Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst Tegethoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742762917
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Die Kundryepisode gehört

       zu einem keltischen Märchenkreis, der von Maynadier

       bis auf Chaucer herab verfolgt wurde, und die Lehren

       des Gurnemanz sind denen des sterbenden Vaters in

       dem von uns wiedergegebenen bretonischen Märchen

       verwandt. Auch der Erek und der Cligés zeigen Züge

       von Märchen.

       Mehr noch als in den Artusepen tritt die Reinheit

       des Märchens in den L a i s zutage, jenen kurzen

       Verserzählungen, die Marie de France so meisterhaft

       in französische Zunge brachte. Unter den Stoffen dieser

       bretonischen Gedichte tritt besonders der von der

       gestörten Mahrtenehe hervor, von der ehelichen Gemeinschaft

       eines Menschen mit einem elbischen

       Wesen, die durch die Übertretung eines vom letzteren

       gestellten Verbotes zu einem vorzeitigen Abschluß

       gebracht wird. Hierher gehören die Novellen von

       Lanval, Yonec, Graelent, Guingamor, vom bel desconnu

       und von Sir Dégarré, während der lai du fraisne

       zum Typus von der untergeschobenen Braut

       stimmt und der Lai von Eliduc das bekannte Motiv

       vom Schlangenkraut enthält. Selbst die T r o u b a -

       d o u r s sind für den Märchenforscher nicht ohne Bedeutung:

       Wilhelm von Poitiers überliefert zuerst den

       Schwankstoff vom verstellten Narren.

       Neben germanischen und keltischen Märchen wurden

       für die Literatur des Mittelalters die durch die

       Kreuzzüge vermittelten orientalischen besonders

       wichtig. Hier spielte die byzantinische Kultur die

       Vermittlerrolle. Spätgriechischer Dichtung verdankt

       die im Mittelalter so verbreitete Erzählung von einem

       Liebespaar, das sich nach langer Trennung und endlosen

       Gefahren endlich doch wiederfindet, seine Entstehung,

       jene Geschichte, die uns in Aucassin und Nicolette,

       dann aber auch in Flore und Blancheflor, in Ma-

       gelone und, legendenhaft umgebogen, im Wilhelm

       von England Chrétiens entgegentritt. Zum byzantinischen

       Amicus- und Ameliusstoff stimmt der Schluß

       des Märchens vom getreuen Johannes, dessen Eingang

       zu den Brautwerbungssagen aus dem jüdischbyzantinischen

       Salomokreise gehört: hier dürfte Entstehung

       des Märchens aus der Literatur vorliegen. Der

       Parthonopier des Denis Pyramus, dessen Ausdehnung

       in der Weltliteratur der der »matière de Bretagne«

       kaum nachsteht, ist der milesischen Fabel von Amor

       und Psyche nahe verwandt. Das Märchen vom Meisterdieb,

       das sich bis zu Herodot hinauf verfolgen

       läßt, hatte im Mittelalter eine große Verbreitung und

       entsprach zumal dem französischen Geschmack, der

       aus den germanischen diebischen Zwergen die mannigfach

       nuancierte Klasse der »Larrons« schuf, jener

       kleinen und behenden Spitzbuben, deren Prototyp der

       Maugis d'Aigremont ist. Dieses Märchen zieht sich in

       vielfachen Abarten durch die gesamte Literatur des

       Mittelalters: die bekannteste Version ist die im Mittelniederländischen

       bewahrte, aber auf französische

       Quelle zurückgehende von Karl und Elegast, der Pferdediebstahl

       des Meisterdiebes begegnet im Elie de St.

       Gilles und fast gleichzeitig beim Engländer Walter

       Map, der verwandte Scherz vom nüsseknackenden

       Dieb auf dem Kirchhof bildet die Grundlage des Fabliaus

       Estula, während das Fabliau von Barat und

       Haimet die Streiche der Gauner in lustigster Verwirrung

       beschreibt. Nahe zum Meisterdiebstoff gehört

       endlich das Fabliau von Trubert, dessen Stoff in modernen

       französischen Sammlungen noch mehrfach begegnet.

       Das orientalische Märchen vom goldenen

       Vogel liegt der verlorenen Quelle des mittelniederländischen

       Walewijnromans zugrunde.

       Aber von weiter her noch als von den Ufern des

       Bosporus und von den Schlössern der Kalifen strömte

       der Märchenstrom herein: das ferne Indien öffnete die

       Tore seiner unergründlichen Schatzkammern und

       überschwemmte das Abendland und namentlich

       Frankreich mit seinen Stoffen, die bald in märchenhafter

       Pracht schwelgen und in wilder Häufung des

       Phantastischen die Wunder einander übertreffen und

       übertrumpfen lassen, bald mit bitterer Ironie die

       menschlichen Schwächen und mit Vorliebe die Unbeständigkeit

       der Weiber geißeln. Freilich läßt sich nur

       eine ganz geringe Anzahl der sogenannten F a -

       b l i a u x , jener kurzen Reimschwänke, die das Dreieck:

       Gatte – Frau – Liebhaber von allen erdenklichen

       Seiten beleuchten (wodurch dann allerdings oft Dinge

       ans Licht kommen, die besser verborgen geblieben

       wären) – nur eine kleine Anzahl dieser Stoffe läßt sich

       in denjenigen orientalischen Sammlungen, die dem

       Mittelalter bekannt waren – der disciplina clericalis,

       dem Dolopathos, dem directorium humanae vitae

       und dem Barlaam und Josaphat – nachweisen; viele

       dieser Kleinigkeiten sind gewiß auch in Europa und

       speziell in Frankreich selbst entstanden. Diese Reimschwänke,

       deren Verfasser, die übrigens nur in den

       seltensten Fällen mit ihren Namen hervortreten, aus

       dem Stand der fahrenden Kleriker und der Berufsspielleute

       stammen, sind nicht nur wegen der Verbreitung

       ihrer Stoffe wichtig, sondern sie sind auch eine

       Fundgrube für den Kulturhistoriker. Sie lehren uns,

       worüber das Frankreich des 13. Jahrhunderts gelacht

       hat. »Bald leichtsinnig und derb, bald feinsinnig und

       bald zynisch, über allzu unbedeutenden Anlaß lachend,

       immer spöttisch, selten satirisch, so ist das Fablel

       ein wichtiger Zeuge für die niederen Triebe der

       galloromanischen Rasse.« So definiert Bédier, der bedeutendste

       Erforscher dieser Gattung, die Fabliaux.

       Die Schwänke des Mittelalters lebten nicht nur in