, Sacchettis und Masuccios, kurz

       darauf folgt Nicolaus v. Troyes »Parangon« (1535)

       und Bonaventura Desperiers mit seinen »Joyeus

       devis«. Der große Nachahmer Lucians, der seinen

       Kampf gegen das Christentum 1544 freiwillig beendete,

       um den Verfolgungen der Inquisition zu entgehen,

       schenkte der Mitwelt hier das Kind seiner heitereren

       Muse. Freilich sind drei Viertel der Sammlung

       eigene Erfindung. Henri Estienne, der Hugenott und

       Hellenist, mischte in seine gegen den Katholizismus

       gerichtete »Apologie pour Hérodote« (1566) viele

       Schwankstoffe, Noel du Fail erwähnt in seinen

       »Contes d'Eutrapel« (1565) und in seinen »Propos

       rustiques« eine große Anzahl von Märchen, während

       Margarethe von Navarra in ihrer Boccaccionachahmung

       (Heptameron 1559) die ernsten Stoffe bevorzugte.

       Sie brachte den Ernst, die Tragik und das Mitleid

       in die Novelle. Verville mit seinem »Moyen de

       parvenir« und die »Élite des contes« des Seigneur

       d'Ouville – um nur die bekanntesten Namen zu nennen

       – gehören schon dem folgenden Jahrhundert an.

       Mit Riesenschritten eilte die französische Kultur

       ihrem Kulminationspunkte zu. Der Hof Ludwigs

       XIV. wurde der Sammelplatz der Künste und Wissenschaften

       der Welt. In goldbestuckten Spiegelsälen

       beugten sich betreßte Höflinge, geistreiche Frauen

       plauderten in ihren Salons über Descartes, die Sprache,

       bald geheimnisvoll flüsternd, bald pathetisch rollend,

       verschmähte die Ausdrücke des Pöbels und floh

       das Alltägliche, während von den Gobelins die gestickten

       Helden der Antike auf die im Winde flatternden

       Allongeperücken herabschauten: die Welt Molières,

       Corneilles und Racines taucht auf. Die Komödie

       suchte ihre Stoffe in Spanien und Italien, die Tragödie

       folgte den Spuren des Euripides, alle Länder und Zeiten

       trugen zur Verherrlichung des größten Repräsentanten

       des Absolutismus bei. Da mußte auch das Märchen

       seinen Tribut zahlen: der große Molière hielt das

       apulejische Rokokogeschichtchen von Amor und Psy-

       che für gut genug zu einem Hofspektakel (1672) und

       L a f o n t a i n e , der ihm den Stoff dazu geliefert

       hatte, ließ sein zynisch-epikuräisches Weltbild in den

       Stoffen der Fabliaux und der Tiermärchen widerstrahlen.

       Lafontaine schöpfte seine »Nouvelles en vers«

       zumeist aus Boccaccio und Ariost, manche decken

       sich mit den Fabliaux, andere gehen bis auf die Antike

       zurück. Sein berühmtestes Werk, die »Fables«

       (1668–78), gehen den Weg Äsops. Viele davon

       haben Parallelen in noch heute erzählten Tiermärchen.

       Lafontaine hatte eine fast romantische Vorliebe für

       die Märchen, man kennt seine berühmte Stelle: »Si,

       Peau d'âne' m'étoit conté, j'y prendrois un plaisir

       extrème« (Fables VIII 4), dennoch schöpfte er kaum

       je aus dem Volksmund unmittelbar.

       Je höher die Zivilisation der Menschheit steigt,

       desto weniger naiv steht sie dem Märchen gegenüber,

       es wird vom Selbstzweck zum Mittel zum Zweck, es

       steigt aus der abendlichen Spinnstube in das Kinderzimmer.

       In diesem Jahrhundert, das eine gleichmäßige

       Ausbildung aller menschlichen Fähigkeiten erstrebte

       – wobei es freilich die wichtigsten, die des Herzens

       und der Phantasie, vergaß –, erfüllte das Märchen

       eine ähnliche Funktion wie in den Exempeln der Dominikaner:

       es sollte moralische Lehren illustrieren,

       oder eher umgekehrt: es bekam ein moralisches

       Schwänzchen angehängt. 1697 erschienen die

       »Contes de ma mère l'oye« von Charles P e r -

       r a u l t . Aber Perrault war kein Romantiker. Noch

       fünf Jahre zuvor hatte er gesagt: »Les fables milésiennes

       sont si puériles, que c'est leur faire assez d'honneur

       que de leur opposer nos contes de Peau d'âne

       et de la mère l'oye.« Perrault lebt in der Literaturgeschichte

       als der geist- und wortreiche Vorkämpfer des

       Fortschritts im Kampfe gegen Boileaus antikisierende

       Irrgänge, und die Märchen, die sein Sohn auf seine

       Veranlassung niederschrieb, erschienen im gleichen

       Jahre, in welchem sein Lebenswerk, die »Parallèles

       des anciens et modernes« abgeschlossen wurde. Das

       Märchen war nur eine Erholung für seine Mußestunden

       und er blickte, wie seine ganze Zeit, mit einer gewissen

       Verachtung auf diese Jugendverirrungen der